Föderalismus in der Krise? - Aus Mangel an Verantwortung

In der aktuellen „Cicero“-Ausgabe macht der frühere Finanzminister Mathias Brodkorb den deutschen Föderalismus für viele Fehler in der Corona-Krise verantwortlich. Aus Sicht des Publizisten Stefan Dietrich sind dagegen nicht Strukturen das Problem, sondern die handelnden Politiker.

Ist der Föderalismus ein Auslaufmodell? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Stefan Dietrich leitete bis 2011 das Ressort Innenpolitik bei der FAZ und lebt heute als Publizist in Celle

So erreichen Sie Stefan Dietrich:

Anzeige

Leben wir in einer Schönwetterdemokratie? In der aktuellen Ausgabe von Cicero attestiert Mathias Brodkorb Bund und Ländern multiples Staatsversagen in der Corona-Krise („Die gefesselte Republik“). Das tun gerade viele.

Brodkorbs Analyse unterscheidet sich von anderen dadurch, dass er den Föderalismus als Grundübel ins Visier nimmt. Weil „die politische Klasse der Länder aus Gründen des eigenen Bedeutungserhalts“ dem Föderalismus als „heiliger Kuh“ huldige, gehe es nicht voran mit der Pandemiebewältigung. Und während sich der Großteil der Bevölkerung ein Ei auf den Föderalismus pelle, erfreuten sich diese Landespolitiker „größter Unterstützung von Intellektuellenkreisen“.

Brodkorb hat 2019 aus freien Stücken sein Ministeramt und sein Abgeordnetenmandat niedergelegt. Respekt – das trauen sich die wenigsten, die so weit gekommen sind! Im vergangenen Jahr hat er eine Streitschrift gegen den Bildungsföderalismus vorgelegt, jetzt rechnet er mit dem föderalen System insgesamt ab. Erst ganz zum Schluss lesen wir: „Auch zentralstaatliche Steuerungsinstrumente verbürgen nicht per se gelingendes Staatshandeln.“ Es komme viel mehr auf die Menschen an als auf Strukturen. Warum greift er die Struktur an, wenn er die Menschen meint?

Es fehlt die Führungskraft

Tatsächlich ist seine Chronik des Versagens in der zweiten Corona-Welle über weite Strecken eine Aufzählung individueller Fehlleistungen: Ministerpräsidenten, die noch im Moment der Katastrophe eigensinnig auf ihre Zuständigkeiten pochen, gemeinsam gefasste Beschlüsse sofort über den Haufen werfen und bürokratischen Murks abliefern, wenn Handlungsfähigkeit gefordert ist. Zum Beweis, dass es auch auf anderen Ebenen an Führungskraft fehlt, bekommen natürlich auch der Bund und die EU mit ihren schwerfälligen Abstimmungsprozessen ihr Fett weg. 

Das alles lässt sich nicht bestreiten, weil es jeder mitbekommen hat. Wenn man genau hinsieht, ist es aber gerade der Föderalismus, der von allen guten Geistern verlassen ist. Dieselben Landespolitiker, die stets nach dem Bund rufen, wenn irgendwo Mangel herrscht, trumpfen ausgerechnet inmitten einer Pandemie mit ihren Zuständigkeiten auf. Noch 2016 haben diese angeblichen Hüter der „heiligen Kühe“ für schlappe zehn Milliarden Euro pro Jahr die Reste ihrer Finanzautonomie an den Bund abgetreten. 

Der letzte Versuch, das Kompetenzgeflecht von Bund und Ländern zu entwirren, fand 2006 statt. Seither fährt der Geleitzug kontinuierlich in die Gegenrichtung. Hans-Günther Henneke vom Deutschen Landkreistag sieht die Länder auf dem Weg, sich selbst zu Provinzen zu verzwergen, „die von sich aus nicht in der Lage sind, ohne paternalistische Hilfe des Bundes ihre ureigensten Aufgaben zu gestalten, zu erfüllen und zu finanzieren“. Nicht der Föderalismus ist das Problem, sondern das Fehlen von Landespolitikern, die bereit sind, Verantwortung für ihr Handeln zu tragen und für einen lebendigen Föderalismus zu kämpfen.

Der Föderalismus hat Stärken

Der hat nämlich durchaus Stärken. Sie werden aber hauptsächlich von außen wahrgenommen. Von Ländern, die ihn nicht haben, wie zum Beispiel Frankreich. Ökonomisch ist er im Vorteil, weil er bei wichtigen Investitionsentscheidungen das Wissen der unteren staatlichen Ebenen nutzen kann; politisch nicht weniger, weil er bessere demokratische Teilhabe ermöglicht. Ministerpräsidenten aber, die ihr Hauptaugenmerk auf Geldbeschaffung für ihre Länder in Berlin richten und sich damit bundespolitisch zu profilieren trachten, tragen den Föderalismus zu Grabe.

Immerhin könnte man auch noch darauf hinweisen, dass dieser so schwerfällige Bundesstaat in der Krise durchaus flexibel reagiert hat. Statt den Dienstweg über den Bundesrat zu wählen, hat die Bundeskanzlerin die Überholspur genommen und Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie in die Ministerpräsidentenkonferenz verlagert – ein Gremium, das die Verfassung gar nicht kennt. Wenn sich die Teilnehmer dieser Konferenz anschließend nicht mehr an ihre eigenen Beschlüsse halten, spricht das nicht gegen die bestehende Ordnung, sondern nur gegen die Verlässlichkeit von Politikern. Darüber sollten zu gegebener Zeit die Wähler urteilen.
 

Anzeige