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Tagesspiegel-Herausgeber Turner - „Wenn Qualitätsmedien keine neuen Märkte finden, werden sie Spielzeug von Oligarchen“

Vor einem Jahr geriet die „Agenda“-Konferenz des Berliner Tagesspiegels in die Kritik. Cicero monierte den bezahlten Einfluss von Verbänden. Herausgeber Sebastian Turner hat nun reagiert und einen Medienkodex für sein Haus verabschiedet. Ein Gespräch über Lobbyismus, Schleichwerbung und die Glaubwürdigkeit von Medien

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Cicero: Herr Turner, stellen Sie sich vor, die Wirtschaftsvereinigung Stahl würde zu einer Pressekonferenz über Grundstoffe einladen. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie hoch würden Sie da die journalistische Erotik einschätzen?
Sebastian Turner: Wenn es um Chinas Rohstoffaußenpolitik oder um die Abhängigkeit unserer Arbeitsplätze von knappen Rohstoffen geht, dann kann das interessant sein. Wenn es um die Versorgungslage mit Latex-Vorprodukten geht, ist das für manche vielleicht sogar erotisch.
 
Wenn wir eine solche Einladung erhielten, würden wir sagen, der Erotikfaktor ist relativ niedrig. 
Damit müssen sich die Leser von Cicero dann wohl abfinden.
 
Wir fragen das, weil dieser Stahl-Interessenvertreter einen prominenten Auftritt in Ihrem Haus hatte – bei der ersten Agenda“-Konferenz des Tagesspiegels im Dezember 2015. Der Einladung Ihres Verlages waren damals viele Wissenschaftler und Journalisten gefolgt. Was sie nicht wussten: Die Wirtschaftsvereinigung Stahl hat gemeinsam mit dem Verband der Chemischen Industrie 36.000 Euro für ihren Redebeitrag bezahlt.
Die Behauptung trifft gleich zweimal nicht zu. Wir hatten bei unserer Veranstaltung über 30 Redebeiträge von Wissenschaftlern und Interessenvertretern. Kein einziger hat dafür Geld bezahlt. Gleichzeitig haben wir – wie bei anderen Medienveranstaltungen üblich – Interessierten angeboten, Anzeigen zu schalten oder Nebenveranstaltungen zu machen. Und diese waren eindeutig gekennzeichnet.

Allerdings erst hinterher, nachdem Sie von uns darauf aufmerksam gemacht wurden.
Auch diese Behauptung ist falsch. Im Programmbuch, auf Aufstellern und auf den Bühnenrückwänden waren alle Sponsoren eindeutig vermerkt, ehe Sie sich bei uns meldeten.
 
Aus der „Agenda 2015“-Webseite war das im Vorfeld nicht ersichtlich.
Auch das ist falsch. Auf der Startseite waren alle Sponsoren genannt.

Wenn Sie die Logo-Leiste meinen: Daraus ging nicht hervor, dass die Sponsoren auch konkrete Panels ausrichten konnten – und damit Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Tagung nehmen konnten.
Das stand unübersehbar auf großen Tafeln und im Veranstaltungsprogramm, das jeder Teilnehmer vor der Veranstaltung bekam. Nach Ihrem freundlichen Anruf haben wir es dann auch gerne auf den Web-Unterseiten ausführlich erläutert. Wenn man die Absicht hat, ein Sponsoring zu verschleiern, dann würde man es kaum überall deutlich kenntlich machen, nur nicht auf einer Unterseite im Netz.

