Abendpost aus der Ukraine - Merz’ Tag in Kiew

CDU-Chef Friedrich Merz hat sich als erster Spitzenpolitiker Deutschlands nach Kiew gewagt. Und vollen Erfolg gehabt. Nur Boris Johnson stiehlt ihm die Show.

CDU-Chef Friedrich Merz mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (rechts) und Wladimir Klitschko / Moritz Gathmann
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Jeden Abend schreibt Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann über die Ereignisse des Tages in der Ukraine.

Kurz vor sieben Uhr abends heulen im Zentrum von Kiew die Sirenen – doch rund um das Bürgermeisteramt an der Hauptstraße Chreschtschatik reagiert niemand darauf, man hat sich an die ständige - theoretische - Gefahr gewöhnt. Wenig später trifft Friedrich Merz, in Hemd und schwarzer Jacke, im neunten Stock des Bürgermeisteramts ein, der CDU-Vorsitzende und Unionsfraktionschef wird begleitet von seinen Sprechern und dem Außenpolitiker Roderich Kiesewetter.

Merz war erst am späten Morgen mit einem Sonderzug aus Lemberg angekommen und hatte dann einen Termin-Marathon hingelegt: Zuerst machte er sich ein Bild von den Zerstörungen im Vorort Irpen, direkt neben dem für die russischen Gräueltaten bekannten Butscha gelegen. Es folgten Termine bei den Oppositionspolitikern Julia Timoschenko und Petro Poroschenko, dem Parlamentspräsidenten, dem Premierminister und zuletzt bei Präsident Wolodymyr Selenskij. Fehlt nur noch Bürgermeister Vitali Klitschko.

Affront gegen Scholz?

Als die Journalisten in den Raum ins Büro gelassen werden, erklärt jener Klitschko dem CDU-Chef und Kiesewetter gerade vor einer großen Karte, an welchen Stellen in der Hauptstadt russische Raketen eingeschlagen haben. Es geht ein Tag zu Ende, der von manchem Regierungspolitiker in Deutschland als Affront gegenüber Olaf Scholz aufgefasst wird: Der hatte erst gestern wieder erklärt, dass die de-facto-Ausladung von Bundespräsident Steinmeier im Weg stehe. Aus Merz‘ Umfeld heißt es aber, dass die Reise schon „vor Wochen“ geplant gewesen sei.

Merz‘ Reise – und die Berichterstattung über sie – ist in jedem Fall ein großer Erfolg für ihn. Der CDU-Politiker wirkt in seinen Äußerungen, als wäre er Mitglied einer großen Regierungskoalition. „Ich fühle mich sehr bestätigt in dem, was wir in der letzten Woche im Bundestag beschlossen haben“, sagt er mit Blick auf die Waffenlieferungen. Scholz habe Recht mit seinem Wort, dass hier nicht nur das Territorium der Ukraine verteidigt werde, sondern „unsere Freiheit und unsere Demokratie.“

Merz will erst Scholz Bericht erstatten

Details über das Gespräch mit Präsident Selenskij gibt er nicht bekannt, das wolle er zuerst mit dem Bundeskanzler besprechen. Das Gespräch, so betont er, sei aber „sehr ausführlich und sehr lange gewesen, deutlich über eine Stunde.“

Drei wichtige Fragen, mit denen sich Deutschland in der nächsten Zeit beschäftigen müsse, nennt Merz: Soll die Ukraine einen Beitrittsstatus zur EU bekommen? Das befürworte er sehr. Wie soll Deutschland der Ukraine nach Kriegsende beim Wiederaufbau helfen? Und welche Länder sollten Garantiemächte für die Ukraine werden? Deutschland solle hier, so Merz, eine Führungsrolle spielen. In allen Gesprächen sei die Erwartung der Ukraine deutlich geworden: „Deutschland muss eine Führungsrolle in der EU übernehmen.“

Beleidigte Leberwurst?

Merz wird auch nach Botschafter Andrij Melnyk gefragt, der den Bundeskanzler als „beleidigte Leberwurst“ bezeichnet hatte. „Wir sollten uns bemühen, rhetorisch auf ein Niveau zu kommen, wo wir uns die gegenwärtige Hilfe nicht unnötig schwer machen“, sagt er. Er werde sich in Berlin auch mit Melnyk treffen, der im übrigen bei der Vorbereitung seiner Reise „sehr geholfen“ hat.

Eine Spitze gegen Scholz bringt Merz dann doch noch unter, als er über seinen Besuch im Kiewer Vorort Irpen sagt: „So etwas kann man nicht nur allein im Fernsehen sehen, man muss es mit eigenen Augen gesehen haben.“

Johnson im ukrainischen Parlament

In den ukrainischen Medien wird Merz‘ Besuch eher am Rande erwähnt: Hauptnachricht des Tages ist der britische Premierminister Boris Johnson: Er spricht per Video im ukrainischen Parlament und verspricht weitere Militärhilfe über 300 Millionen Pfund, darunter Brimstone-Raketen, gepanzerte Fahrzeuge, Radarsysteme und Drohnen.

Er sei „überzeugt davon, dass die Ukraine in diesem Krieg siegen werde, und die Geschichten über diesen Sieg von Generation zu Generation weitererzählt werde.“ Johnson erntet standing ovations, und wird mit seiner Rede seinem Ruf im ukrainischen Volk gerecht. Der Volksmund hat ihm nach seinem Blitzbesuch im umkämpften Kiew Anfang Mai den Spitznamen „Johnsonjuk“ verliehen.

Nach dem Besuch bei Klitschko machen sich Friedrich Merz und seine Begleiter wieder auf den Weg in Richtung Lemberg. In der Umgebung der westukrainischen Stadt werden am Abend mehrere Einschläge russischer Raketen gemeldet.

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