Polizeigewalt in den USA - Alles nur Rassisten?

Mit Rayshard Brooks kam nun erneut ein Afroamerikaner durch einen Polizisten zu Tode. Schon im Fall George Floyd stand für viele deutsche Medien fest: Die US-Polizei handelt rassistisch und brutal. Die Fälle von Minneapolis und Atlanta beweisen aber keine strukturelle Missstände. Denn gerade die USA sind auch Vorbild für bürgerfreundliche Polizeiarbeit.

Im Gespräch mit Demonstranten: Polizisten in Atlanta, Georgia / picture alliance / REUTERS | Elijah Nouvelage
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Autoreninfo

Thomas Jahn ist Rechtsanwalt und war 18 Jahre lang ehrenamtlicher Kommunalpolitiker der CSU.

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Der Rechtswalt Thomas Jahn wurde 2003 an der Universität Augsburg über die US-amerikanische Community-Policing-Strategie promoviert. Er konnte im Rahmen seiner Dissertation eine Vielzahl von Polizeibehörden an der Ostküste der USA besuchen und dabei an Polizeieinsätzen, Einsatzbesprechungen und verschiedenen Ausbildungsgängen persönlich teilnehmen.

In der vergangenen Nacht kam mit dem US-Bürger Rayshard Brooks in Atlanta erneut ein Afroamerikaner gewaltsam durch einen US-Polizisten zu Tode (zu den Hintergründen). Neben friedlichen Protesten gab es auch Brandschatzung, Blockaden und Gewalt. Die Polizeichefin von Atlanta ist bereits zurückgetreten. Auch wenn die Hintergründe noch nicht abschließend ermittelt wurden, dürfte dieser erneute Fall nach dem Tod von George Floyd in Minneapolis die Anti-Rassismus-Proteste in den USA und weltweit weiter anheizen.

In Deutschland hatten Politiker und Medien bereits längst die Hintergründe für den Tod des Afroamerikaners George Floyd ausgemacht: struktureller Rassismus und Polizeigewalt. Diese Diagnose über die Verhältnisse in den USA suggeriert, dass es ähnlich der US-Armee eine einheitlich geführte Polizeiorganisation gibt, die aber tatsächlich nicht existiert. Fakt ist, dass in den USA nicht nur jeder einzelne Bundesstaat über sein eigenes Justiz- und Strafverfolgungssystem verfügt, sondern auch die Polizei extrem dezentral organisiert ist.

Dies beginnt auf der Bundesebene, wo sich neben der bekanntesten Bundespolizei, dem FBI, etwa 70 weitere Polizeibehörden versammeln. Dazu kommen die Staatspolizeien von 49 Bundesstaaten (nur Hawaii hat keine eigene Staatspolizei), mehr als 3.000 Sheriff Departments sowie über 13.000 unabhängige Polizeibehörden auf kommunaler Ebene. Die etwa 700.000 Polizeibeamte („Sworn Officers“) verteilen sich daher USA-weit auf insgesamt über 16.000 Behörden. Jede dieser Polizeibehörden wird eigenständig geführt und entscheidet in eigener rechtlicher Kompetenz wie Polizeibeamte rekrutiert, ausgebildet und diszipliniert werden.

Kein Zugriff der US-Regierung

Dementsprechend existieren zwischen den vielen Polizeibehörden große Unterschiede, auch innerhalb eines Bundesstaats, was schon allein dieser Größenvergleich zeigt: Beim NYPD, der Stadtpolizei von New York City, sind mehr als 40.000 Polizeibeamte beschäftigt, bei der Gemeinde Sodus Village, die ebenfalls im Bundesstaats New York liegt, nur ein einziger. Beide Behörden üben aber im Gebiet der jeweiligen Kommune dieselben polizeilichen Befugnisse aus.

Die US-Regierung hat daher auf die Polizeibehörden der Kommunen, der Countys oder der einzelnen Bundesstaaten keinerlei Zugriff. Die Staatspolizeien unterstehen den jeweiligen Gouverneuren, also den Staats- und Regierungschefs der jeweiligen Bundesstaaten, die kommunalen Polizeien den jeweiligen Bürgermeistern. George Floyd wurde in der Stadt Minneapolis im Bundesstaat Minnesota getötet. Das Police-Department von Minneapolis stand schon wegen ähnlicher Vorfälle in der Vergangenheit in der Kritik. So wurde beispielsweise 2017 die weiße Einwohnerin Justine Damond von dem somalisch-stämmigen Polizisten Mohamed Noor bei einem Polizeieinsatz grundlos getötet, was inzwischen auch durch ein entsprechendes Gerichtsurteil bestätigt wurde. Politisch verantwortlich für die Zustände bei der Polizei von Minneapolis ist allein der dortige Bürgermeister Jacob Frey, Mitglied eines regionalen Ablegers der Demokratischen Partei.