Kanzleramtschef Peter Altmaier sagte nach der Konferenz, dass ihm im Vorfeld nicht bekannt gewesen sei, dass dort Redezeiten gekauft werden konnten.
Weil keine Redezeiten verkauft wurden, ist das eine nachvollziehbare Antwort. Das lag aber auch an Ihrer Darstellung. Hätten Sie ihn gefragt: „Herr Altmaier – wissen Sie, dass auf einer Medienveranstaltung wie dieser Teilveranstaltungen stattfinden, auf der Sponsoren sind?“, wäre seine Antwort sicher gewesen: „Ja, klar.“ Ich habe danach mit ihm gesprochen. Er sagte: „Ich bin oft auf solchen Veranstaltungen.“

Wäre ich denn als Verband auch auf diese Veranstaltung gekommen, wenn ich nicht das Nebenprogramm bespielt hätte?
Ja, natürlich. So wie alle anderen Verbände, Institute und Stiftungen, die von uns zu fünfminütigen Vorträgen eingeladen wurden. Wenn ich vergleiche, was im Verlags- und Veranstaltungswesen heute üblich ist, sind wir in jeder Hinsicht transparent, klar und eindeutig gewesen. Im Internetauftritt, auf einer Unterseite, gebe ich zu: Da hat ein erklärender Satz gefehlt.

Das ist nicht ganz unerheblich. Wenn ich auf einer Seite in Cicero nicht über ein Advertorial, also einer Werbung in Form eines Redaktionsinhaltes, „Anzeige“ darüber schreibe…
Über Advertorials steht bei uns immer das Wort Anzeige. Wir befolgen präzise die Regeln des Presserats. Der Presserat sagt, eine Anzeige muss in ihrer Gestaltung abweichen vom Redaktionellen. Wenn sie das nicht tut, muss das Wort „Anzeige“ darüber stehen. Daran halten Sie sich selbst bei Cicero nicht, wenn Sie etwa Partner im Blatt haben.

Die Eigenanzeigen von Cicero heben sich vom redaktionellen Teil in jeder Hinsicht optisch, grafisch und typografisch ab.
Genau wie bei uns – optisch, grafisch und typografisch. Halten wir fest: Sie werfen uns ein Prinzip vor, das Sie selbst so anwenden wie wir.

Mittlerweile sind diese Werbeflächen beim Tagesspiegel gekennzeichnet als „Anzeige“. In der ersten Ausgabe war das nicht der Fall.
Während bei Ihnen diese Kennzeichnung bis heute fehlt. Bei allem Sophismus: Wir wollen eine maximale Transparenz.

Herr Turner, ist das Aufrechterhalten der Glaubwürdigkeit des unabhängigen Journalismus „Sophismus“?
Nein. Die Glaubwürdigkeit der Qualitätsmedien ist ihre Existenzgrundlage. Wir haben in der Diskussion die Chance auf einen Wettbewerbsvorteil gesehen, den wir gerne ergreifen. Google unterscheidet in seinen Suchergebnissen nicht mehr zwischen PR-Seiten und Newsseiten und eine reichweitenstarke Netzplattform hat auf Wunsch von Werbekunden unliebsame Artikel gelöscht. Das sind Weckrufe für Qualitätsmedien, die klare Trennung von Redaktion und Werbung noch deutlicher zu markieren.  
Der Tagesspiegel hat deswegen eine Reihe anderer Qualitätsmedien angesprochen, um entsprechende Richtlinien zu formulieren. Neben jedem Sponsoren-Logo steht künftig die Formel „mit Unterstützung von“. Wir haben auch mit dem Presserat, Transparency und den Verlegerverbänden diskutiert. Die Transparenz-Regeln, die wir bei uns im Tagesspiegel-Haus im Konferenzzentrum aufhängen, sollen für Anzeigen, Veranstaltungen und andere neue Geschäftsfelder anwendbar sein. Auch hier gehen Ihre Maßstäbe nicht so weit wie unsere. Wir laden Cicero wie die anderen Medien gerne ein, in dieser Initiative mitzuwirken.

Sehen Sie denn, dass in dieser existenziellen Not, in der wir alle sind, Standards leichter geschliffen werden als zu Zeiten, wo es uns noch so gut ging, dass wir am Freitag um 17 Uhr den Anzeigenkunden am Schalter wieder nach Hause schicken mussten?
Das wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Wir haben kein Interesse daran, das Trennungsprinzip aufzudröseln, um Geld zu verdienen. Ich hätte mich nicht als Mitunternehmer beim Tagesspiegel engagiert, um hier ein Anzeigenblatt draus zu machen. Im Gegenteil: Je klarer wir Qualitätsmedien unsere Prinzipien schützen, desto besser ist das für unseren wirtschaftlichen Erfolg.

