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() Berlin bei Nacht
Berlin ist eine Glücksritterstadt

Jede Metropole lebt von dem Nimbus, dass sie selbst dümpelnde Biografien beflügelt, sobald man sich dort ansiedelt – "if you can make it there, you can make it anywhere". Sibylle Berg hat sie sich angesehen, die Pilger aus der Provinz, die in der Hauptstadt ihr Glück suchen

Da gibt es doch kaum einen Grund, Berlin zu schätzen, als alternder Mensch. Es macht einen müde, den Eifer zu sehen, mit dem die Jungen glauben, genau ihr Dasein würde sich über alle anderen erheben, in dieser Stadt. Millionen im Ausnahmezustand. Die da geboren wurden, können das nicht ändern, die sind reich und wohnen am Wannsee oder mit Hartz IV im Wedding. Die in die Stadt ziehen, erwarten etwas. Billige Mieten, um endlich malen zu können, oder einen interessanten Beruf, etwas Kreatives in einer Firma, die "Communication Consult" heißt, ergattern, ohne Bezahlung, ist klar, wer will schon Geld, wenn am Arbeitsplatz der neue Mc Air steht? Sie sind jung und kommen aus Gotha und Remscheid, aus Dormagen und Wanne-Eickel, aus Uster und kleinen Nestern in England. Sie fühlen sich erwachsen und mutig und staunen: So eine riesige Stadt, so hässlich und verbaut wie New York oder São Paolo oder Hiroshima, und wenn ich es da schaffe, schaffe ich es überall. Ein Mantel des Schweigens über die Ziele, die den jungen Menschen selber nicht klar sind, außer, dass es etwas mit Geschwindigkeit zu tun haben muss, egal, dass Erwartungen immer das große Potenzial der Enttäuschungen innewohnt, denn nun sind sie in Berlin angekommen. Tragen ihre Ikea-Möbel in Wohnungen jener Viertel, in denen man wohnt und in denen alle verstörend uniform aussehen. Sie stehen am Fenster und schauen hinaus und fürchten sich ein wenig vor dem Versagen. Am Tag machen sie etwas, mit einem Fahrrad oder Design oder Milchkaffee und jagen in der Nacht wie junge Wölfe. Tausend Kino-, Theater-, Performance-, Party-Event-Dinge zur gleichen Zeit, wie kann man das schaffen? Und wo trifft man die richtigen Menschen? Und wie soll man sie erkennen, wenn doch alle sich so ähneln wie eine Rentner-Touristengruppe aus Japan in Jung? Und was sie treffen, in der Nacht, sind Millionen wie sie, alle so auf der Suche, dass keiner mehr schauen mag, in Ruhe, denn das Glück könnte gerade aus der Bar hinaus in die Nacht entwischt sein. Berlin ist die Hauptstadt der Angeber. Die richtigen Menschen, die aussehen wie die falschen, nur die Labels sind ausgetauscht, verkehren nur an den richtigen Orten. Wie Krieger zischeln sie sich die Namen der neuesten Plätze zu, und im Minutentakt kommen SMS mit Adressen illegaler Bars, und mit entschlossenen Gesichtern ziehen sie los, mit ihren dummen Ponys und den blöden Röhrenhosen und kämpfen sich durch die Touristen, und rührend sind sie, denn sie fühlen sich so unendlich. Alter ist eine traurige Sache in Berlin. Die Alten gehen ins Grill Royal, weil es da so aussieht, wie es aussah, als sie das erste Mal in Paris waren vor 20 Jahren, schön teuer ist es und schmeckt irgendwie, und dann fahren sie heim in ihre großen Wohnungen in Charlottenburg, dort ist es wie in einer großen Wohnung in Köln, München oder Hamburg. Berlin ohne jung ist egal. Heller muss man strahlen über die Hässlichkeit hinweg, und fit muss man sein für dieses ständige Aneinandervorbeilaufen. Millionen kleine Universen in der Stadt, die sich nicht berühren, aneinander vorbeisegeln auf der schnellen Jagd, nach etwas, das sie nach einiger Zeit vergessen haben. Auch das Staunen haben sie vergessen, irgendwann. Ein Türke ist halt ein Türke, und Junkies und Nutten, Asylanten und Berber sind nur beim ersten Mal Beschauen spannend. Das Leben in Berlin ist bald so wie an jedem anderen Ort der Welt. Nur ein wenig mühsamer. Keinem bekommt es, so viele Menschen zu dicht zu haben. Die Natur wirkt wie aus Plastik, wenn tausend andere sich darin aufhalten und es nur noch nach Parfüm und Sonnencreme riecht. Die Wege sind weit und die Straßen zugig, überall. Doch weggehen aus der Stadt kommt nicht infrage. Denn inzwischen sind ja auch alle Freunde hier hergezogen. Die man kaum mehr sieht, weil sie alle mit der Suche beschäftigt sind, nach dem Wunder, das sie sich versprochen haben. Jeder schafft Großes, eine Kunst oder ein Buch oder eine Internetfirma, schnell nur, schnell, denn morgen könnte schon ein anderer etwas Großes machen. Macht er auch. Und die Betriebsamkeit der Stadt geht in ein lautes Rauschen über, und alles wird austauschbar oder war es schon, von Anfang an. Laut muss man sein, damit man merkt, dass man lebt, in so einer Stadt. Dass man nicht nur eine Zelle ist, in einem riesigen Körper, der die Stadt bewohnt mit tausend Augen. Schön ist es nicht, aber schön ist eh für später. Im Moment ist es hervorragend, in einer kleinen Wohnung mit Blick auf einen hässlichen Hinterhof zu sein, man ist ja eh nie daheim. Ist auf der Straße, und die ist voller Einsamer, denn keine Zeit zum Trösten gibt es in dieser lauten Welt. "Urban und lebendig" und "Umbruch" und "in meinem Kietz kenn ich mich aus" und "mein Türke grüßt mich", sagt man Freunden am Telefon, die daheimgeblieben sind und die erzählen von einem Landausflug und schämen sich dafür, und man hört ihnen zu, den Freunden und denkt sich: Land, wie geht das, und wie war das mit den Vögeln, und dass man die Leutchen auf der Straße kannte seit seiner Kindheit. Dann sagt man sich laut: Spießig war das und der Tod. Draußen ist gerade Sommer. Alle nackt und schwitzen, liegen zu Tausenden um eine warme Pfütze und grillen Würste. Berlin ist großartig. In einem Ausmaß wie jede Großstadt auf der Welt, mit kleinen Menschen darin, die vor dem Einschlafen ein kleines Stück Himmel sehen und denken: Irgendwas ist falsch, aber was das wohl sein könnte, das fällt keinem ein. Und die Alten löschen das Licht in ihren großen Wohnungen. Sie erinnern sich nicht mehr daran, was früher war, da war ein Gefühl wie Hunger, wie ging das nur? So ist das mit dem Alter, das macht alles vergessen, was einen mal angetrieben hat, der Hunger ist weg, und was bleibt, ist die leise Freude an gutem Essen. Aber wo soll man das nur finden, in dieser Stadt? Und über dieser großen Frage schlafen sie ein und träumen von Landhäusern in Südfrankreich. Genauso wie es Millionen anderer tun, überall auf der Welt. Foto: Picture Alliance

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