Jeremy Corbyn - Hat die Labour-Partei ein Antisemitismus-Problem?

Die britische Labour-Partei ringt um ihren Israel-Kurs. Einige Angeordnete fallen mit antisemitischen Äußerungen auf. Diese werden auch Parteichef Jeremy Corbyn vorgeworfen. Doch klar distanziert hat auch er sich nicht. Über die moralischen Standards einer europäischen Volkspartei

Labour-Chef Jeremy Corbyn lässt sich nicht verbiegen: Wird ihm das zum Verhängnis? / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Seit Jeremy Corbyns Wahl zum Labour-Chef 2015 und dem damit einhergehenden Ruck nach links macht die altehrwürdige Partei immer wieder mit antisemitischen Skandalen Schlagzeilen. Londons Altbürgermeister Ken Livingstone etwa behauptete 2016, „auch Hitler sei Zionist gewesen“. Erst im Mai 2018 musste er die Labour-Partei verlassen.

Jüngster Anlass für Aufregung ist eine grundsätzliche Frage: Wie definiert man Antisemitismus? Im Katalog der „Internationalen Allianz für das Gedenken an den Holocaust“ IHRA gibt es eine lange Liste dafür, was unter Antisemitismus fällt. Die deutsche und die britische Regierung haben sich dieser Sichtweise angeschlossen. Die britische Labour-Partei im Prinzip auch – allerdings wurden in ihrem Kodex in diesem Juli einige Punkte gestrichen. Dort, wo es um Israel-Kritik geht, will Jeremy Corbyns Labour-Partei eine andere Linie vorgeben. Es ist demnach nicht antisemitisch zu sagen, dass schon die grundsätzliche Idee eines Staates für das jüdische Volk ein „rassistisches Unterfangen“ wäre.

Freifahrtsschein für Antisemitismus?

Für viele Labour-Mitglieder ist dies skandalös. Vor allem jüdische Abgeordnete lehnen sich gegen den neuen Kurs auf. Margaret Hodge, die aus der deutschen Industriellenfamilie Oppenheimer stammt und einige Verwandte in der Shoah verloren hat, ging mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit: „Für mich ist es so, als hätte meine Partei die Erlaubnis gegeben, Antisemitismus nicht mehr zu verfolgen.“ Im Parlament rief die 74-jährige Abgeordnete wütend ihrem Parteichef entgegen: „Du bist ein Antisemit und ein Rassist.“ Darauf brach eine Welle antisemitischer Kommentare auf sozialen Medien über sie hinein: Sie sei ein „zionistisches Biest“ und „von zionistischen Auftraggebern bezahlt“.

Die Serie antisemitischer Äußerungen, die an die Öffentlichkeit gebracht wurden, begann 2016 mit einem Tweet von Naz Shah. Die Labour-Abgeordnete aus Bradford hatte 2014 eine Grafik weiterverbreitet, in der Israel in die Landkarte der Vereinigten Staaten inkludiert worden war mit der Bemerkung: „Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt – Umsiedlung Israels in die USA. Problem gelöst.“ Shah wurde suspendiert.

Nicht sensibilisiert für jüdische Belange

Sie entschuldigte sich dann öffentlich: Sie sei es nicht, aber ihr Tweet sei antisemitisch gewesen. Naz Shah stammt aus einer britisch-pakistanischen Familie, sie wuchs ohne Vater auf, wurde in Pakistan zwangsverheiratet, nachdem ihre Mutter einen Mann vergiftet hatte, der sie misshandelt hatte und dafür 14 Jahre ins Gefängnis musste. Die 44-Jährige hat sich aus diesem repressiven Umfeld selbst befreit, sie ist eine mutige Feministin, die in ihrem Umfeld aber für eines offenbar nicht sensibilisiert wurde: für jüdische Belange.

Nach einigen Monaten wurde Naz Shah 2016 wieder aktives Labour-Mitglied. Seit Juli 2018 ist sie Frauenministerin im Schattenkabinett von Jeremy Corbyn. Das ist ein Teil des Problems der heutigen Labour-Partei: Viele der jungen, engagierten neuen Labour-Aktivisten stammen aus asiatischen Einwandererkreisen, denen der europäische Diskurs nach Auschwitz gleichgültig oder auch fremd ist. Manche von ihnen kritisieren Israel mit antisemitischen Äußerungen. Nicht alle sind wie Naz Shah beherzt genug, dies zu erkennen und um Entschudligung zu bitten.

Corbyns antisemitische Kontakte

Ein weiterer Aspekt ist die Haltung der alten, linken Friedensaktivisten, die sich wie Corbyn seit den 70er Jahren für Menschenrechte in allerlei Konflikten in der Welt eingesetzt haben: gegen die Apartheid in Südafrika wie gegen die Unterdrückung der Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten. Das war im Falle Corbyns per se nicht antisemitisch. Doch man trifft auf Solidaritäts-Demos für die Rechte der Palästinenser durchaus auch Menschen mit antisemitischen Haltungen. Als er noch links außen hinten im Parlament saß, schadeten Corbyn seine Kontakte nicht. Doch als Parteichef der gesamten Labour-Party repräsentiert der 69-jährige auch viele moderate Juden, die sich bisher in der Partei zu Hause fühlten.

