Afghanistanpolitik aus britischer Perspektive - „Viele Partner haben es versäumt, sich richtig zu engagieren“

Das Fiasko um den Abzug aus Afghanistan belastet die Beziehungen zwischen den Briten und den Amerikanern. Im Cicero-Interview fordert der britische Konservative Tom Tugendhat eine Neuorientierung auf europäische Partner – allen voran auf Deutschland.

Abzug der letzten britischen Streitkräfte aus Afghanistan am 28. August 2021 / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Tom Tugendhat verbirgt seine Frustration nicht. Der britische Konservative hat als Soldat in Afghanistan und im Irak gedient. Heute ist der Abgeordnete Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im britischen Unterhaus. Für ihn ist nicht der Einsatz in Afghanistan ein Fehler gewesen, sondern der amerikanische Rückzug: „Nur weil Präsident Biden sich gelangweilt hat und seine Truppen abgezogen hat, heißt das nicht, dass der Einsatz in Afghanistan kein Erfolg war“, sagt der 48-jährige Abgeordnete im Interview mit Cicero. „Das Land hat sich in diesen 20 Jahren verändert. Kabul ist eine andere Stadt, Frauen und Mädchen haben ein völlig anderes Leben bekommen. Die Wirtschaft hatte sich verändert, die Bevölkerung ist gewachsen.“

Zum Stichtag 31. August sind alle alliierten Soldaten aus Afghanistan abgezogen worden. Damit endet, so sagte es US-Präsident Joe Biden in der Nacht zum 1. September, der „immerwährende Krieg“ gegen den Terror in Afghanistan – zumindest für die Bodentruppen aus Amerika und den Nato-Staaten, die sich nach den Anschlägen auf Amerika am 9. September 2001 erstmals unter Berufung auf kollektive Verteidigung nach Artikel 5 gemeinsam am Hindukusch engagiert hatten. Die Herrschaft der Taliban war 2001 beendet worden, Al-Qaida-Mastermind Osama bin Laden konnte in Pakistan 2011 getötet werden.

Militärparade der Taliban

Das Ende der Intervention aber ist ein Fiasko für die Reputation der USA und ihrer Alliierten. Und für die Zivilisten in Afghanistan, die jetzt wieder unter der Herrschaft der totalitären, ultrareligiösen Taliban stehen. Am 1. September veranstalteten triumphierende Taliban in Kandahar im Süden Afghanistans eine Militärparade mit von den USA zurückgelassenen Armeejeeps. In 48 Stunden soll bereits eine neue Regierung stehen – jene, die in den vergangenen 20 Jahren mitregiert haben, sollen ausgeschlossen sein. Frauen werden nur in untergeordneten Funktionen einbezogen, hieß es von Seiten der Taliban.

Die Briten mussten wie die anderen Alliierten hinnehmen, dass ohne amerikanische Bodenpräsenz der gesamte Militäreinsatz am Hindukusch endete. „Ich werfe der Nato vor, dass sie Afghanistan wie eine amerikanische Operation behandelt hat“, sagt Tom Tugendhat. „Denn das war sie nicht. Deutschland und sogar Schweden, ein Land, das nicht einmal in der Nato ist, haben wichtige Rollen übernommen. Dass wir erlaubt haben, dass es einfach eine Entscheidung eines US-Präsidenten wurde, ob diese Mission weitergeführt wird oder nicht, zeigt, dass die Nato nicht genug investiert hat.“

„Es braucht Kooperation und Investitionen“

Nur wenige Nato-Partner – darunter Britannien, Frankreich und die meisten osteuropäischen Staaten – geben mindestens zwei Prozent ihres Budgets für Verteidigung aus. Deutschland gibt 2021 bereits 46,9 Milliarden Euro für Verteidigung aus. Auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird man aber nicht, wie versprochen, bis 2024, sondern eher erst 2030 kommen. Tugendhat sagt kritisch: „Die letzten drei US-Präsidenten haben es kristallklar gemacht, dass die amerikanische Unterstützung nicht bedingungslos ist. Es braucht Kooperation und Investitionen. Viele Partner haben es versäumt, sich richtig zu engagieren.“

Großbritannien aber sucht selbst gerade erst wieder seine Rolle auf der internationalen Bühne. Nach dem Austritt aus der EU verstärkt man, wo es geht, die diplomatischen und militärischen Beziehungen auf bilateraler Ebene. Der britische Vorsitz der G7 – der sieben Industrienationen Amerika, Kanada, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan und dem Vereinigten Königreich – gibt Premier Boris Johnson Gelegenheit, sich öffentlichkeitswirksam als Gastgeber im Kreis mächtiger Staatenlenker zu zeigen. Im Zuge des Afghanistan-Rückzugs rief Johnson sie Ende August zu einer virtuellen Konferenz zusammen. Dabei ging es aber nur noch darum, wie man den Schaden begrenzen und den zurückgelassenen afghanischen Mitarbeitern und gefährdeten Zivilisten vor Ort helfen könnte.

