Atombombenabwürfe vor 75 Jahren - Die vergessene Bedrohung

Der traurige Jahrestag der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki darf nicht nur Anlass für billige Sonntagsreden und Schwärmereien von einer friedlichen Welt sein. Die Welt braucht mehr: eine umfangreiche atomare Abrüstung.

Eine ausradierte Stadt: Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Vor 75 Jahren begann das Zeitalter der Atomwaffen. Um 08:15 Uhr des 6. August 1945 klinkte die „Enola Gay“ genannte B-29 der US-Luftwaffe ihre tödliche Fracht über der japanischen Großstadt Hiroshima aus. 45 Sekunden später explodierte die zynisch „Little Boy“ getaufte Atombombe in 600 Metern Höhe. Die Angaben über die unmittelbaren und mittelbaren Todesopfer schwanken zwischen 90.000 und 150.000. Hinzu kamen tödliche Erkrankungen, Fehlgeburten und Fehlbildungen noch Jahrzehnte nach dem Abwurf.

Drei Tage später, am 9. August, folgte die Zerstörung Nagasakis. Eigentlich sollte die Industriestadt Kokura das Ziel sein, doch aufgrund der dichten Bewölkung entschied sich Pilot Charles W. Sweeney für das Ausweichziel Nagasaki. Auch dort herrschte kein optimales Wetter. Sweeney beschloss dennoch den Abwurf, da sonst sein Flugbenzin für den Rückflug nicht mehr gereicht hätte. Um 11.02 Uhr löste sein Waffenoffizier die Bombe aus. 22.000 Menschen waren sofort tot, Zehntausende starben an den Spätfolgen.

Die politische Macht der Bombe 

Der Abwurf der beiden Atombomben markiert eine Zäsur. Von nun an war es möglich, Zehntausende Menschen innerhalb von Sekunden zu vernichten. Wer nur über genug dieser Waffen verfügte und über die Lufthoheit, war in der Lage, jeden beliebigen Gegner nicht nur militärisch zu besiegen, sondern nahezu auszulöschen.

Eine solch ungeheuerliche Waffe bringt politische Macht. Wer in ihrem alleinigen Besitzt ist, kann seine Nachbarn, kann die Welt zu quasi allem zwingen. Das erkannte auch Stalin, und vielleicht war es tatsächlich ein Versäumnis der Amerikaner, das kleine Zeitfenster als alleinige Atommacht nicht radikal und konsequent genutzt zu haben, um eine friedlichere Nachkriegsordnung zu erzwingen.

Nur knapp der Katastrophe entkommen 

Es dauerte keine drei Jahre, und auch die Sowjetunion verfügte über Atomwaffen. Was nun folgte, war der absurdeste und zugleich stabilisierendste Rüstungswettlauf der Geschichte. Beide Mächte häuften ein Atomwaffenpotential samt Trägersysteme an, das jeder Rationalität spottete, aber gerade deswegen dafür sorgte, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde.

Nur zweimal wäre die Sache beinah doch schiefgegangen: Während der Kubakrise 1962 und im September 1983, als ein Fehlalarm der sowjetischen Luftabwehr fast einen Atomschlag ausgelöst hätte. Dass wir alle noch leben, verdanken wir der Besonnenheit des russischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, wurde zwar abgerüstet. Dennoch blieben erhebliche Atomwaffenbestände in den Depots der USA und Russlands. Hinzu kommen die Waffenarsenale Chinas, Frankreichs, Englands, Indiens, Pakistans, Israels und vermutlich Nordkoreas.

Stabilisieren Atomwaffen den Frieden? 

Zwar können auch in einer multipolaren Welt Atomwaffen eine abschreckende und damit friedensstabilisierende Wirkung entfalten. Doch das muss nicht so sein. Zum einen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass apokalyptische Fanatiker die Waffe ohne Skrupel einsetzen. Zum anderen, weil diese Waffen rücksichtlose Machtpolitiker dazu verleiten können, darauf zu vertrauen, dass der jeweilige Gegner sie schon nicht einsetzen wird.

Wäre etwa Westeuropa bereit, eine überzeugende Drohkulisse aufzubauen, wenn irgendwann einmal ein russischer Präsident auf die Idee käme, das Baltikum in seinen Herrschaftsbereich zurückzuholen? Zweifel sind erlaubt. In Paris und Berlin wird niemand für Riga sterben wollen. Dass das Wettrüsten des Kalten Krieges nicht in einer Katastrophe endete, liegt nicht an einer geheimen List der Vernunft, sondern war, wenn wir ehrlich sind, reines Glück. Wer etwas anderes behauptet, hat ein geradezu abergläubisches Verhältnis zur politischen Vernunft.

Das Wettrüsten zwischen Moskau und Washington 

Dieses Glück sollte die Menschheit kein zweites Mal herausfordern. Wenn es wirklich eine kurzfristige reale Bedrohung menschlicher Existenz auf diesem Planeten gibt, dann sind das keine Viren oder Klimaveränderungen, sondern Atomwaffen. Leider nur wird diese Tatsache mit geradezu pathologischer Intensität verdrängt. Man kann es sogar verstehen.

Es ist ein Versäumnis der internationalen Politik, dieses überlebenswichtige Thema beiseite zu schieben. Vielmehr setzt man in Moskau und Washington auf eine neue Rüstungsspirale. Eine verhängnisvolle und zudem überflüssige Entwicklung. Stattdessen sollte die Weltgemeinschaft, sollte Europa, sollte Deutschland darauf dringen, die Anzahl atomarer Sprengköpfe erheblich reduzieren. Zu groß ist die Gefahr, die in einer instabilen Welt von diesen Waffen ausgeht. Der traurige Jahrestag der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki darf nicht einfach nur ein Anlass für billige Sonntagsreden und Schwärmereien von einer friedlichen Welt sein. Wir brauchen mehr. Die Welt braucht eine deutliche, umfangreiche atomare Abrüstung.

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