Der Fall Nawalny - Russlands mörderische Adhokratie

War der Kreml in den Mordversuch an Nawalny verwickelt? Der Fall wirft die grundlegende Frage auf, wie man mit einem Staat umgehen soll, der es verschiedenen Akteuren erlaubt, ungestraft zu töten, schreibt der britische Russland-Experte Mark Galeotti.

Eine Spezialtrage wird am Samstag aus dem Flugzeug gehoben, mit dem Alexej Nawalny nach Berlin transportiert wurde / picture alliance
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Autoreninfo

Mark Galeotti ist Historiker und einer der besten Kenner russischer Sicherheitspolitik. Der 55 Jahre alte Brite unterrichtet an der School of Slavonic and East European Studies am University College in London und ist Senior Research Fellow am Royal United Services Institute. Galeotti hat zahlreiche Bücher über Russland verfasst. / Foto: Signe

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Während ich diesen Artikel schreibe, kämpft Alexej Nawalny immer noch um sein Leben, nachdem er offenbar vergiftet wurde, als er die Stadt Tomsk verließ. Für viele mag der Fall klar erscheinen: Der Kreml hat einen Mord in Auftrag gegeben. Aber die unbequeme Wahrheit ist: Unter Wladimir Putin ist politischer Mord kein Staatsmonopol mehr.

Hat Nawalny die "unsichtbare Linie" überschritten?

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kreml die Schuld daran trägt. Da ist das Unbehagen, dass die russischen Behörden beim Betrachten der Ereignisse in Belarus beschleichen muss, wo sich die Menschen derzeit gegen Lukaschenko auflehnen. Da sind die Sorgen angesichts der Proteste in der Stadt Chabarowsk und einer allgemeinen Welle mürrischer Verärgerung über eine Regierung, die den Kontakt zur Provinz verloren zu haben scheint. Vor diesem Hintergrund könnte es sein, dass Nawalnys jüngste "Smart Vote"-Kampagne und seine Arbeit in den russischen Regionen ihn über jene tödlich unsichtbare, unberechenbar bewegliche Linie geführt hat, welche die gerade noch akzeptablen Formen der Opposition definiert.

Doch Nawalnys frühere Behauptung, er bleibe am Leben, weil er für das Regime tot ein größeres Problem darstelle, ist wahrscheinlich immer noch gültig. Zudem scheint der Staat überrumpelt worden zu sein.

Inkompetenz und Inkohärenz

Zuerst gaben die Ärzte eine Art Vergiftung zu, dann war es nur eine Schwankung des Blutzuckerspiegels. Zuerst sagte die Polizei, es sei nichts gewesen, dann räumte sie das Vorhandensein unerwarteter chemischer Spuren ein. Zuerst konnte Nawalny nicht fliegen, weil es für andere unsicher wäre, dann, weil es für ihn nicht sicher war. Zuerst hieß es in den Nachrichten, Nawalny sei nicht vergiftet worden, dann behauptete der Chefpropagandist Dmitri Kisseljow, er sei von den Amerikanern oder den Briten vergiftet worden.

Sicher: Inkompetenz und Inkohärenz sind nicht gerade unbekannt, wenn es um den Kreml und seine Sicherheitskräfte geht. Omsk hat eine (wirklich schöne) Mariä-Entschlafens-Kathedrale mit einer schönen Turmspitze, die aber bei weitem nicht so hoch ist wie die der Kathedrale von Salisbury; trotzdem werden wir vielleicht eines Tages ein paar Sicherheitsbeamte von ihrem Tagesausflug dorthin erzählen hören ...

Die jetzige Verwirrung erinnert an die unmittelbaren Folgen der Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow durch tschetschenische Killer im Jahr 2015. Es gab zuerst viele Versionen, und dann eine Untersuchung, die aber schnell zu einer Vertuschung wurde, als die Fingerabdrücke von Ramsan Kadyrow sichtbar wurden, Statthalter des Kremls in der Kaukasusrepublik Tschetschenien.

