Nahostkonflikt und Antisemitismus in Deutschland - „Die Flüchtlingsfrage kommt wie ein Bumerang zu uns zurück“

Am Wochenende haben tausende Menschen bei Demos antisemitische Parolen skandiert. Den Psychologen Ahmad Mansour wundert das Ausmaß des Hasses nicht. Im Interview spricht er über die Ursprünge des Nahost-Konfliktes, den Terror der Hamas und darüber, warum die Palästinenser-Frage auch hierzulande explosiv ist.

Brennender David-Stern: Der Hass auf Juden hat vor allem Muslime auf die Straßen getrieben / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ahmad Mansour wurde in Israel geboren und lebt seit 2004 in Deutschland. Er ist Psychologe und Autor und beschäftigt sich in verschiedenen Projekten mit Radikalisierung und Antisemitismus unter Muslimen.

Herr Mansour, Sie sind gebürtiger Israeli. Ihre Eltern leben im Norden von Tel Aviv. Was denken Sie, wenn Sie Bilder von Raketen sehen, die auf die Stadt zielen?

Ich habe Angst. Es ist so ein Déjà-vu-Gefühl. So etwas wiederholt sich alle paar Jahre. In den letzten Monaten hatte ich so eine Sehnsucht entwickelt, wieder in Israel zu sein. Aber wegen Corona waren Reisen nicht möglich. Und jetzt hat die Sehnsucht der Angst Platz gemacht. Der Angst um meine Familie, aber auch um das Land.

Die Hamas deklariert die Raketenangriffe als Vergeltung dafür, dass eine Handvoll Palästinenser im Ost-Jerusalemer Stadttel Scheik Jarrah von jüdischen Siedlern enteignet werden sollen. Worum geht es ihr wirklich?

Wenn man sich die Geschichte der Hamas anschaut, dann sieht man, dass die Hamas niemals die Chance verpasst hat, Terror und Schrecken zu verbreiten. Groß geworden ist die Bewegung ja in den Neunzigerjahren, während der Friedensverhandlungen zwischen Arafat und der israelischen Regierung. Die Hamas war so unzufrieden mit der Situation, dass sie dieses Abkommen sehr erfolgreich mit Bombenangriffen und Selbstmordattentaten zu verhindern versuchte. Es geht ihr um die Vernichtung Israels. Allerdings ist nicht die Hamas die große Gefahr.

Sondern?

Das, was in den letzten Tagen in den Städten wie Acco, Haifa oder Helo passiert ist, in denen israelische und arabische Juden bislang friedlich zusammengelebt haben. Diese gesellschaftliche Spaltung.

Die Hamas hat sich 2007 in Gaza an an die Macht geputscht. Wie sieht der Alltag der Bewohner aus?

Es ist ein diktatorisches Regime, das die Meinungsfreiheit und Frauen unterdrückt. Die Bevölkerung in Gaza ist sehr, sehr arm. Und das hat nicht nur mit der Blockade Israels zu tun, sondern auch damit, dass sich Funktionäre der Hamas selbst bereichern.   

Alle reden jetzt von den neun Todesopfern auf israelischer Seite, aber niemand von den 212 Toten in Gaza, darunter 61 Kinder. Verdienen die kein Mitleid?

Natürlich verdienen sie Mitleid. Jedes Kind, das dabei stirbt, ist ein Kind zu viel. Und in den sozialen Medien werden diese Opfer ja auch beklagt. Aber ich wünsche mir, dass wir die zivilen Opfer auf beiden Seiten sehen. Auf israelischer Seite sind die Opferzahlen dank des Iron Domes, des Raketenabwehrsystems, sehr viel geringer. Trotzdem frage ich mich seit Tagen: War der Konflikt im Irak anders? In Syrien oder in Afghanistan? Es handelt sich um Krieg, und es klingt hart und unmenschlich, aber im Krieg sterben immer Zivilisten.

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Ist die Bevölkerung in Gaza nicht doppelt Opfer – einmal Opfer der Hamas und jetzt auch noch Opfer der israelischen Luftwaffe?

