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Hitzlspergers Coming-Out - Der Fußball ist nicht homophob

Zwischen den Zeilen: Der Fußball gilt als chauvinistische Biotop, als letzter Raum zügelloser Schwulenfeindlichkeit, in dem Männer noch spucken, grätschen und Mann sein dürfen. Mit Verlaub: Was für ein Quatsch

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Es ist eine Nachricht, die eigentlich keine sein sollte. Ein ehemaliger Fußballprofi gibt öffentlich seine sexuelle Orientierung bekannt. Na und?, fragt sich der aufgeklärte Demokrat. Doch die mediale Resonanz ist enorm. Und auch an den Kaffeetheken, an Supermarktkassen, beim 1,99-Euro-Döner um die Ecke oder beim Spätkauf ist es das Thema.

Da witzelt ein Mann am Tresen im Café: „Demnächst gibt die erste Profifußballerin ihre Heterosexualität bekannt.“ Sein farbiger Nachbar kontert: „Ach übrigens, ich bin schwarz. So, das musste raus.“ Ein dritter will den eigentlichen Skandal in der Causa Hitzlsperger erkannt haben: „Weißt du“, spöttelt er, „das Problem ist doch nicht, dass er sich nun als homosexuell outet. Der eigentliche Skandal ist, dass der holzfüßige Hitzlsperger jahrelang in der Nationalmannschaft spielte, obwohl es auf seiner Position viel bessere gab. Und das nur, weil der Jogi die Schwaben bevorzugt. Das sollte mal thematisiert werden.“

Blüm und Co. zeigen: Toleranz ist noch eine Utopie


In der offensichtlich zur Schau gestellten Gleichgültigkeit auf den Straßen der Hauptstadt zeigt sich die wohl größte Annäherung an eine wünschenswerte Normalität, in der die sexuelle Ausrichtung eines Menschen tatsächlich keine Rolle spielt. Ein wunderbar wünschenswertes Schulterzucken.

Doch nach wie vor ist ein solches gesamtgesellschaftliches „Na und?“ eher Utopie denn Wirklichkeit. Es bleibt das anzustrebende Ideal, während die Realität immer noch viel zu viele „Aber“ bereit hält.

Solange, wie in Baden Württemberg geschehen, mehrere zehntausend Bürger mittels Petition verhindern wollen, dass Homosexualität im Unterricht behandelt wird. Solange Norbert Blüm in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärt, warum homosexuelle Paare keine Familie sind, solange ist es eben doch ein Thema. Blüms unverblümte Begründung: Weil Ehe und Familie (gemeint sind Mann + Frau + Kind) einmalig seien und „ein kostbares Kulturprodukt, das unserer Natur entspricht“. Heißt dann wohl im Umkehrschluss, dass Homosexualität widernatürlich ist. Auch möchte man sich vorstellen, wie Norbert Blüm seiner Familienlogik entsprechend einem unfreiwillig kinderlosen, heterosexuellen Paar erklärt, warum sie keine Familie sein kann. So ganz ohne Nachwuchsnachweis.

Solange uns also die Blüms dieser Welt erklären, was Familie ist, und solange in der Blüm’schen Arithmetik 2 x Penis oder Vagina ein Familienleben unmöglich machen, solange braucht diese Republik viele kleine Hitzlspergers. Leider.

Homophobie ist ein gesamtgesellschaftliches Thema


Insofern ist es ein Thema mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Und schon sind wir beim entscheidenden Punkt. All jene, die daraus nun ein spezifisches Fußballproblem machen, erweisen der eigentlichen Herausforderung einen Bärendienst. Auf sämtlichen Kanälen hören wir nun die fußballfremden Soziologen über das rückwärtsgewandte System Fußball schimpfen. Über dieses chauvinistische Biotop, dieser letzte Raum zügelloser Schwulenfeindlichkeit, in dem Männer noch spucken, grätschen und Mann sein dürfen. Mit Verlaub: Was für ein Quatsch.

Wer so spricht, hat mit Werner Lorant den Fußball verlassen.

