Alles auf eine Karte - Warum Putin weiter Krieg führt

Für Putins Ex-Strategieberater Sergej Karaganow steht fest: Russland kann sich eine Niederlage in der Ukraine nicht leisten. Ein Blick auf sein Interview mit dem britischen Magazin „New Statesman“ kann dabei helfen, den aktuellen Stand des Krieges besser zu verstehen.

Sergej Karaganow auf einem Podium mit Außenminister Lawrow, Oktober 2021 / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Am 2. April gab Putins früherer Strategieberater Sergej Karaganow dem britischen Magazin New Statesman ein Interview. Nach ihm ist die „Karaganow-Doktrin“ benannt, die die Destabilisierung von Staaten vorsieht, in denen relativ große russische Minderheiten leben.

Karaganow hatte bereits Jelzin beraten und gilt als enger Vertrauter des russischen Außenministers Lawrow. Er ist zurzeit Dekan der Moskauer Wirtschaftshochschule, die lange als Hochburg liberaler Lehre galt, aber inzwischen als gleichgeschaltet gilt. Und er ist Ehrenvorsitzender des Moskauer Rats für Außen- und Sicherheitspolitik – insofern wird seinen Meinungen im Kreml Gehör geschenkt.

Im Gespräch mit New Statesman legt Karaganow die Karten auf den Tisch: „Russland kann sich eine Niederlage nicht leisten, also brauchen wir irgendeine Art Sieg.“ Und weiter: „Für die russische Elite steht sehr viel auf dem Spiel – für sie ist es ein existenzieller Krieg.“ Im Fall einer Niederlage drohen also für Putin und seine Oligarchen Machtverlust und Unruhen. Das heißt: Nur als Sieger können sie weiter an der Macht bleiben. Aus diesem Grund greift die Kreml-Elite in ihrer Kriegsführung zu immer brutaleren Mitteln.

Der Zweck rechtfertigt die Mittel

Deshalb ist es ein sehr folgenschwerer Fehler, wenn man die russischen Massaker in Butscha oder in anderen ukrainischen Orten als etwas bagatellisiert, was nun einmal in jedem Krieg irgendwie vorkommen würde. Grausame Kriegsführung hat in Russland Tradition – und deshalb ist es auch nicht auszuschließen, dass an den bislang unbestätigten Berichten aus Mariupol über den Einsatz von Giftgas etwas dran ist.

Den Berichten ging ein Interview von Eduard Bassurin im Ersten Kanal des russischen Staatsfernsehens voraus. Der Rebellenkommandeur aus Donezk wurde gefragt, wie er sich die Eroberung Mariupols vorstellt. Denn die Verteidiger des Asow-Regiments hätten sich in der Stahlfabrik „Asowstal“ eingegraben – ein Gebäude mit mehreren Stockwerken und vielen Gängen. Seine Antwort war so verblüffend wie simpel:

Es gibt dort unterirdische Stockwerke, und deshalb macht es keinen Sinn, dieses Objekt jetzt zu stürmen. Es würden viele unserer Soldaten dabei sterben, aber der Feind würde keine Verluste erleiden. Deshalb sollten wir jetzt herausfinden, wie wir diese Fabrik blockieren und alle Ein- und Ausgänge finden können. Und danach sollten wir unsere chemischen Kräfte darum bitten, dass sie diese Maulwürfe irgendwie aus ihren Löchern ausräuchern.

Die Lage in Mariupol

Das Interview mit Bassurin ist sehr aufschlussreich. Es impliziert immerhin das Eingeständnis, dass die bisherige Strategie zur Stürmung der Fabrik gescheitert ist. Oft müssen die Soldaten immer wieder gegen das selbe Objekt anrennen, wodurch sie hohe Verluste erleiden. Und nota bene: Mit „unseren Soldaten“ meint er die Soldaten der „Volksrepublik Donezk“, die in der Regel in der ersten Reihe kämpfen und prozentual gesehen weitaus höhere Verluste erleiden als die russischen Streitkräfte. Sie wurden schon zu Beginn des Krieges zwangsrekrutiert, haben oft kaum Kampferfahrung und sind schlecht ausgerüstet – teilweise waren sogar Mosin-Nagant-Gewehre nach dem Modell von 1890 auf Videos zu sehen. 

Diese Taktik, die eher an Marschall Schukows Vorgehen im Zweiten Weltkrieg erinnert, funktioniert offensichtlich nicht im Häuserkampf. Für den Kommandeur heißt das also, dass zu radikaleren Mitteln gegriffen werden muss – und zwar zu Chemiewaffen. Über ihren Einsatz wurde einige Stunden später in Mariupol berichtet: Eine Drohne soll eine giftige Substanz abgeworfen haben, die zu Erstickung und Atemnot geführt habe.

