Luxemburgs Außenminister und die Migration - Der Gratismut des Jean Asselborn

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ist ein gern gesehener Gast in deutschen Talkshows und Radiosendungen. Zuletzt fiel er bei einer Debatte um Moria und Migration dadurch auf, dass er Österreich im Beisein eines ÖVP-Politikers als Land der Jodler verhöhnte. Über die Doppelmoral eines Medienlieblings, der gerne Gäste für andere einlädt.

Gelebte Doppelmoral: Jean Asselborn / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Luxemburg stellt man sich als ein schönes Land vor. Es leben dort 600.000 Menschen, sie sprechen drei Sprachen, und das Bruttoinlandsprodukt gehört pro Kopf nach Liechtenstein und Monaco zum höchsten der Welt. Das Medianvermögen eines Luxemburgers beträgt 116.000 Euro und liegt damit auf Platz sieben in der Welt. Im Vergleich dazu nimmt sich das Medianvermögen von 35.000 Euro eines durchschnittlichen Deutschen bescheiden aus. Auch demokratisch hat Luxemburg einige Vorteile. Es stellt sechs Abgeordnete im EU-Parlament. Im Vergleich dazu nehmen sich die 96 deutschen Abgeordneten wiederum sparsam aus.

Zehnmal so viele Stimmen

Würde Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern einen ähnlichen Abgeordnetenschlüssel wie Luxemburg haben, müssten wir 820 Abgeordnete ins EU-Parlament wählen. Hätte Luxemburg hingegen den gleichen Schlüssel wie Deutschland, käme es knapp auf einen Abgeordneten. Die Stimme eines Luxemburgers zählt also fast zehnmal so viel wie die eines Deutschen. Es handelt sich also in vielerlei Hinsicht um ein besonderes und ganz besonders privilegiertes Land. 

Wie es einem solchen historischen Glücksfall angemessen ist, ist auch sein Außenminister ein gelungener Werbeträger des Erfolgslandes. Jean Asselborn ist inzwischen der dienstälteste Außenminister eines EU-Mitgliedstaates. Und er vollbringt in nahezu perfekter Weise, was eigentlich eine unlösbare Aufgabe ist. Er hat ein sehr kleines Land, das über einen überproportionalen Reichtum verfügt, zur moralischen Großmacht aufgebläht, die allen anderen EU-Staaten gehörig ins Gewissen redet. Für dieses Kunststück führt Asselborn bei jedem seiner häufigen Auftritte einen doppelten Zaubertrick auf. In dem rhetorischen Nebel, den er virtuos verbreitet, lässt er zwei bedeutsame Sachverhalte aus der luxemburgischen Politik verschwinden, und schon steht er als Saubermann und Vorzeige-Europäer in strahlendem Lichte dar. 

Ein profitables Steuerparadies

Der erste Sachverhalt betrifft die Frage, warum Luxemburg eigentlich so reich ist. Manche werden sich noch an die Luxemburg-Leaks erinnern. Darin kamen sehr viele unappetitliche Dinge ans Licht. Mit einem Wort: Luxemburg ist ein profitables Steuerparadies inmitten Europas. Es ist dabei so erfolgreich, dass das winzige Land nach den USA das zweitgrößte Investmentzentrum der Welt geworden ist. Bisher versandeten alle Bemühungen, daran etwas zu ändern. 

Übersetzt man das verlockend klingende Wort Steuerparadies einmal in seine realen Folgen, so wird klar, dass ein Paradies, in dem kaum Steuern bezahlt werden müssen, von der Wirtschaftsleistung der anderen Länder profitiert. Böse Zungen könnten hier von einem parasitären Verhalten sprechen. Denn die Steuern, die eigentlich gezahlt werden müssten, um die öffentlichen Haushalte der Länder, in denen der Wert produziert wurde, mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, wird umgeleitet in ein Land, das zur Wirtschaftsleistung nichts beigetragen hat. 

