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Der Papst tritt zurück - Er geht leise und ohne auf Applaus zu schielen

Unkonventionell, glaubensstark, rätselhaft: Joseph Ratzinger bleibt sich treu bis zuletzt. Nie war er ein stärkerer Zeitgenosse der Moderne als im Augenblick seines angekündigten Rücktritts

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Nun, da das Feld bestellt ist, macht sich der Sämann vom Acker: Vermutlich muss man zu biblischen Bildern greifen, um den angekündigten Rücktritt Papst Benedikts XVI. in seiner Bedeutung zu ermessen. Als der noch amtierende Papst im Herbst 2010 neuen Kardinälen Ring und Pallium überreichte, predigte er über die Königswürde Christi, die darin bestehe, dass er „am Kreuz geblieben ist.“ Deshalb sei „der wahre Ort des Stellvertreters Christi das Kreuz, das Verharren im Gehorsam des Kreuzes.“ Nun hat Joseph Ratzinger sich entschlossen, das Kreuz des Papstamtes abzulegen. Die „Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes“, sagt er, hätten „in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen.“

Abermals schreibt Benedikt Geschichte und streicht das Bild durch, das eine anfangs faszinierte, in den letzten Jahren zunehmend desinteressierte Öffentlichkeit sich von ihm gemacht hat. So wenig das Bild vom „Panzerkardinal“ der Wahrheit entsprach, so wenig stimmt es, dass mit ihm die Vormoderne auf den Thron gelangte. Vielmehr war Benedikt XVI. einer der letzten Dialektiker der Aufklärung. Er wollte deren Errungenschaften vor dem Abdriften ins Irrationale bewahren. Hat nicht in der Tat die Anbetung von Geld und Macht, von Technik und Ökonomie, die wir für zeitgemäß halten, längst Züge einer Pseudoreligion angenommen? Benedikts Demission kann darum auch so gelesen werden: als selbstbestimmte Tat, als mündiger Schritt trotz aller Fallstricke von Tradition und Kirchenrecht. An keinem Tag war Joseph Ratzinger ein stärkerer Zeitgenosse der Moderne als an jenem 11. Februar 2013, da er seinen Rücktritt ankündigte.

Für Privatsekretär Georg Gänswein, den Benedikt unlängst zum Erzbischof ernannte, ist die Mischung aus Milde und Beharrlichkeit das unterscheidend Benediktinische. Er selbst, der Mensch, der bald wieder Joseph Ratzinger heißen wird, verstand sich als erster Beter seiner Kirche – und bat so häufig wie vielleicht kein Papst vor ihm um das Gebet. In der Messe zur Amtseinführung am 24. April 2005 appellierte er, „betet für mich, dass ich nicht furchtsam vor den Wölfen fliehe.“ Vor einem Jahr, ebenfalls in einer Ansprache im Konsistorium, arbeitete er, wie so oft, Gegensatzpaare heraus, „Herrschaft und Dienst, Egoismus und Altruismus, Besitz und Gabe, Interesse und Unentgeltlichkeit“, und rief die neuen Kardinäle dazu auf, in all diesen Fällen die Option Christi zu wählen. Leise setzte er hinzu: „Und betet auch für mich, dass ich dem Volk Gottes immer das Zeugnis der sicheren Lehre geben und mit milder Festigkeit das Steuer der heiligen Kirche führen kann.“ Nun ist er zu der Überzeugung gelangt, ebendiese Festigkeit nicht mehr aufbringen zu können. Er sieht sich am Ende seiner Kräfte.

Joseph Ratzinger hat aus nächster Nähe das Siechtum seines Vorgängers miterlebt. Das „Lehramt des Leidens“ war der vielleicht überzeugendste Beitrag Johannes Pauls II. zur Spiritualität des 20. Jahrhunderts. Höchster Respekt schlug dem moribunden Pontifex entgegen. Andererseits waren die Kameras unbarmherzig auf den polnischen Papst gerichtet, wurden die Zeichen des Verfalls akribisch notiert. Und je länger die Agonie dauerte, desto höher wuchs der Stapel der unerledigten Arbeiten im Staatssekretariat. Womöglich wollte Benedikt dieses Schicksal sich und seinem Nachfolger nicht zumuten. Am 23. März 2012, beim Aufbruch zur Reise nach Mexiko, hat er zum ersten Mal in der Öffentlichkeit einen Gehstock benutzt. Benedikt im Rollstuhl wird es nun nicht geben.