Parallelen zum Fall Nemzow

Putin verschwand damals für zwei Wochen aus dem Blickfeld, unfähig oder nicht willens, eine Wahl zu treffen zwischen einer Unterstützung der Forderungen aus seinem Sicherheitsapparat, endlich etwas gegen den ruch- und rücksichtslosen Tschetschenen zu unternehmen, und der Angst, einen neuen Tschetschenienkrieg auszulösen. Am Ende kam Kadyrow mit kaum mehr als einem Klaps auf die Hand davon.

Dasselbe geschah, als Rosneft-Chef Igor Setschin 2017 die metaphorische "Ermordung" des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung Alexej Uljukajew organisierte, indem er ihm Korruptionsvorwürfe anhängte und dann zusah, wie er zu acht Jahren strengen Regimes in einer Arbeitskolonie verurteilt wurde. Putin fühlte sich in diesem Fall sichtlich unwohl, vor allem als Setschin sich wiederholt einem Kreuzverhör durch die Verteidigung verweigerte. Schließlich ließ er die Sache aber durchgehen.

Tödliche Nebenwirkungen

Dies ist eine der tödlichen Nebenwirkungen der "Adhokratie". Putins System ist ein im Kern de-institutionalisiertes System, in dem die Gunst des Präsidenten das wichtigste Gut ist, das sich jeder verdienen will, in dem formale Rollen und Verantwortlichkeiten weniger zählen als die Art und Weise, wie man heute von Nutzen sein kann. Der Chef kümmert sich kaum um Details, sondern legt allgemeine Ziele fest und deutet an, welche Dinge er sich wünscht.

Das erzeugt Flexibilität und Initiative, aber auf Kosten von doppelter Arbeit und Kontrolle. Ehrgeizige und zynische Figuren richten sich danach aus, was Putin ihrer Meinung nach will, oder sie finden Wege, ihre eigenen Interessen als mit denen des Staates übereinstimmend zu rechtfertigen.

Wer trägt die Verantwortung im System Putin?

Im Fall von Nawalny gibt es keinen Mangel an potenziellen Feinden. War es jemand, über dessen korrupte Praktiken Nawalny für eines seiner mit forensischer Genauigkeit präsentierten, vernichtenden Videos forschte, und der davon ausging, dass der Kreml letztendlich “direkte Aktionen” verzeihen würde? Eine politische Figur, die Nawalnys Wahltaktik fürchtete oder die annahm, dass der Kreml ihn gerne aus dem Spiel herausgenommen sehen würde? Oder war es eines der großen Tiere des Systems, das sich nicht allzu sehr darum kümmern muss, was ein Präsident denkt, der heute eher weniger Autorität als früher genießt, oder das glaubt, sich auf die Nachsicht des Bosses verlassen zu können?

Wir wissen es nicht, obwohl heutzutage fast alles irgendwann herauskommt. Der Fall weist jedoch auf einen der gefährlichen und alarmierenden Aspekte des Putin-Systems hin, zumal der Präsident selbst wenig gewillt oder fähig zu sein scheint, die Rolle des Großen Entscheiders zu spielen und seine mörderischen Adhokraten zu zügeln.

Ein Staat, der tötet, ist eine schreckliche Sache, aber seine roten Linien sind im Allgemeinen erkennbar, und letztlich kann er zur Rechenschaft gezogen werden. Aber ein Staat, der einer ganzen Reihe von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen erlaubt, ungestraft zu töten, ist eine noch unangenehmere Sache: Denn die roten Linien sind unsichtbar, sie überschneiden sich und sind beweglich. Die Frage, wer dafür rechenschaftspflichtig ist, wird dadurch noch schwerer zu beantworten.

Der Text erschien zuerst auf Englisch bei der Zeitung Moscow Times.

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