60 Jahre Römische Verträge - Raus aus der Sinnkrise

Am 25. März 1957 wurde mit den Römischen Verträgen der Grundstein für die Europäische Union gelegt. 60 Jahre danach ist vom Optimismus der Anfangszeit kaum noch etwas zu spüren. Eine Gruppe junger Menschen sieht eine Lösung: ein föderaler Staatenbund mit eigener Verfassung

Die europäische Flagge hat es schwer im Krisen-Gewitter. Aber sie weht / picture alliance
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Jean Monnet und Robert Schuman aus Frankreich, Konrad Adenauer und Walter Hallstein aus Deutschland – sie gelten als die Architekten der Römischen Verträge, die am kommenden Samstag vor 60 Jahren unterzeichnet wurden. Altersdurchschnitt des Quartetts: 69. Es waren die Alten des Kontinents, gezeichnet von zwei Weltkriegen, die sich für die Friedenssicherung in Europa einsetzten und dieses Ziel über alles stellten. Die Jüngeren waren gefallen, verwundet, traumatisiert. Die Alten mussten ran.

Lange in den 60 Jahren danach stand die europäische Vereinigung relativ fest auf dem Sockel der drei großen Ideen der Römischen Verträge: Marktwirtschaft, Frieden und Vielfalt. Dafür sorgten die vertraglich festgehaltenen Grundfreiheiten aus Waren- und Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Reise- und Niederlassungsfreiheit. Die Länder der Europäischen Union erlebten eine nie gekannte Zeit des Friedens und des Wohlstands.

Europäische Sinnkrise

Doch die zahlreichen Krisen der jüngsten Zeit haben die EU in eine tiefe Sinnkrise geführt. Das wirtschaftliche Abrutschen der Länder am Mittelmeer, die Flüchtlinge, der Brexit – die Staatengemeinschaft wirkt auf einmal zerbrechlich wie nie und vom Optimismus ihrer Anfangsjahre ist kaum noch etwas zu spüren.

Und heute sind es sind vor allem die Alten, die der Union mit Skepsis und Zynismus begegnen. In fast jedem Land, Italien ausgenommen, sind es die Älteren über 50 Jahren, die die EU schlecht finden. Das hat sich vor allem beim Brexit in Großbritannien gezeigt. Bei den über 65-Jährigen lag die Zustimmung zum EU-Austritt bei mehr als 60 Prozent, unter den 25 bis 49-Jährigen plädierten hingegen 55 Prozent für einen Verbleib in der EU, bei den 18-24-Jährigen sogar 80 Prozent.

Manifest gegen schlechte Stimmung

Gegen die schlechte Stimmung anzukämpfen, das hat sich die spendenfinanzierte Organisation United Europe auf die Fahnen geschrieben. Zu den Initiatoren zählen der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und der deutsche Unternehmer Jürgen Großmann. Im Vorstand sitzen unter anderem der ehemalige Europa- und Bundestagsabgeordnete Friedrich Merz und die französische EU-Abgeordnete Sylvie Goulard.

Anlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge hat United Europe eine Gruppe von insgesamt 19 jungen Wissenschaftlern, Unternehmern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zusammengerufen. In mehreren Treffen in Berlin, Brüssel und zum Schluss in der Villa Vigoni am Comer See in Italien hat die Gruppe in intensiven Sitzungen ein Manifest erstellt. Die Villa Vigoni war zugleich Mit-Organisator und -Initiator des Projekts. Das Haus unterstützt die deutsch-italienischen Beziehungen in den Bereichen Wissenschaft, Bildung, Kultur, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mit besonderer Berücksichtigung der jüngeren Generationen. Das Manifest stellte die Gruppe heute in der deutschen Botschaft in Rom vor.

Selbstbewusster Ansatz

Der Verdacht drängt sich schnell auf, dass es sich dabei wieder um eine der vielen ermüdenden Erbauungsreden zur EU handelt. Nett gemeint und voller Pathos, aber letztlich ohne Konsequenz und konkrete Vorschläge. Entscheiden können auch die 19 Männer und Frauen, die das Manifest, erarbeitet haben, nichts. Trotzdem hat es das selbstbewusst formulierte Manifest in sich.

