Der Iran nach der Wahl - Das Schweigen der Mehrheit

Bei den jüngsten Wahlen im Iran haben die Hardliner gewonnen. Eine Mehrheit der Bevölkerung indes ist erst gar nicht mehr an die Urnen gegangen. Wohin steuert der Iran unter dem ultrakonservativen Ebrahim Raisi?

Der neu gewählte iranische Präsident Ebrahim Raisi / dpa
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Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Mit der Wahl von Ebrahim Raisi zum achten Präsidenten des Irans seit dem Sturz von Mohammad Reza Schah im Jahr 1979 beginnt ein neues Kapitel in der Politik der Islamischen Republik. Der Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei arbeitet ernsthaft daran, die Grundlagen des politischen Systems zu stärken und das Amt des Obersten Führers zu institutionalisieren. Er glaubt, dass der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und der Aufstieg Chinas in Kombination mit einem neuen Atomabkommen mit den Großmächten Irans Ambitionen erfüllen würden, die führende Regionalmacht zu werden. 

Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen in der vergangenen Woche lag bei etwa 49 Prozent, in Teheran waren es sogar weniger als 26 Prozent. Das ist die niedrigste Beteiligung bei den 13 Wahlen im Iran seit der Revolution von 1979. Im Gegensatz zu den 85 Prozent Wahlbeteiligung bei den Wahlen 2009 und 73 Prozent bei den Wahlen 2017 zeigt die niedrige Wahlbeteiligung 2021 die Enttäuschung der Wähler über die Fähigkeit der Reformisten, sinnvolle politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu bewirken, sowie ihre Erkenntnis, dass sie nicht in der Lage sind, die Hegemonie der Konservativen herauszufordern. 

Proteste nach der Wahl 2009

Im Jahr 2009 ging das iranische Volk in großer Zahl auf die Straße, weil es glaubte, dass der reformistische Politiker Mir-Hossein Mousavi die Wahl gegen den ultrakonservativen Amtsinhaber Mahmoud Ahmadinejad leicht gewinnen würde. Doch Chamenei, der nicht daran glaubte, dass es bei der Islamischen Revolution um das Auszählen von Stimmzetteln geht, manipulierte die Abstimmung, um den Sieg seines Kandidaten zu sichern, und löste damit massive Proteste aus, die von den paramilitärischen Basidsch-Truppen rücksichtslos niedergeschlagen wurden.

Bei der Wahl im Jahr 2017 war Raisi der bevorzugte Kandidat von Chamenei. Doch die Popularität des amtierenden Präsidenten Hassan Rouhani und sein Versprechen auf bessere Zeiten, insbesondere nachdem er 2015 erfolgreich das Atomabkommen ausgehandelt hatte, besiegelten Raisis Schicksal. Er erhielt nur 38 Prozent der Stimmen, hinter den 57 Prozent von Rouhani

Sicher in seiner Position und widerwillig, den Volksaufstand von 2009 zu wiederholen, griff Khamenei nicht ein. Die folgenden vier Jahre der Präsidentschaft von Rouhani untergruben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der Reformer, ebenso ihre Hoffnungen auf weitreichende Reformen und eine Neudefinition ihrer Beziehung zur herrschenden Elite. Zuerst kam die Wirtschaftskrise, die den Iran Anfang 2018 heimsuchte, einschließlich massiver Proteste wegen der galoppierenden Inflation. Dann kam im vergangenen Jahr der versehentliche Abschuss eines ukrainischen Flugzeugs, bei dem 176 überwiegend iranische Passagiere ums Leben kamen. 

Das Vertrauen Khameneis

Der Gnadenstoß bestand dann darin, dass die Reformisten es versäumten, einen offiziellen Kandidaten zu präsentieren, der Raisi herausfordern sollte. Aber sie hätten ohnehin verloren.

 Raisi wurde 2019 von den USA wegen Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt, unter anderem wegen seiner Rolle im Teheraner Todeskomitee von 1988, das Tausende von politischen Gefangenen nach Ablauf ihrer Haftzeit zum Tode verurteilte, sowie wegen vieler anderer außergerichtlicher Tötungen über vier Jahrzehnte hinweg. Dennoch hat er nicht nur Berühmtheit erlangt, sondern auch das volle Vertrauen von Khamenei, der Raisi 2019 an die Spitze der iranischen Justiz berief. 

Der zwölfköpfige Wächterrat, der vom Obersten Führer und dem Chef der Justiz handverlesen wird, bestimmte effektiv das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen zu Gunsten von Raisi, als er 592 von 599 Kandidaten disqualifizierte. Khamenei war darauf bedacht, andere mächtige konservative Kandidaten auszuschließen, nämlich den ehemaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und den ehemaligen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani, um Raisis Sieg mit einfacher Mehrheit in der ersten Runde sicherzustellen. 