Corbyn hat sich in den vergangenen drei Jahren als Chef der Labour-Party schwer getan, sich klar von so manchen alten Kontakten zu distanzieren. 2016 entschuldigte er sich dafür, dass er einmal die palästinensische Hamas-Bewegung als „Freunde“ bezeichnet hat. Doch immer wieder tauchen neue Videoclips auf: 2010 etwa trat Corbyn bei einem Event „Nie wieder – für niemanden“ auf. Ein jüdischer Holocaust-Überlebender verglich dort die israelische Politik gegenüber Gaza mit einem Nazi-Konzentrationslager. Corbyn entschuldigte sich erst vergangenen Mittwoch für seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung: „Ich billige diese Meinung nicht.“

Inhaltlich geklärt ist wenig

Am Donnertag aber tauchte wieder ein neues Video aus dem Jahr 2010 auf, in dem Corbyn auf einer Palästina-Solidaritäts-Veranstaltung sagte: „In Gaza habe ich den psychologischen Schaden gesehen, den eine Bevölkerung erleidet, wenn sie so lange wie Leningrad oder Stalingrad unter Belagerung steht.“ Die Zivilisten in Gaza oder den sowjetischen Städten im Zweiten Weltkrieg hätten einer solchen Situation sicher nie ausgesetzt sein sollen, das ist klar. Doch die Verbindung beider Situationen macht die Aussage prekär. Wer schneidet Gaza von der Welt ab? Israel. Und wer belagerte Stalingrad? Nazi-Soldaten. Der indirekt angestellte Vergleich hat für viele innerhalb – und im übrigen auch außerhalb – der Labour-Partei einen schlechten Beigeschmack.

Was die Sachlage in der bitteren Diskussion um Israel, die Juden und die Labour-Party noch dramatisiert, ist die Tatsache, dass die rechte israelische Regierung dem eigenen Land, das als Hoffnung für alle verfolgten Juden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, seit Jahren immer schärfere anti-arabische Gesetze gibt. Erst im Juli wurde in der Knesset das Gesetz zum „jüdischen Nationalstaat“ verabschiedet, das besagt, dass nur Juden in Israel das Recht auf Selbstbestimmung haben. Das finden viele, und nicht nur in Corbyns Kreisen, rassistisch.

Anderen fehlt deshalb ein klarer Ordnungsruf des Parteifchefs: Kritik an den Gesetzen der israelischen Regierung kann erfolgen, ohne dass antisemitisch gehetzt wird – indem zum Beispiel alle Juden, auch die in Britannien wie Margaret Hodge, für israelische Politik verantwortlich gemacht werden. Corbyn sagte bisher aber nur: „Ich bedauere, dass mein Verhalten Bedenken und Besorgnis ausgelöst hat.“ Inhaltlich geklärt ist damit wenig.

Der Labour-Chef bleibt sich treu

Längst treffen die antisemitischen Äußerungen auch jene, die Labour zu einer Massenpartei von knapp 600.000 Mitgliedern gemacht haben. Jon Lansman, den Chef der Pro-Corbyn-Bewegung „Momentum“, meint etwa im Gespräch mit Cicero: „Ich bin Jude und erlebe Antisemitismus oft genug selbst. Auch von Labour-Mitgliedern auf meinem Facebook-Feed. Es war mir nicht klar, wie weit verbreitet das Problem ist.“ Jon Lansman hält es für sinnlos zu glauben, dass man Rassismus „ausrotten” kann, wie es jetzt oft von der Labour-Spitze angekündigt wird: „Vorurteile wird es immer geben, wir können nur aufklären und für ein gewisses Bewusstsein kämpfen.”

Vor allem im globalisierten, aufgeklärten London wird Jeremy Corbyn die saloppe Handhabung von antisemitischen Vorfällen auch von den Wählern bereits übel genommen. Die Eroberung der konservativen Bezirke bei den Kommunalwahlen zum Beispiel misslang am 3. Mai. Das lag an der Kontroverse um Antisemitismus ebenso wie an seiner lauwarmen Kritik am Brexit. Corbyns Sanfte-Brexit-Linie ähnelt jener der Regierung. Das grenzt bei einem Oppositionschef an Themaverfehlung. Der Labour-Chef ist sich allerdings selbst inhaltlich treu und verbiegt sich nicht, nur weil die konservative Tory-Partei heute eine EU-feindliche Politik verfolgt. Corbyn ist ein Sozialist alter Schule, der immer in der EU-skeptischen Friedensszene zu Hause war.

„Wir werden den Antisemitismus ausmerzen“

Solange Labour in den Umfragen vor den Tories führt – Mitte Juli waren es 40 zu 36 Prozent – wird Corbyns Führung kaum in Frage gestellt. Das ist auch jungen, kritischen Labour-Ideologen anzumerken, die sonst zum anti-rassistischen, pro-europäischen Lager gehören. Der Publizist Owen Jones wiegelt im Gespräch mit Cicero ab: „Wir werden den Antisemitismus ausmerzen. Der ist aber kein Massenphänomen, es betrifft nur eine kleine, lautstarke Minderheit.“

Die Diskussion über Judenhass in der Partei wird nach der Sommerpause jedenfalls mit Sicherheit weitergehen. Im September wollen die Labour-Abgeordneten noch einmal über die IHRA-Definition von Antisemitismus abstimmen.

 

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