Natürlich. Am meisten leiden immer die Unbeteiligten. Aber in der Wirkung emotionalisieren nicht alle Opfer gleich. Die Menschen in Raqua und Mossul waren auch Opfer – und zwar von den Attacken der Amerikaner und Alliierten und Opfer des IS. Die palästinensische Frage jedoch ist so aufgeladen wie kaum ein anderer Konflikt weltweit. 

Fakt ist, dass Palästinenser in Israel im Alltag wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Sie sind der Sohn arabischer Israeli. Empört es Sie nicht, wenn Sie Videos sehen, die zeigen,  wie die israelische Polizei – wie am Montag vor einer Woche geschehen –   Betende in der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem mit Gummigeschossen und Tränengas attackiert?

Man kann arabische Israeli nicht mit Palästinensern vergleichen, die in Gaza, der West-Bank oder gar in Flüchtlingsunterkünften in Jordanien oder anderswo leben. Ihre sozio-ökonomische Situation und ihr Zugang zu Bildung und zum Gesundheitswesen ist wesentlich besser. Und was die Al-Aqsa-Moschee betrifft: Ich war oft genug dort, um zu wissen, dass die Hintergründe komplex sind. Natürlich gibt es auch dort rechtsradikale Juden, die gehetzt haben. Das passiert aber genauso auf palästinensischer Seite. Heilige Orte müssen heilig bleiben. Man darf auch nicht mit Steinen auf die Klagemauer werfen oder Polizisten attackieren.

Die Moschee liegt im Osten von Jerusalem, dem Ort, den die Palästinenser als Hauptstadt ihres künftigen Staates betrachten. Warum hat sie für Moslems eine so hohe symbolische Bedeutung?

Es ist mehr ein politischer Ort geworden, mit dem man eine enorme Emotionalisierung schaffen kann. Er steht unter israelischer Besetzung. Und wenn man ihn anfasst, zuckt der ganze Körper. Man sieht das ja an den Reaktionen aus den anderen arabischen Staaten. Anschläge auf die Al-Aqsa-Moschee vereinen die arabische Welt.

Aber so richtig solidarisiert hat sich keiner von denen mit den Palästinensern.

Für die meisten arabischen Länder ist diese palästinensische Frage eine Störfrage. Sie wollen sich damit nicht beschäftigen, weil sie wissen, dass sie damit nichts gewinnen können. Ihre Herausforderungen sind andere. Es sind der Iran, die Finanzkrise und die Folgen des Arabischen Frühlings. Wenn so etwas wie in Israel passiert, üben die Bevölkerungen einen unfassbaren Druck auf die Regierungen aus, darauf zu reagieren. Und deshalb gibt es Mahnwachen und Lippenbekenntnisse.

Welche Rolle spielt dabei die Angst vor einer iranischen Atombombe?

Na ja, sie bedeutet eine qualitative Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Sunniten und Schiiten. Diese Konflikte in der arabischen Welt wie im Irak oder im Jemen sind Stellvertreter-Konflikte zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, zwischen der sunnitischen und schiitischen Welt.

Ist diese Angst begründet?

Natürlich. Wir sehen ja, was der Iran im Libanon, in Syrien oder im Irak treibt. Er baut paramilitärische Milizen auf. Er hat dort in den vergangenen Jahren auch militärisch agiert. Er hat Anschläge gegen Israel geführt oder zumindest unterstützt. Die Regierung sagt in aller Deutlichkeit: „Unser Ziel ist die Vernichtung Israels.“

Ahmad Mansour / dpa

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beschreibt in einem neuen Bericht die systematische Beschränkung der Freiheitsrechte für Palästinenser. Sie kommt zu dem Schluss, Israel begehe das Verbrechen der Apartheid. Die deutsche Bundesregierung weist die Anschuldigungen zurück. Verbietet es die Staatsraison, Israel überhaupt zu kritisieren – auch unabhängig von den Bombardements in Gaza?

