Gemeinsamer Aufruf - Ein verräterischer Satz

In einem Aufruf, den unter anderen Angela Merkel, Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen mit verfasst haben, wird Ungleichheit als Bedrohung für die Demokratie gegeißelt. Das ist nichts anderes als ein Angriff auf die liberale Gesellschaft.

Kämpfer gegen Ungleichheit: Angela Merkel, Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen / dpa
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Autoreninfo

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz und Mitglied der CDU. Der 52-Jährige ist Vordenker eines modernen Konservatismus und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. 2019 erschien von ihm „Konservativ 21.0“ (C. H. Beck) (Foto: dpa)

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„Ungleichheiten sind eine Bedrohung für die Demokratie, weil sie den sozialen Zusammenhalt untergraben.“ Woher könnte dieser Satz stammen? Aus der Programmkommission der Linken? Vielleicht – aber wenn, dann vom linken Flügel, denn Bodo Ramelow ist für einen solchen Satz zu bürgerlich. Oder von Mao Tse-Tung, obwohl er zusammen mit seiner Frau während der chinesischen Kulturrevolution Hollywoodfilme schaute, die allen andern Chinesen streng untersagt waren?

Falsch. Der Satz stammt aus einem gemeinsamen Aufruf, den der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel sowie Macky Sall, der Präsident Senegals, Anfang Februar 2021 veröffentlichten.

Der Satz versteckt sich mitten im Text. Genau besehen ist er nichts anderes als ein Angriff auf die liberale Demokratie und die Wettbewerbsgesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft beruht auf dem Ideal gleicher Voraussetzungen und Chancen. Sie werden von den einzelnen Menschen qua unterschiedlichen Leistungsvermögens und freier Entscheidung unterschiedlich genutzt. Die eine wird vielleicht Lehrerin, der andere Busfahrer, ein weiterer Unternehmer, wieder eine andere hauptberufliche Mutter oder Schauspielerin.

Ungleichheit als Grundlage von Pluralität

Ungleichheit ist die Grundlage einer pluralistischen Gesellschaft. Die politische Frage kann und muss immer nur sein: Worin liegt sie begründet? Geht Ungleichheit der Ergebnisse aus einem hinreichend großen Maß an gleichen Chancen hervor? (Vollständige Chancengleichheit gibt es nicht einmal in totalitären Systemen und gab es nicht einmal im antiken Sparta.) Oder beruht sie auf einem so großen Maß an Ungleichheit in den Voraussetzungen, dass es als problematisch und regulierungsbedürftig angesehen wird? Möglichst gleiche Chancen herzustellen, ist und bleibt eine politische Daueraufgabe. Hinzu kommt ein funktionales Argument: Wenn soziale Ungleichheit ein zu großes Ausmaß annimmt, dann kann sie tatsächlich „den sozialen Zusammenhalt untergraben“.

Man kann dem Text der hochmögenden Damen und Herren zugutehalten, dass genau dies gemeint war. Es steht aber nicht da. Vielmehr werden „Ungleichheiten“ an sich pauschal als „Bedrohung für die Demokratie“ deklariert, ohne dass sich Widerspruch erhebt. Das ist das Ergebnis einer Begriffsverwirrung, die den Begriff der „Gleichstellung“ an die Stelle von „Gleichberechtigung“ gesetzt hat. Letzterers ist (oder war) ein bürgerlich-liberales Konzept, ersteres ist ein staatsinterventionistisch-egalitäres, das letzten Endes auf eine neue Ständegesellschaft hinausläuft.

Wenn solche Sprach- und Sachverwirrung nicht einmal mehr bemerkt wird, dann braucht sich Europa keine weiteren Gedanken über seine zukünftige Wettbewerbsfähigkeit mehr zu machen, und es sollte sich auch Ursula von der Leyens hochtrabende „once in a generation“- und „man in the moon“-Rhetorik sparen. Wer Ungleichheiten für eine Bedrohung hält, hat seine Innovationsfähigkeit aufgegeben. Nur: Das Geld des „Next Generation“-EU-Fonds kommt nicht aus der Steckdose. Nicht einmal mit dem Green Deal der Europäischen Union.

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