Macrons Rentenreform in Frankreich - Zwischen Fortune und Fiasko

In Paris steuern die Proteste gegen Präsident Emmanuel Macron und die Rentenreform der Regierung auf den nächsten Höhepunkt zu. Dabei würden die meisten Franzosen von den Plänen finanziell profitieren. Dass ihm keiner glaubt, hat Macron selbst zu verantworten. Er hätte von Gerhard Schröder lernen sollen

Macron muss
Anzeige

Autoreninfo

Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

So erreichen Sie Kay Walter:

Anzeige

Am Freitagmittag hat die französische Regierung ihre seit langem umstrittene Rentenreform auf einer Sitzung beraten und beschlossen. Zeitgleich begann erneut eine Großdemonstration mit dem Ziel, die Reform komplett zu kippen. Der Eiffelturm blieb versperrt, ebenso die Eingänge zu zahlreichen Metrostationen. Folge: Die Metros und Regionalbahnen sind zwar in Betrieb, können aber im Zentrum von Paris häufig nicht erreicht werden. Zudem werden auch viele Buslinien bestreikt. Es ist die nächste Eskalationsstufe einer Machtprobe zwischen Regierung und Gewerkschaften, allen voran die ehemals kommunistische cgt.

Was soll am Rentensystem geändert werden? Wem nutzt, wem schadet das?

Derzeit gibt es in Frankreich 42 verschiedene Rentenkassen und -regime, je nach Berufsgruppe. Unterschiedliche Logiken führen dabei zu sehr unterschiedlichen Rentenzahlungen. Angestellte im öffentlichen Dienst erhalten 75 Prozent ihres letzten Gehalts, während sich die Rente von privat Beschäftigten aus dem Durchschnitt der letzten 25 Jahre errechnet. Für Lehrer – die in Frankreich eher schlecht bezahlt werden – kann das einen Unterschied von 20 Prozent zu Gunsten der Lehrer einer staatlichen Schule ausmachen.

Für viele gerechter und profitabler

Das Durcheinander soll nach dem Willen von Emmanuel Macron und der französischen Regierung durch ein einheitliches System ersetzt werden, „für alle Franzosen, ohne Ausnahme“, wie es Premierminister Edouard Philippe ausdrückte. Jeder eingezahlte Euro soll künftig in ein Punktesystem umgerechnet werden und zu identischen Rentenansprüchen führen. Angerechnet werden neben der Arbeitszeit auch Ausbildung, Mutterschaft, Unfall und Krankheit – neu in Frankreich. Wer mehr als 120.000 Euro pro Jahr verdient, soll einen Solidarzuschlag zahlen.

Außerdem sieht die Reform eine Mindestrente von 1.000 Euro vor. Davon würden Alleinerziehende, profitieren, aber vor allem kleine Bauern und Gewerbetreibende. Wer körperlich besonders anstrengende Arbeit oder viel Schichtarbeit zu verrichten hat, kann zwei Jahre eher in Rente gehen als andere. Wer heute 44 oder älter ist, wird durch die schrittweise Umsetzung der Reform in keiner Weise betroffen. Nach dem neuen System arbeiten erst diejenigen, die 2022 erstmals auf den Arbeitsmarkt kommen werden.

Sicher ist: Es ist deutlich gerechter als das jetzige Rentenregime. Sicher ist auch: Die große Mehrheit der Franzosen würde davon eindeutig profitieren. Zum Teil sogar ganz erheblich.

Die Gründe für die massiven Proteste

Wieso dann die Massenproteste? Das fragt sich nicht nur Emmanuel Macron, der die Reform schon in seinem Wahlkampf als „Mutter aller Reformen“ angekündigt hatte und auch dafür gewählt wurde. Knapp der drei Viertel der Franzosen erklären auch weiterhin stabil in allen Umfragen, sie wollten eine Rentenreform und eine Vereinheitlichung. Aber sie misstrauen der Regierung.

Und das hat Gründe, auch wenn man absieht von der französischen Tradition des Misstrauens gegenüber dem Staat.