Beachtliche Kriminalitätswende

Ist struktureller Rassismus aber nicht vielleicht ein gefährlicher Trend, dem sich auch ein stark dezentralisiertes Polizeisystem nicht entziehen kann? Wenn ja, wie konnten die USA dann aber vor fast 20 Jahren eine beachtliche Kriminalitätswende schaffen, die den Vereinigten Staaten die niedrigsten Kriminalitätsraten seit den 1960er Jahren bescherte, obwohl die Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King durch weiße Polizeibeamte schon 1992 ähnliche Unruhen ausgelöst hatte wie wir sie aktuell erleben?

Tatsächlich hatten damals Politiker beider Parteien, Republikaner und Demokraten, auf lokaler, bundesstaatlicher und zentraler Ebene Initiativen für eine polizeistrategische Trendwende gestartet. In diesem Kontext muss auch das „Violent Crime Control and Law Enforcement Act“ gesehen werden, das am 13.09.1994 in Kraft trat und auf dessen Grundlage der US-Kongress 8,8 Milliarden US-Dollar für die Schaffung von etwa 100.000 neuen Polizeistellen auf der lokalen Ebene zur Verfügung gestellt hatte. Diese Fördergelder waren geknüpft an die Implementierung einer neuen bürger- und gemeinwesenorientierten Polizeiarbeit. Unter der Bezeichnung „Community Policing“ verbreiteten sich daher neue Ansätze zur Verbesserung der Polizeiausbildung und der polizeilichen Strategie, die gerade in den stark kriminalitätsbelasteten Großstädten, die allesamt damals wie heute auch von größeren afroamerikanischen Minderheiten bewohnt werden, zu raschen Erfolgen führte.

Community Policing

Community Policing ist im wesentlichen durch drei Besonderheiten geprägt: Erstens: Die Polizeistrategie muss den örtlichen Besonderheiten angepasst werden. Zweitens: Die Polizei beschränkt sich nicht nur auf die Strafverfolgung, sondern befasst sich auch mit Lästigkeitsdelikten, die die Lebensqualität der Bürger beeinträchtigen. Und drittens: Die Polizei versteht sich als Partner der Bürger und arbeitet mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren eng zusammen.

Vor allem die dritte Komponente ist für eine effektive Verbrechensbekämpfung, aber auch für die eigene Sicherheit der Polizei im Einsatz unverzichtbar. Polizeibehörden, die Minderheiten brutal behandeln und diskriminieren würden, könnten natürlich keine gemeinsame Vertrauensbasis mit bestimmten Nachbarschaften aufbauen, die aber gerade eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass sich Bewohner von stark kriminalitätsbelasteten Problemvierteln an die Polizei wenden und sich beispielsweise als Zeugen oder sogar als Fürsprecher der Polizei zur Verfügung stellen.

Mehr Rechte für Opfer von Polizeigewalt

Das Community Policing als erfolgreiche und über viele Jahre USA-weit bevorzugte Polizeistrategie, ist natürlich kein Garant dafür, dass in jeder Polizeibehörde Übergriffe gegen Minderheiten, Diskriminierungen und Vorfälle wie in Minneapolis ausgeschlossen werden können. Die USA können in den vergangenen 25 Jahren allerdings auf umfangreiche politische und zivilgesellschaftliche Bemühungen verweisen, Polizeibehörden bürgerfreundlich und partnerschaftlich auszurichten, um gerade dadurch Diskriminierungen und Polizeibrutalität so weit wie möglich auszuschließen. Nicht zuletzt trägt dazu auch ein rechtliches Instrumentarium bei, das Opfern und Hinterbliebenen von Polizeigewalt oder von diskriminierender Behandlung ungleich höhere Entschädigungsansprüche zubilligt, als sie in Deutschland je denkbar wären.

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