Der Nachfolger Khomeinis

Dem 82-jährigen Khamenei war es sehr wichtig, dass Raisi, sein treuer Schüler und ein wahrer Anhänger der Prinzipien der Islamischen Revolution des Irans, Präsident wurde, damit Khamenei ihn für die Position des Obersten Führers heranbilden konnte. Khamenei war Irans Präsident, als der Oberste Führer Ayatollah Ruholla Khomeini 1989 starb, und die 88-köpfige Versammlung der Experten wählte ihn sofort zu Khomeinis Nachfolger. 

Mit der Wahl von Raisi haben die Konservativen ihre Kontrolle über die drei formellen Regierungszweige gesichert. Raisis Wahl bedeutet auch, dass Irans regierende Konservative in Zukunft keine abweichenden Standpunkte zu grundlegenden Fragen des Staates dulden werden, insbesondere wenn es um die Formulierung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Politik geht. 

Raisi steht vor der wenig beneidenswerten Aufgabe, das Vertrauen der Wähler in das politische System wiederherzustellen und die Beschwerden der Öffentlichkeit über die sich verschlechternde Lebensqualität aufzulösen. Er muss sofort die Herausforderung der schwächelnden iranischen Wirtschaft angehen, die durch US-Sanktionen, niedrige Ölpreise, Covid-19 und durch allgegenwärtige Korruption verschlimmert wird. In den vergangenen zwei Jahren, die er als oberster Justizchef verbrachte, hat er hohe Beamte wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten vor Gericht gestellt und verurteilt. Dazu gehörte auch der Bruder von Rouhani, der wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Annahme von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. 

Große Versprechungen

Raisi versprach, dass er als Präsident jedes Jahr vier Millionen Wohneinheiten bauen und eine Million Arbeitsplätze schaffen werde. Außerdem verpflichtete er die Regierung, jährlich 700.000 Eheschließungen zu unterstützen. Er sagte, er werde Pläne zur Bekämpfung des Schmuggels und zur Förderung der Diversifizierung der iranischen Nicht-Öl-Exporte aufstellen. 

Im Jahr 2017 verkündete Raisi, dass er im Falle seiner Wahl den iranisch-arabischen Beziehungen mehr Aufmerksamkeit schenken würde, vorausgesetzt, dass die Völker von Jemen, Syrien und Irak ihr Schicksal ohne ausländische Intervention selbst bestimmen. Er wiederholte dieselben Aussagen während und nach seiner Wahlkandidatur. Angesichts der Tatsache, dass der Iran bereits erheblichen Einfluss in diesen Ländern ausübt, bedeutet deren Selbstbestimmung in Raisis Worten die Fortführung der Rolle Teherans bei der Kontrolle ihrer Politik. 

Die Verbreitung der Revolution

Raisis Äußerungen zur arabischen Politik erinnern an Khomeinis Arabienpolitik von 1979, die sich darauf konzentrierte, Irans islamische Revolution in der gesamten arabischen Region zu verbreiten und seinen regionalen Imperialismus effektiv zu fördern, selbst wenn damit langwierige Konflikte von niedriger Intensität ausgelöst würden. Als Raisi vor vier Monaten nach Bagdad reiste, legte er Wert darauf, den Ort zu besuchen, an dem Qassem Soleimani letztes Jahr bei einem US-Drohnenangriff getötet wurde, um die Entschlossenheit des Irans zu signalisieren, Khomeinis Regionalpolitik fortzusetzen.

Insgesamt bedeutet die Wahl Raisis die Fortsetzung einer langjährigen konservativen Politik: innenpolitisch, um die Macht zu konsolidieren und die Opposition zum Schweigen zu bringen, und regional, um auf Irans Errungenschaften der letzten vier Jahrzehnte aufzubauen und das Vakuum zu füllen, das durch die Entscheidung der USA, sich aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, entstanden ist. 

Im vergangenen Februar hielt Khamenei eine Rede an die Nation, in der er seine Vision für die Entwicklung des Irans im nächsten Vierteljahrhundert skizzierte. Er sprach von einer Wiederbelebung der islamischen Revolution unter der alleinigen Führung junger religiöser Revolutionäre und deutete damit an, dass die Tage des Entgegenkommens der Reformisten vorbei sind. Khamenei beabsichtigt, die Jugend und die verschiedenen Schattierungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die wegen der schwachen Leistung der Reformer unzufrieden sind, zu mobilisieren, um sich hinter Raisi zu versammeln, der weitreichende bürokratische Reformen und wirtschaftliche Anreize versprach. 

Die Nachfolger

Khamenei ist besorgt wegen der Unruhe in der Gesellschaft, die durch die unzureichende Leistung der Regierung und die wirtschaftliche Stagnation während des letzten Jahrzehnts entstanden ist. Was für ihn am wichtigsten zu sein scheint, ist die Institutionalisierung des Amtes des Obersten Führers und die Beständigkeit der theokratischen Ideale der Islamischen Revolution im Iran. 