Natürlich kann man Israel kritisieren. Und ich weiß nicht, wie viele Zeitungen das in Deutschland in den vergangenen Tagen auch getan haben. Teilweise war diese Kritik berechtigt, teilweise grenzt sie auch an antisemitische Narrative.

Was kritisieren Sie?

Also, ich bin ja ein Linker, wenn es um Israel geht. Ich bin Netanjahu-Gegner. Israel ist kein perfektes Land. Und wenn man nach vier Wahlen keine Regierung bildet, kann man sich auch Sorgen machen. Aber Israel ist immer noch ein Rechtsstaat. Dieses Narrativ vom  „Apartheidsstaat“ geht auf Islamisten, BDS-Anhänger und Antisemiten zurück.

Das deutsche Parlament hat die BDS-Bewegung, die zum Boykott israelischer Produkte, Wissenschaftler und Künstler  aufruft, mehrheitlich verurteilt. Ist so eine Initiative ein geeignetes Mittel, um Israel international unter Druck zu setzen, um die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden?

Also, die meisten Israelis wollen eigentlich die Besatzung der Westbank aufheben – außer den Radikalen, die mehr und mehr an Macht gewinnen. Viele Menschen sind immer noch für die Zwei-Staaten-Lösung.

Aber wie könnte die aussehen?

Das frage ich mich auch. Der Westen ist da ziemlich naiv. Als sich Israel 2005 aus Gaza verabschiedet hat, begannen die Raketenangriffe der Hamas. Wer garantiert Israel, dass in einem zukünftigen palästinensischem Staat aus Ramallah oder aus Dschenin keine Raketen von der Hamas oder dem IS herüberfliegen? Das Mindeste, was Deutschland jetzt tun kann, ist, sich an Israels Seite zu stellen. Danach ist noch genug Zeit, um die Siedlungspolitik zu kritisieren.

Man sollte die Palästinenser-Frage davon trennen?

Absolut. Man sollte auch den BDS nicht unterstützen. Es ist eine antisemitische Bewegung. Sie dämonisiert Israel. Sie ruft zu Boykotten auf, die an dunkle Zeiten in Deutschland erinnern.

In Deutschland hat es eine Reihe von Demonstrationen vor jüdischen Synagogen gegeben, bei denen die israelische Flagge verbrannt und „Scheiß Juden“ gerufen wurde. Augenzeugen sagen, sie seien bestürzt vom Ausmaß der Aggression. Woher rührt das?

Also, ich bin nicht überrascht. Das ist eine Schande, dass das jetzt sichtbar geworden ist. Aber dieser Nahostkonflikt ist wie ein Scheinwerfer, der zu Tage fördert, was immer schon da war. Ich sehe das ja in meiner täglichen Arbeit mit Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund.

Was meinen Sie genau damit?

Das Ausmaß an Bedrohungen, Beschimpfungen und Diffamierungen, die ich in den letzten Jahren erlebt habe. Wir haben ein Problem mit Integration. Aber wir haben das bis jetzt erfolgreich verdrängt, um keinen Applaus von der falschen Seite zu bekommen. Und jetzt kommt diese Frage wie ein Bumerang zu uns zurück.

Macht man es sich nicht zu leicht, wenn man sagt, es sei ausschließlich „importierter Antisemitismus“, der auf das Konto zugewanderter Araber geht?

Warum?

Weil es in Deutschland auch schon vorher einen Antisemitismus gab, der die Zeit nach dem Holocaust überdauert hat.

Das stimmt. Natürlich gibt es Extremismus am rechten Rand und in der Mitte. 20 Prozent der Deutschen – das zeigen Studien – vertreten einen latenten Antisemitismus.

Siehe den Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Absolut. Aber das relativiert doch nicht den islamischen Antisemitismus. Der Anschlag von Halle war Ausdruck eines deutschen Antisemitismus. Der musste in aller Deutlichkeit benannt werden. Und in der aktuellen Situation zeigt sich ein Antisemitismus, der von Flüchtlingen und Migranten ausgeht.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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