Ist dieser Vorstoß auch eine Antwort auf den Streit um den Medien-Kodex der deutschen Wirtschaft? Die Compliance-Verantwortlichen mehrerer Großkonzerne hatten dieses Regelwerk in monatelanger Arbeit erstellt, um Schleichwerbung einzudämmen und quasi die Presse vor sich selbst zu schützen. Als die Sache öffentlich wurde, gingen die Kommunikationschefs der gleichen Unternehmen auf Distanz: Der Kodex sei weder erforderlich noch mit ihnen abgestimmt gewesen.
Wir haben von der Initiative gehört, als wir schon mitten in den Gesprächen waren. Klare Richtlinien auf Medien- und Unternehmensseite helfen allen. Wenn Leser nicht mehr wissen, ob ein Artikel stimmt oder gekauft ist, dann können sie gar keiner Unternehmensberichterstattung mehr trauen. Es ist deshalb für alle gut, wenn unabhängiger Journalismus geschützt wird. Man sollte auch einmal klar die Alternative aussprechen: Wenn die Qualitätsmedien keine neuen Märkte finden, werden sie Jahr für Jahr die Redaktionen verkleinern müssen oder sie werden wie in Russland, aber zum Teil auch in Italien und Großbritannien, Spielzeug von Oligarchen. Wir haben die Redaktion etwas vergrößert und bei Leserreichweite und Markanteilen zulegen können. Es wäre schön, wenn wir das fortsetzen können.

Aber die freien Mitarbeiter haben Sie vor die Tür gesetzt.
Leider haben wir einen Teil der Mittel für freie Autoren reduzieren müssen, befristet bis zum Jahresende, weil auch bei uns einzelne Anzeigenarten zurückgegangen sind. Um das Gesamtbild zu zeichnen: Unter den Berliner Abonnementblättern verfügt der Tagesspiegel mit großem Abstand über die größte Redaktion. Und in diesem Jahr haben wir die Redaktion und den Verlag jeweils noch einmal um eine zweistellige Zahl von Köpfen vergrößert – während andere zweistellig oder gar dreistellig Stellen abgebaut haben.

Dürfen denn zum Jahresbeginn 2016 wieder alle freien Autoren für das Blatt schreiben?
Wir beraten zurzeit die Planung für das neue Jahr. Zwei wichtige Fragen sind dabei, gelingt es uns, unsere neuen Geschäftsfelder weiter so schnell wie bisher auszubauen und können wir gleichzeitig das Bestandsgeschäft halten? Wir arbeiten an beidem und brauchen für beides auch freie Autoren.

Der Vorwurf von Lobby Control gegen Ihre „Agenda“-Konferenz war jedenfalls noch ein anderer: Sie verkaufen die Aufmerksamkeit von Journalisten an Lobbyisten und suchen die Nähe zu finanzstarken Verbänden.
​Ich finde den Vorwurf nur schwer verständlich. Wir haben die Teilnehmer anschließend befragt und von allen Gruppen sehr gute Noten bekommen, auch von Journalisten. Von den Anwesenden wurde besonders gelobt, dass wir Interessen transparent gemacht haben.
Wir haben uns im Anschluss an die Kritik mit Lobby Control und Transparency getroffen und aus den Gesprächen eine interessante publizistische Idee gewonnen: Wir schaffen ein eigenes Forum für die NGOs. Wir sind aber vor der letzten Bundestagswahl nicht von Verband zu Verband gelaufen, um dort ein Sonderheft zur Bundestagswahl zu verkaufen. Das war eine Idee von Cicero. 

Vertrieb und Anzeigenakquise, die der Verlag betreibt, haben doch mit der Redaktion nichts zu tun. 
Dann ist ja alles schön in Ordnung und so wie bei uns.

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