Die Bruchlinien der innerukrainischen Politik

Es wird wohl nie unabhängig zu überprüfen sein, welche Kriegsverbrechen in Mariupol verübt wurden. Die Stadt steht schließlich kurz vor dem Fall. Laut einer Hochrechnung von Pawel Kirilenko, des Gouverneurs der Oblast Donezk, sind zwanzig- bis zweiundzwanzigtausend Zivilisten im Laufe der Kampfhandlungen zu Tode gekommen. Auch ist die Rede davon, dass die russischen Streitkräfte mobile Krematorien einsetzen würden, um die Toten zu Asche zu verbrennen. Die Stadtparks seien inzwischen zu Friedhöfen geworden. All dies ist im Rahmen des Möglichen. 

Derweil kritisieren die Kämpfer des Asow-Regiments, das dem ukrainischen Innenministerium untersteht, ihre eigene Regierung. Es heißt, Selenskyj hätte die Verteidiger allein gelassen. Trotz sporadischer Nachschublieferungen fehle es ihnen an Munition, medizinischer Versorgung, Lebensmitteln und Trinkwasser. Das wiederum wirft ein Licht auf die schwierige Beziehung zwischen der ukrainischen Armee und dem Asow-Regiment, das aus einem rechtsextremen paramilitärischen Bataillon hervorgegangen ist. Russischen Meldungen zufolge würden sich noch 2000 Verteidiger der ukrainischen Marineinfanterie und des Asow-Regiments in Mariupol aufhalten, 1000 Kämpfer hätten sich bereits ergeben.

Und inzwischen hat die Ukraine Viktor Medwetschuk festgesetzt – einen von Putins treuesten prorussischen Politikern in der Ukraine, der des Hochverrats bezichtigt wird und der bis zum 27. Februar unter Hausarrest stand. In den Wirren der ersten Kriegstagen machte er sich auf die Flucht und gab sich als ukrainischer Soldat aus. Er könnte demnächst gegen ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht oder zu einer Haftstrafe verurteilt werden.

Zugleich verbuchte die ukrainische Armee den Erfolg, dass sie den russischen Raketenkreuzer „Moskwa“ mithilfe hauseigener Neptun-Raketen schwer beschädigen konnte. Damit ist das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte Geschichte. Manche dürften sich an dieses Schiff erinnern, dessen Besatzung den ukrainischen Soldaten auf der Schlangeninsel mit der Vernichtung drohte und dafür die Antwort „Russisches Kriegsschiff, verpiss dich“ erhielt.

„China ist der klare Sieger dieser Angelegenheit“

Aber noch einmal zurück zum Interview mit Sergej Karaganow. Im Gespräch mit New Statesman spricht er nicht nur vom Zugzwang, dem die russischen Streitkräfte in der Ukraine ausgesetzt sind. Er rühmt auch Russland als die Speerspitze einer „Neuen Weltordnung“, in der es die nichtwestliche Welt anführen würde. In Bezug auf China klingt er allerdings eher besorgt als optimistisch. In deutscher Übersetzung lautet sein Statement so:

Wir haben diejenigen besiegt, die versuchten, uns zu beherrschen … Ich habe also keine Angst davor, dass Russland Teil eines großen China wird. Der andere Grund, warum ich keine Angst habe, ist, dass die chinesische Zivilisation sehr unterschiedlich ist. ... Aber ich bin sehr besorgt über die überwältigende wirtschaftliche Vorherrschaft Chinas im nächsten Jahrzehnt. Leute wie ich haben gesagt, dass wir das Ukraine-Problem lösen müssen, wir müssen das Nato-Problem lösen, damit wir gegenüber China eine starke Position einnehmen können. Jetzt wird es für Russland viel schwieriger sein, der chinesischen Macht zu widerstehen.

Karaganows Furcht vor der Macht Chinas ist gut begründet. Schließlich konnte Russland (beziehungsweise die Sowjetunion) größere Feinde wie etwa Napoleon oder Hitler nur in einem Bündnis mit dem Westen besiegen. Und selbst wenn Russland und China kulturell unterschiedlich bleiben, wird Russland wirtschaftlich und politisch immer abhängiger von China werden.

Schon jetzt ist Russland dazu genötigt, das über die Pipeline „Power of Siberia“ nach China laufende Gas zu Spottpreisen zu verramschen. Die Chinesen können umgekehrt bestimmte Defizitgüter zu Preisen verkaufen, deren Höhe sie selbst festlegen – denn durch die westlichen Sanktionen sind sie für Russland etwa im Hightech-Bereich der letzte verbliebene Handelspartner. 