Endlich hat einer ausgepackt, sagen die Diskriminierungsexperten. Endlich nun müssten doch die Dämme in dieser homophoben Männerwelt Fußball brechen. Nachdem so viele Jahre geschwiegen wurde. Wo seid ihr, rufen sie. Zeigt euch, fordern sie. Wir befreien euch, röhren sie und ziehen gar nicht in Betracht, dass da vielleicht kaum einer ist, der befreit werden will. Als wollten sie jeden einzelnen zum Coming Out tragen. Woher diese Gier nach der Bestätigung der eigenen Vorurteile?

Die Realität ist eine andere: Spätestens mit David Beckham hat endgültig so etwas wie Androgynität im Fußball Einzug gehalten. Die Testosteron versprühende Drecksau ist längst vom Aussterben bedroht. Die Blutgrätsche hat längst ausgedient. Die katalanische Ballkunst hat den Fußball feminisiert. Kleine, schüchtern agierende Edeltechniker prägen das heutige Spiel. Schmuck tragende, sonnenbankgebräunte Typen wie Christiano Ronaldo vermarkten sich rund um den Globus.

Aus Hobschs wurden Hunts, aus baumstarken Augenthalers listige Lahms. Der kantige, Trainingsanzug tragende Holländer wurde längst durch den Trainertypus Pep ersetzt, der seinen Jungs im italienischen Maßanzug geschmeidig und gecremt die Schönheit des Spiels erklärt. Modebewusste Weicheier, um im Ressentiment zu bleiben.

Kurzum: Fußball ist kein per se homophober Raum. Die Reaktionen auf das Coming-Out Hitzlspergers aus der Fußballszene zeigen das. Lob und Zuspruch kommen aus allen Richtungen - von Poldi bis zum DFB-Präsidenten.

Der Fußball ist homophil - auch weil er sich Diskriminierung nicht leisten kann


Versuchen wir also einmal eine Gegenthese: Fußball ist das vielleicht homophilste Milieu überhaupt. Voller eitler, sich ständig stylender Metros, schwitzender haarbefreiter Männerkörper, die sich in den Armen liegen, sich nach Toren betatschen und küssen. Gemeinsam, verschworen, feiernd, leidend, träumend. Ist es vielleicht denkbar, dass gerade, weil im Fußball (Homo)Sexualität nicht thematisiert wird, sich ein Raum totaler Asexualität herausbilden konnte?

Das wäre zumindest logisch und im Sinne des Systems Fußball, das sich eine Diskriminierung jenseits des Leistungsprinzips schlichtweg nicht leisten kann. Eben weil der Profifußball anders funktioniert. Er ist durch und durch meritokratisch organisiert. Ein System also, in dem allein die Leistung zählt.

Bereits vor einigen Jahren haben Forschungen in Krisengebieten gezeigt, dass Kinder verfeindeter Gruppen beim gemeinsamen Fußballspiel ihre Mitspieler ausschließlich nach der Fähigkeit, Fußball spielen zu können, rekrutieren. Religion und Nationalität spielten kaum eine Rolle.

Der Mikrokosmos Fußball als Brennglas der Gesellschaft


Im System Fußball ist eine Diskriminierung nach Geschlecht, Sexualität oder Nationalität schlichtweg nicht angelegt. Heißt: Schießt der Stürmer Tore, ist es dem Fan egal, ob er schwarz oder schwul ist.

Natürlich: Rassistische und homophobe Entgleisungen sind auch im Stadion zu hören. Das ist einem gesamtgesellschaftlichen Problem geschuldet, das im Mikrokosmos Fußball wie unter einem Brennglas zu Tage tritt. Es ist aber kein originäres Problem des Fußballs, wie uns jetzt immer wieder mit Sätzen wie „Der Fußball sei nun endlich auf dem Weg zur Normalität“ weiß gemacht werden soll.

Fußball ist und war nie normal. Gott sei Dank! Denn sonst müsste ich mir als Autor dieser Zeilen nach einem Knieschaden Sorge um meine Existenz machen oder mir vom Boulevard nach jedem Artikel ein Arbeitzeugnis ausstellen lassen.

Eines ist der Profifußball also ganz sicher: ein gnadenloses System. Brutal leistungsorientiert. Grundsätzlich homophob aber ist er nicht.

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