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Immer wieder hat er zudem den letzten Sinn seines Pontifikats darin gesehen, die Impulse Johannes Pauls II. aufzugreifen, die Fundamente des Glaubens neu zu befestigen, vor allem im Westen. Das von ihm ausgerufene und noch bis Oktober andauernde „Jahr des Glaubens“ wird nun der Schlussstein dieser Bemühungen sein. Anlässlich von dessen Eröffnung sagte Benedikt im Oktober 2012, der Christ kenne „oft nicht einmal das Herzstück des eigenen christlichen Glaubens, das Credo (…). Heute ist die Gefahr, sozusagen eine selbstgemachte Religion zu konstruieren, nicht weit.“ Ein einziges großes Bildungsprogramm war, rückblickend betrachtet, dieses Pontifikat. Der Ertrag steht noch aus.

Bleiben werden gewiss die drei Enzykliken über die Liebe, die Hoffnung und die soziale Frage sowie die Botschaften der 24 Auslandsreisen. Den deutschen Katholiken schrieb er bekanntlich den Mut zu mehr Entweltlichung ins Stammbuch und wurde missverstanden. Die abermals dialektische Pointe nämlich lautete: Wer die Welt liebt, wer mit heißem Herzen ganz in ihr steht, darf nicht in ihr aufgehen. Der christliche Vorbehalt gegenüber allen innerweltlichen Erlösungsprogrammen war damit gemeint. „Die“, so Benedikt im September 2011 in Freiburg, „von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Die Kirche müsse „nach der totalen Redlichkeit suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht“ und dabei das vom Glauben „abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheiten sind.“

Ein Freund der Konvention ist Benedikt nie gewesen; wenn das Christentum Folklore ist oder Gewöhnung, ist es schon kein Christentum mehr. Ein unkonventionellerer Abgang als der nun annocierte ist denn auch nicht denkbar. Der Mann, der Benedikt XVI. gewesen sein wird, zieht sich laut eigener Aussage zurück in das „Leben im Gebet“. Wo aber wird das sein? Wird er als römischer Kartäuser der Welt ganz Lebewohl sagen? Kehrt er heim nach Bayern, unerkannt, ein zweiter Bruder Konrad von Altötting? Wie wird sich das Verhältnis zu seinem Nachfolger gestalten? Abermals hat Benedikt gezeigt, dass er kein Mann ist des Apparats, kein Traditionalist, kein Machtmensch. Er sieht die Zeit gekommen zu gehen. Und also geht er, leise und ohne auf Applaus zu schielen. Er zieht den Vorhang hinter sich zu und wird vom 28. Februar 2013 an wieder allein sein mit den Worten: Leiser kann ein Paukenschlag nicht sein.

Die letzte Reise führte Benedikt im September 2012 in den Libanon. Als „Pilger des Friedens, als Freund Gottes und als Freund der Menschen“ wurde er stürmisch begrüßt. Ein letztes Mal warb er an umkämpfter Stätte für den Frieden zwischen den Religionen, ja für eine „Erziehung zum Frieden, um eine Friedenskultur aufzubauen.“ Eine solche Erziehung sei kein Traumgespinst, denn „der menschliche Geist hat einen angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre. Das ist das Siegel des Göttlichen, die Spur Gottes in ihm!“ Auch das nämlich wird prägend gewesen sein für dieses bald endende Pontifikat: Es war zum vielleicht menschheitsgeschichtlich letztmöglichen Zeitpunkt der Versuch, im Menschen eine Schöpfung zu sehen, die der Schönheit genauso bedarf wie des Wassers und der Nahrung. „In Wirklichkeit“, sagte er im November 2010 in Barcelona, „ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

Vermutlich hat Joseph Ratzinger viel öfter, als wir dachten, von sich selbst gesprochen – wenn er das Kreuz in den Blick nahm und die Freiheit eines Christenmenschen, die Rechtfertigung und die letzten Dinge. Und ganz gewiss war er selbst mitgemeint, als er Ende Februar 2006 bekräftigte, was auch die Zentralgestalt seines theologischen Denkens, den Kirchenvater Augustinus, lebenslang umtrieb: „Der Mensch wird immer ein tiefes und unergründliches Rätsel bleiben.“ Joseph Ratzinger ist es bis zuletzt.

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