Die russisch-chinesische Freundschaft als Chimäre

Zwar suggeriert die chinesische Staatspropaganda der eigenen Bevölkerung, dass Russland einen gerechten Krieg in der Ukraine führe. Aber hinter vorgehaltener Hand klingt die chinesische Haltung schon anders. Der chinesische Politikwissenschaftler Zheng Yongnian beispielsweise ist der Ansicht, dass China von diesem Krieg nur profitieren kann: Denn während die USA für fünfzehn bis zwanzig Jahren mit Putins „Mini-Sowjetunion“ beschäftigt seien, könnte China ungestört seine Macht in Asien, Europa und Afrika ausbauen und eine neue Weltordnung errichten. In diesem Plan ist für Russland nur die Rolle als nützlicher Idiot Chinas reserviert. Deswegen muss sich Karaganow im Gespräch mit New Statesman eingestehen: „China ist der klare Sieger dieser ganzen Angelegenheit.“

Die Beziehungen zwischen China und Russland sind übrigens historisch weitaus stärker belastet, als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat. China wird es Russland nie verzeihen, dass Russland zusammen mit Frankreich und Großbritannien infolge der „Ungleichen Verträge“ an der Ausbeutung Chinas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligt war. Und Russland wird nie das Säbelrasseln Mao Tse-Tungs vergessen, der in den 1970er-Jahren gegen das sowjetische Moskau einen Nuklearschlag androhte. Dem waren mehrere Grenzkonflikte vorausgegangen, in denen hunderte Soldaten auf beiden Seiten gestorben waren.

Zu allem Überfluss kam hinzu, dass Mao seine blutige „Kulturrevolution“ als „Säuberung von sowjetisch-revisionistischen Kräften“ gerühmt hatte. Die wachsende Abhängigkeit von China wird also in Russland für einigen Unmut sorgen. Und schon vor dem Krieg hatten russische Militärs vor einem Einsatz in der Ukraine gewarnt, weil dadurch die eigene „Flanke in Fernost“ nicht mehr vor China geschützt sei.

Sieg oder Untergang

Für den weiteren Kriegsverlauf malt sich Karaganow einige mögliche Kriegsszenarien aus. Seines Erachtens muss Russland um jeden Preis siegen, und selbst wenn das heißt, dass es sich infolgedessen in eine Diktatur verwandeln muss. Sogar im schlimmsten Fall – und das wäre für ihn ein jahrelanger Partisanenkrieg in der Ukraine – habe Russland ein „starkes und zähes Regime“, das den Zusammenbruch des Landes verhindern würde. In Karaganows Weltbild kann nur dann von einem „Sieg“ gesprochen werden, wenn es Moskau gelingt, eine prorussische Regierung in Kiew zu installieren. Karaganow erklärt sein Siegesszenario folgendermaßen:

Ich glaube nicht, dass es ein Sieg wäre, wenn wir die gesamte Ukraine erobern und alle ukrainischen Streitkräfte kapitulieren würden. Denn dann würden wir mit der Last eines verwüsteten Landes zurückbleiben, eines Landes, das durch 30 Jahre unfähiger Elitenherrschaft verwüstet wurde, wozu die Verwüstung durch unsere Militäroperation noch hinzukommt. Ich denke also, dass wir an einem Punkt eine Art Lösung brauchen, die man Frieden nennen würde und die de facto die Schaffung einer Art lebensfähigen, prorussischen Regierung auf dem Territorium der Ukraine und echte Sicherheit für die Donbass-Republiken beinhalten würde.

Andernfalls würde Russland in anderen Teilen der Welt den Konflikt mit den USA eskalieren lassen, so Karaganow: „Es gibt Dutzende von Orten auf der Welt, wo Russland eine direkte Konfrontation mit den USA haben könnte.“ Einen Weg zurück wird es in seiner Sicht der Dinge nicht mehr geben – nachdem Russland die USA herausgefordert hat, wäre nur noch ein Sieg oder eine Niederlage vorstellbar. Auch eine nukleare Eskalation schließt der Kreml-Berater deshalb prinzipiell nicht aus.

„Die Globalisierung ist am Ende“

Karaganow meint allerdings nicht nur fundamentale Veränderungen im russischen, sondern auch im westlich-demokratischen Gesellschaftssystem zu erkennen. „Wir erleben den Zusammenbruch eines Wirtschaftssystems – des Weltwirtschaftssystems –, die Globalisierung in dieser Form ist am Ende“, so Karaganow. „Alles, was wir in der Vergangenheit hatten, ist verschwunden.“ Was bedeutet das konkret?

Ich denke, geopolitisch wird der Westen Höhen und Tiefen erleben. Vielleicht bringen die Schocks, die wir gerade erleben, die besseren Qualitäten der westlichen Zivilisation zurück, und wir werden Leute wie Roosevelt, Churchill, Adenauer, de Gaulle und Brandt wieder im Amt sehen. Aber anhaltende Schocks werden natürlich auch bedeuten, dass die Demokratie in ihrer jetzigen Form in den meisten europäischen Ländern nicht überleben wird, denn unter großen Spannungen verkümmern Demokratien immer oder werden autokratisch. Diese Veränderungen sind unvermeidlich.

Es liegt an den westlichen Demokratien, Karaganows düstere Prognose in der Praxis zu widerlegen. Es dürfte aber keine einfache Aufgabe sein, so geschwächt wie sie inzwischen nach 2 Jahren Corona-Maßnahmen schon sind.
 

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