Erstens betrifft die Reform alle Franzosen gleichermaßen und weder Präsident Macron noch die Regierung haben es vermocht, der Öffentlichkeit zu erklären, dass die geplante Reform der égalité dient, der Gleichwertigkeit der Bedingungen. Zur Wahrheit gehört, dass sie es nicht einmal ernsthaft versucht hat. Ein kapitaler Fehler.

Zweitens hat der konservative Premier Philippe ohne jede Not, die inhaltliche Reform mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters verknüpft. Auch das ein fataler Fehler. Er hat das mit Transparenz begründet, denn die Reform müsse finanziert werden. Das mag zwar honorig sein – aber vor allem falsch. Da die Reform schrittweise eingeführt und erst im Jahr 2037 (!) vollständig greifen soll, besteht gar kein Grund, jetzt zeitgleich mit der Vereinheitlichung der System auch das Renteneintrittsalter zu verändern.

Ja, das  französische System ist viel zu teuer und muss Jahr für Jahr mit Milliarden Euro gestützt werden – aber das ist auch jetzt schon so. Ja, die Franzosen arbeiten weniger als fast alle anderen Europäer und beziehen dabei höhere Renten – aber auch das ist jetzt schon so. Es gibt keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen den beiden Zielen. Nur das jetzt eine Mehrheit der Franzosen glaubt, Hauptziele der Reform seien eben die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Absenkung des Rentenniveaus. Und an dem Versuch sind bereits mehrere Regierungen in Paris krachend gescheitert, zuletzt Jacques Chirac im Jahr 1995.

Drittens streiken vor allem die Staatsbediensteten: Eisenbahner, Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe und des Stromversorgers EDF, Fluglotsen und Juristen; also die, die von den sowieso im europäischen Vergleich hohen französischen Renten die besten bekommen. Hier werden vor allem Privilegien verteidigt: Lokführer der SNCF und der RATP können sich mit 52 Jahren und einer Nettorente von 2.600 Euro in den Ruhestand verabschieden. Für eine Verkäuferin, einen Friseur oder eine Putzfrau ebenso unerreichbar, wie für das Gros der Bauern im Land. Gemeinsam haben sie nur das Misstrauen gegen die/jede Regierung.

Mitgliederschwund bei der Gewerkschaft

Die angedachte Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre ist übrigens vom Tisch. Aber längst hat die ehedem kommunistische und mächtige Gewerkschaft cgt das Ziel ausgegeben, die Reform insgesamt zu kippen - Wenn möglich gleich den Präsidenten des Großkapitals dazu. Und auch das hat Gründe. Die cgt verliert seit Jahren Mitglieder; Der Organisationsgrad liegt unter 10 Prozent; Die cgt ist nur noch die Nummer zwei hinter der gemäßigt-sozialdemokratischen CFDT.

All das will Gewerkschaftsboss Philippe Martinez nun in der Auseinandersetzung mit dem Präsidenten drehen. Und das macht er geschickt. Zwar ist die cgt nur bei den Lokführern (und zum Teil in den Häfen) noch stark. Aber die können das ganze Land lahmlegen. Und das verkauft Martinez öffentlichkeitswirksam als Kampf „Wir hier unten, gegen die da oben“. Und er hat Erfolg damit. Nach den letzten Umfragen denkt eine Mehrheit der Franzosen, der Streik sei gerechtfertigt.

Von Gerhard Schröder lernen

Nicht nur für Martinez hängt viel am Kampf gegen diese Reform – auch und erst Recht für Präsident Macron. Setzt er sie durch, stärkt er sein Image als Macher und Modernisierer, ähnlich wie einst Gerhard Schröder. An dessen Beispiel müsste er allerdings auch lernen. Vereinheitlichung, gleiche Regeln für Alle und Schaffung von Anreizen sind gut.

Aber es hilft gar Nichts, den Menschen unnötige soziale Härten um eines Prinzips willen zuzumuten. Noch weniger hilfreich ist es, derart davon überzeugt zu sein, Recht zu haben, dass man es unterlässt, den Sinn und Zweck von Reformen nachvollziehbar zu erklären. Würde Macron andersherum gezwungen, die Reform zurückzuziehen, dann wäre – auch das ähnlich zu Schröder – seine Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit für den Rest der Amtszeit dahin.

Anzeige