Die beiden wahrscheinlichen Anwärter auf die Nachfolge sind zum einen Khameneis Sohn Mojtaba sowie zum anderen Raisi selbst. Diese beiden mächtigen Männer genießen die Unterstützung des Korps der Islamischen Revolutionsgarden, einschließlich der Basij (wörtlich: „Organisation zur Mobilisierung der Unterdrückten“), die das Hauptmittel zur Unterdrückung von Dissidenten und zur Sicherstellung der Konformität mit der Staatsideologie ist. Obwohl Mojtabas Chancen real sind, scheint es wahrscheinlicher, dass Raisi die Nachfolge Khameneis antreten wird, da er über ausgeprägte theologische Qualifikationen verfügt, seine Fähigkeiten zur Repression unter Beweis gestellt hat und sich verpflichtet fühlt, das Ziel der ersten beiden Obersten Führer, den Iran zu einer Weltmacht zu machen, weiter zu verfolgen. 

Khamenei ist sehr daran interessiert, den Atomstreit mit den USA zu lösen und ein neues Abkommen mit der Biden-Administration zu schließen, die dieses Thema gerne hinter sich lassen und ihre Aufmerksamkeit auf den Pazifik und die entstehende chinesisch-russische Allianz richten möchte. Er ist jedoch nicht daran interessiert, sich von Washington vereinnahmen zu lassen, weil er glaubt, dass die USA die größte Bedrohung für das Überleben der Islamischen Revolution im Iran darstellen. 

Ein Bündnis mit Peking

Khamenei ist davon überzeugt, dass die Zukunft des Irans in einem Bündnis mit China und Russland liegt. Er glaubt, dass die Modernisierung seines Landes nicht von der Verbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern abhängt. Stattdessen weist das kürzlich geschlossene 25-jährige strategische Abkommen mit China in die Richtung, in der sich der Iran sieht. Das Abkommen schafft die Voraussetzungen für chinesische Investitionen im Iran in Höhe von 400 Milliarden Dollar in den nächsten 25 Jahren und leitet die Zusammenarbeit in Dutzenden von Wirtschaftssektoren ein: Bankwesen, Kommunikation, Häfen, Eisenbahn, medizinische Versorgung und Informationstechnologie, neben vielen anderen. Und zwar im Austausch für regelmäßige und stetige Öllieferungen zu reduzierten Preisen. 

Das Abkommen sieht auch eine enge militärische Zusammenarbeit vor. Die iranische Führung glaubt, dass China die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit ihnen braucht, um seine interkontinentale „Belt and Road“-Initiative zu vervollkommnen. Sie scheinen davon überzeugt zu sein, dass sich das internationale Kräfteverhältnis in einem größeren Wettbewerb zwischen den großen Ländern verändert und dass dies dem Iran zugute kommen würde, da Russland und China darauf abzielen, den Einfluss des US-Dollars auf den internationalen Handel und die Finanzen zu lockern. 

Aber verstärkte Aktivitäten mit der Außenwelt, vor allem mit dem Osten, bedeuten aus der Sicht von Khamenei keine wirtschaftliche Liberalisierung, zumal er auch gegen eine Lockerung der sozialen Beschränkungen oder einen Übergang des politischen Systems zur Mehrheitsherrschaft ist.

Der Weg in die Theokratie

Im Jahr 1905 rebellierten die Iraner gegen den Qajar-Herrscher Mozaffar ad-Din Shah, um ein Parlament einzuführen und eine konstitutionelle Monarchie zu errichten. Doch die anglo-russische Intervention vereitelte ihr Ziel und ebnete schließlich den Weg für Reza Khan, der 1925 die Pahlavi-Dynastie gründete und eine neue Ära autoritärer Herrschaft einleitete. Der Zweite Weltkrieg und die britische Besetzung des Südwestens des Irans im Jahr 1941 legten den Grundstein für den Beginn der demokratischen Periode, die 1952 in der demokratischen Wahl von Mohammad Mosaddegh zum Premierminister gipfelte. 

Die US-geführte Operation Ajax im Jahr 1953 stürzte ihn jedoch und setzte die Herrschaft von Mohammad Reza Shah wieder durch. Im Jahr 1978 startete das iranische Volk erneut eine Revolution, um eine säkulare Demokratie zu errichten, aber 1979 wurde sie von Ayatollah Khomeini gekapert und eine Theokratie installiert. 

Khamenei versucht, Khomeinis Staat zu vertiefen und auszuweiten. Allerdings werden seine Bemühungen den Beginn eines unvermeidlichen landesweiten Aufstandes nur hinausschieben. Die meisten Iraner haben grundsätzliche Probleme mit einer anachronistischen Regierungsform, die mehr materielle Ressourcen für ausländische Abenteuer bereitstellt als für das Wohlergehen des Volkes.

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