Gelebte Doppelmoral

Auf dem Weg zum ersten europäischen Moralapostel muss Jean Asselborn also die Quelle des luxemburgischen Wohlstands vergessen machen, um dann die eigentliche Meisterleistung politischer Trickserei zu vollziehen. Denn bekannt sind Luxemburg und sein Außenminister inzwischen für die andauernde Predigt, dass Europa die Flüchtlinge an seinen Grenzen aufnehmen und dann zügig auf alle Mitgliedsstaaten umverteilen solle.

Man kann eine solche Meinung berechtigt oder unberechtigt vertreten, denn es ist einfach zu überprüfen, ob es sich dabei um einen folgenlosen Gratismut handelt, oder ob ein Land die Forderung in die tatsächliche Aufnahme von Flüchtlingen umsetzt. Wenn letzteres der Fall ist, so will ich jedem, der sich bemüht, auch zugestehen, dass er mehr Anstrengungen von anderen verlangt. Doch auch hier beschreitet Luxemburg einen Sonderweg. Es stellt maximale Forderungen und ist selbst äußerst zurückhaltend bei der Aufnahme von Flüchtlingen.

Blamabler Auftritt bei Maischberger 

Als Asselborn jüngst in einer Sendung bei Sandra Maischberger saß und gefragt wurde, wieviele Flüchtlinge Luxemburg denn aus dem abgebrannten Lager in Moria aufnehmen wolle, geriet der eloquente Außenminister das einzige Mal ins Stocken. Er murmelte etwas von 10 bis 15 Personen oder ein oder zwei Familien, um danach wortreich darauf zu verweisen, dass sein Land eben auch sehr klein sei. Das ist wahr. Doch lohnt sich auch hier ein Vergleich zum Beispiel mit einer deutschen Stadt mit ähnlicher Einwohnerzahl.

Düsseldorf hat dauerhaft 4.400 Flüchtlinge aufgenommen und nimmt seit 2019 durchschnittlich 150 neue Flüchtlinge pro Monat auf. Frankfurt am Main hat seit 2014 8.000 Menschen aufgenommen und nimmt seitdem durchschnittlich 15 Flüchtlinge pro Woche auf. Das sind deutlich andere Dimensionen als „eine Familie“. Leider hatte Sandra Maischberger diese Zahlen nicht parat. So blieb der Hinweis auf das „kleine Land“ als gültige Ausrede stehen, und Jean Asselborn konnte ungebremst in seiner Moralpredig fortfahren. 

Moment der Ehrlichkeit

In diesem Fall führte sein Furor jedoch zu einem überraschenden Moment der Ehrlichkeit. Als Maischberger ihn fragte, warum er so vehement für eine zwangsweise Umverteilung der Flüchtlinge auf alle EU Staaten sei und es nicht akzeptieren könne, dass einige Staaten Menschen aufnehmen und andere mit Geld oder Sachleistungen (so wie es die EU-Kommission gerade vorschlägt) helfen, gab er eine entlarvende Antwort. Er meinte, dass die Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in allen Staaten sinken würde, wenn die Bevölkerung sieht, wie sich andere von dieser Pflicht freikaufen können.

Man muss sich die Brisanz dieser Aussage einmal deutlich machen. Der Außenminister eines Landes, das mit äußerst unsolidarischen Mitteln Geld von seinen Nachbarn zu sich umleitet, fordert eine zwangsweise Solidarität aller Länder, von der sich niemand freikaufen können soll. Zugleich weiß er, dass eine weitere Flüchtlings-Aufnahme nur gegen die demokratischen Mehrheiten durchzusetzen ist, weswegen der moralische Druck nicht durch Wahlmöglichkeiten aufgeweicht werden darf. 