Ihre Generation sei geprägt worden „durch offene Grenzen und die Möglichkeit zu reisen, durch eine gemeinsame Währung, durch den Schüler- und Studentenaustausch und neue Technologien“ schreiben sie. Deswegen müssten sie „nicht erst lernen, Europäer zu werden; wir müssen nur erkennen, dass wir es seit jeher sind“. Aber auch, dass die heutige Europäische Union „eine komplizierte institutionelle Architektur“ aufweise, „die für ihre Bürger schwer verständlich ist und zu Misstrauen führt.“ Daher sei sie in ihrem derzeitigen Zustand nicht in der Lage, „die Probleme effektiv und transparent zu lösen“.

Eine föderale Union, ein Präsident, eine Verfassung

Was die Gruppe als Heilmethode vorschlägt, kann man auch als Trotzreaktion gegen die wachsenden nationalistischen Bewegungen in vielen Ländern verstehen: eine Europäische Föderale Union. Die soll zuständig sein für Außenpolitik und Einwanderung, Terrorismusbekämpfung und Verteidigung, den Binnenmarkt, Wettbewerb und Handel. Ein zentralistischer Superstaat also? Nein, steht es im Manifest, die föderale Union würde auf übermäßige Regulierung verzichten. Alle Zuständigkeiten, die nicht ausdrücklich auf die EU übertragen werden, verbleiben bei den Mitgliedsstaaten. Und solche, die derzeit auf EU-Ebene wahrgenommen werden, sollen an die Mitgliedsstaaten zurückgegeben werden.

All das soll in einer Verfassung festgehalten werden. Die exekutive Gewalt soll in den Händen eines demokratisch gewählten Präsidenten liegen. Anders als heute sollen alle Gesetze nach der gleichen Abstimmungsregel verabschiedet werden: mit einfacher Mehrheit im Europäischen Parlament als dem „Haus des Volkes“ und mit qualifizierter Mehrheit, also einem festgelegten Anteil der Stimmen in einem Europäischen Senat als dem „Haus der Staaten“.

Hehre Ziele einer Elite?

Das sind hehre Ziele an deren realistischer Umsetzung man durchaus zweifeln kann. Und auch den Vorwurf des Elitentums muss sich die Gruppe gefallen lassen. Zum finalen Festzurren des Manifests traf man sich in einem herrschaftlichen Refugium mit Blick auf den Comer See bei edlen Tropfen und Speisen. Was wissen die Akademiker und Unternehmer vom Zeitarbeiter, der um seinen Job bangt? Oder von einem jungen Arbeitslosen in Italien, einer von 42,2 Prozent?

Gerade um die geht es, entgegnet Ana-Marija Cvitic. Die 26-Jährige, die beim Berliner Thinktank Polis 180 arbeitet, ist eine der jüngsten Mitwirkenden des Projekts. „Ich verstehe den anti-europäischen Jugendlichen, der sich von der EU verraten fühlt“, sagt sie. Gerade deshalb müsse man aber für den Erhalt der EU kämpfen. Der Zerfall der EU würde die jungen Leute – so wie in Großbritannien – am allerschwersten treffen. Der griechische Start-Up-Unternehmer Dimitros Tsingos sieht es ähnlich. Um das europäische Einigungsprojekt zu erhalten, müsse man es erheblich verbessern. „Ich bin überzeugt davon, dass dies unsere Pflicht gegenüber den Generationen vor uns ist, ebenso wie gegenüber denen, die uns nachfolgen.“ 

Natürlich ist das Manifest nicht viel mehr als eine Idee, vielleicht eine Utopie. Doch was hatte Konrad Adenauer gesagt, fast zehn Jahre nachdem er die Römischen Verträge unterzeichnet hatte? „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele.“

Wer das Manifest unterstützen möchte, kann das Dokument online hier unterzeichnen.

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