Lebenslanges Bleiberecht

Für Tugendhat ist das ein besonders schmerzhaftes Kapitel. Er hat es seit Wochen nicht geschafft, seinen eigenen Übersetzer aus Kabul nach London zu bringen. „Ich habe persönlich mit dem Premierminister, mit dem Außenminister, mit dem Verteidigungsminister, dem nationalen Sicherheitsberater und dem Geheimdienstchef gesprochen. Und nein, ich konnte meinen Übersetzer und die anderen, für dich ich mich gerade einsetze, bisher nicht nach Großbritannien bringen.“ In den kommenden Wochen wird sich herausstellen, wie erfolgreich westliche Regierungen mit den siegreichen Taliban über die Ausreise von ehemaligen Mitarbeitern verhandeln.

Nach dem Interview mit Cicero eilt Tom Tugendhat am Mittwochnachmittag in den Westminsterpalast, um dort als Vorsitzender des Außenausschusses Außenminister Dominic Raab zu Afghanistan zu befragen. Die britische Regierung hat bisher ausgeflogenen Afghanen, die für sie gearbeitet haben, lebenslanges Bleiberecht in Britannien zugesagt. Raab versprach, sich für die noch in Afghanistan verbliebenen Mitarbeiter einzusetzen. Warum Raab ebenso wie sein Stellvertreter am Tag des Falles von Kabul im Urlaub weilte? „Nach heutigem Stand des Wissens wäre ich wohl nicht in den Urlaub gegangen“, sagt Raab kleinmütig.

US-Rückzug von der Weltbühne

Urlaub ist erst einmal abgesagt. Neben den praktischen Anforderungen werden die außenpolitischen Strategen in London ihre längerfristige Strategie durchdenken. Amerika zieht sich als Weltpolizist von der Weltbühne zurück, Großbritannien stellt sich auf seine neue Rolle als alleinstehende Mittelmacht ein. „Für die Briten ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir unsere eigenen Kapazitäten haben und unsere eigenen Alliierten. Neben den USA ist das Deutschland, Frankreich, auch Japan, Australien, die Türkei, Griechenland und ja, Litauen“, sagt Tugendhat.

Er gehörte jenem Flügel der konservativen Tory-Partei an, die sich 2016 gegen den Brexit ausgesprochen hatte. Sein Großvater wurde in Wien geboren, seine Frau ist Französin. Tugendhat hat sich zwar mit dem EU-Austritt arrangieren müssen, doch die Nähe zu den europäischen Partnern zeigt der Proeuropäer immer wieder, zum Beispiel durch gemeinsame Erklärungen mit Norbert Röttgen, seinem Pendant im Bundestag: „Die Deutschen sind sich dem vielleicht nicht bewusst, aber wir haben eine fantastische, enge Beziehung mit Deutschland, gerade, wenn es um Sicherheitszusammenarbeit geht. Die Franzosen wiederum sind uns in vieler Hinsicht sogar näher als die Amerikaner.“

Europäer müssen eigene Wege finden

Das unrühmliche Ende der Afghanistan-Mission aber hat nicht nur gezeigt, dass die Europäer eigene Wege finden müssen, wenn sie sich in Zukunft unabhängig von Amerika engagieren wollen. Da Afghanistan gleich wieder an die Taliban gefallen ist und der Aufbau unabhängiger, lokaler Strukturen nicht funktioniert, müssen Befürworter westlicher Interventionen sich die Frage gefallen lassen, ob diese generell mehr schaden als nutzen. „Wer sagt, internationale Interventionen funktionierten nicht?“, sagt Tugendhat. „In Südkorea hatten wir nach dem Koreakrieg einen Waffenstillstand mit einer korrupten, militärischen Diktatur und einer Wirtschaft von der Größe des Kongo. Schauen Sie sich das Land heute an: eine starke Demokratie mit einer brummenden Wirtschaft.“ Und immer noch seien US-Soldaten vor Ort stationiert.

Tugendhat lässt es sich nicht nehmen, auch noch das beste Beispiel für eine gelungene Intervention und fortdauernde Militärpräsenz zu bringen: „Deutschland! Immer noch sind 40.000 US-Soldaten dort. Nach dem Zweiten Weltkrieg zweifelten viele daran, ob Deutschland den Weg zurück in die zivilisierte Welt schaffen würde. Heute ist Deutschland einer der wichtigsten Pfeiler der Demokratie in dieser Welt.“

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