Man könnte meinen, dass hiermit die Spitze der Doppelmoral erreicht ist. Doch im Asselbornschen Weltbild sind noch Steigerungen möglich. So schimpft er regelmäßig auf Länder wie Ungarn oder Polen, die EU-Subventionen „abgreifen“, ohne sich an den Luxemburgischen Solidaritätszwang halten zu wollen. Die bittere Pointe einer solchen Politik hätte sich kein von der EU frustrierter Osteuropäer ausdenken können: Das unsolidarische Steuerparadies wirft den postsozialistisch geschwächten Volkswirtschaften vor, EU-Subventionen einzustreichen, ohne sich bei der Flüchtlingsverteilung der Luxemburgischen Maxime zu unterwerfen, die Luxemburg selbst aber auch nicht befolgt. 

Jodelnde Trottel

Dieser Zusammenhang ist so verrückt, dass ich gar nicht glauben mag, dass es sich um einen zufälligen Widerspruch handelt. Meine Vermutung ist, dass Jean Asselborn mit seiner moralisch aufgeladenen und gebetsmühlenartigen Forderung nach kollektiver Flüchtlingsaufnahme durch andere vergessen machen möchte, aus welch angreifbarer Position heraus Luxemburg solche Forderungen stellt. Wie man beim Gespräch mit Sandra Maischberger beobachten konnte, funktioniert die Strategie hervorragend. Der zugeschaltete EU-Abgeordnete aus Österreich musste seine Landsleute als jodelnde Trottel beschimpfen lassen, und die Moderatorin wies auf keinen der fundamentalen Widersprüche in der Asselbornschen Argumentation hin. 

Die EU hat mit Luxemburg das, was man in Berlin mit dem Prenzlauer Berg hat. Ein homogenes Milieu, das aus wohlhabenden Menschen besteht, die sich ihrer eigenen moralischen Vortrefflichkeit absolut sicher sind. Doch es gibt kaum etwas Unsympathischeres als die Mischung aus Reichtum und moralischer Maßregelung. Und ein Hauptgrund für die immer tiefer werdenden Gräben in der Gesellschaft und der EU liegt in dem ungebremsten Furor, mit dem dieser Politikstil sich ausbreitet. 


Würde Jean Asselborn einmal die Wahrheit sagen, so wie es ihm bei der obigen Aussage im Ansatz passiert ist, müsste er zugeben: Mein Land profitiert immens von der unsolidarischen Möglichkeit der Steuerflucht, und wir werden durch unser Veto jede Veränderung blockieren. Damit wir aber nicht als die Bösewichter Europas dastehen, haben wir uns eine andere moralische Maximalposition ausgesucht, die uns selbst aber nichts kostet. Alle sollen solidarisch Flüchtlinge aufnehmen. Und da wir wissen, dass das niemals passieren wird, weil die Bevölkerungen das nicht wollen, haben wir einen nie versiegenden Quell der eigenen Vortrefflichkeit gefunden, mit dem wir alle mundtot machen können, die uns unser paradiesisches Leben neiden. 

Fest der Demokratie

Gäbe es Journalisten, die Gespräche mit Politikern auf der Höhe der Widersprüche führen könnten, so wäre es ein Fest für die Demokratie, diesen Missbrauch der Moral öffentlich vorzuführen. Doch die Zeiten sind so, dass diejenigen, die sich wirkungsvoll als „Gut“ inszenieren, allzu freundlich befragt werden. Der Wunsch, jemand möge so gut sein, wie man es als Journalist gerne hätte, macht leider blind für die bösen Absichten. Der wachsende Unmut in der Bevölkerung ist hingegen ein Gradmesser dafür, wie sehr das Spiel durchschaut wird, und wie ärgerlich es ist, wenn man als Zuschauer Politikern und Journalisten dabei zu sehen muss, wie sie immer weiter eine Fassade aufrecht erhalten, die gefährlich viele Risse aufweist. Luxemburg mag ein schönes Land sein, aber es wohnen dort nur 600.000 Menschen. Die EU hat aber 446 Millionen Einwohner, und die Allermeisten leben sehr weit entfernt vom seligen Dasein in einem Steuerparadies. 

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