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Christian Wulff - „Ganz oben ganz unten“ – Die Leseprobe

Ex-Bundespräsident Christian Wulff geriet in einen Medienskandal, trat von seinem Amt zurück, wurde angeklagt. Das Gericht sprach ihn dann von allen Vorwürfen frei. In „Ganz oben ganz unten“ beschreibt Wulff nun seine Sicht auf die Affäre. Bei Cicero Online lesen Sie einen Vorabdruck

Autoreninfo

Christian Wilhelm Walter Wulff (* 19. Juni 1959 in Osnabrück, CDU) war der zehnte Bundespräsident Deutschlands (2010-2012). In Folge einer Affäre um einen Hauskredit und diverse Reisen trat er im Februar 2012 zurück. Seine Erlebnisse schilderte er in dem Buch "Ganz oben ganz unten"

So erreichen Sie Christian Wulff:

Die letzte Kugel

Nachdem ich den ganzen Januar 2012 über unter Dauerbeschuss gestanden hatte, verstärkte sich nicht nur bei mir gegen Ende des Monats der Eindruck, das Schlimmste hinter mir zu haben. Es sehe in diesen Tagen ganz danach aus, so der Spiegel am 23. Januar 2012, «als könnte der Bundespräsident dem Affärenstrudel entkommen». Mir lagen Hinweise vor, dass die Bild-Zeitung ihre Munition verschossen und nichts mehr in der Hand hatte.

Umso härter traf mich am Morgen des 8. Februar der Aufmacher «Vertuschungs-Verdacht – Wer zahlte Wulffs Sylt-Urlaub?» auf Seite zwei der Bild, die den Sylt-Aufenthalt über sechs Spalten in allen Facetten breit ausleuchtete, war zu lesen: «Vom 31. Oktober bis 3. November 2007 übernachtete Christian Wulff mit seiner heutigen Ehefrau Bettina (38) im vornehmen ‹Hotel Stadt Hamburg› auf Sylt … Zugleich war der Berliner Filmfonds-Manager David Groenewold (38), ein enger Freund von Christian Wulff, in dem Luxus-Hotel untergebracht … Nach Bild-Recherchen hatte Groenewold seinen und Wulffs Sylt-Aufenthalt beim VIP-Service von Airtours gebucht und vor Reiseantritt mit seiner Platinum-Kreditkarte von American Express bezahlt.» Bis zu diesem Satz war der Bericht korrekt.

Was folgte, war das Ergebnis einer Manipulation: «Jetzt steht der Wulff-Freund im Verdacht, diesen Vorgang vier Jahre später vertuschen zu wollen. Vor rund drei Wochen, am 16. Januar 2012, rief Groenewold im ‹Hotel Stadt Hamburg› an. In der Bild vorliegenden Notiz des Hotels über diesen Anruf heißt es: ‹lt. tel. 16.1. keine Daten von Hr. Groenewold rausgeben! (War 2007 mit Hr. Wulff hier & hat den Aufenthalt übernommen.)› Am 17. Januar notiert das Hotel in seiner internen Aufgabenliste für Mitarbeiter, die Bild vorliegt: ‹Hr. David Groenewold hat gestern angerufen, wir sollen keinerlei Infos über ihn rausgeben! Er war 2007 mit Hr. Wulff im HSH und hat den gesamten Aufenthalt übernommen. Falls also Bild oder Spiegel anruft, wir wissen von nichts!›» Drei Tage später sei David Groenewold in Westerland erschienen: «Am Morgen des 20. Januar fordert er Mitarbeiter des Hotels auf, relevante Rechnungen und Belege … auszuhändigen. Ein Hotel-Manager übergibt Groenewold Anreiselisten, Meldescheine und Verzehrquittungen.» Was mit diesen Sätzen suggeriert werden sollte, war der Versuch einer Unterdrückung von Beweismitteln durch David Groenewold.

Zehn Tage hatten Bild-Reporter Martin Heidemanns und sein Kollege Nikolaus Harbusch an dem Artikel gebastelt, der darauf abzielte, die Staatsanwaltschaft zur Bejahung eines Anfangsverdachts und damit zum Einschreiten zu bewegen. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im niedersächsischen Landtag Stefan Wenzel lieferte ihnen für den 8. Februar das passende Zitat: «Wer solche Dokumente verschwinden lassen will, dürfte etwas auf dem Kerbholz haben. Hier muss endlich der Staatsanwalt ran!» Auch den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Hannover, Stefan Schostok, hatte die Bild ins Boot geholt: «Offenbar fi nden gerade Versuche statt, Akten zu säubern».

In Wahrheit hatte David Groenewold keine Unterlagen verschwinden lassen wollen, sondern vom Hotel lediglich Rechnungskopien erbeten, um seinerseits auf vielfältige Journalistenanfragen präzise Auskunft geben zu können. Wie aus den späteren Vernehmungen von Hotelangestellten durch das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein hervorgeht, war der angebliche Vertuschungsversuch von den Bild-Redakteuren gegen besseres Wissen konstruiert worden.

Gut vier Jahre nach unserem gemeinsamen Sylt-Ausflug geriet David Groenewold im Zuge der gegen mich erhobenen Vorwürfe ins Visier der Journalisten. Viele Menschen aus meinem privaten Umfeld waren damals Nachstellungen der Presse ausgesetzt, und bei denen, die verschont blieben, meldete sich nach meinem Rücktritt die Staatsanwaltschaft. Als David Groenewold Anfang Januar 2012 vom Spiegel mit einem Fragenkatalog zum Oktoberfest 2008 konfrontiert wurde und nur unzureichend Auskunft geben konnte, weil ihm die nötigen Unterlagen fehlten, riet ihm sein Anwalt, sich auf weitere Überraschungen dieser Art vorzubereiten, eine Liste aller Kontakte mit mir aufzustellen und die entsprechenden Belege bereitzuhalten. Am 16. Januar rief er im Hotel Stadt Hamburg an und bat zunächst die Assistentin des Direktors und dann den Direktor selbst um Übersendung von Kopien der Rechnungen aus dem Jahr 2007. Der Direktor lehnte dies aus Datenschutzgründen ab: Herr Groenewold müsse schon persönlich vorbeikommen. Am 19. Januar fuhr er nach Westerland und bekam die gewünschten Kopien gegen Vorlage seines Personalausweises ausgehändigt.

Den gesamten Vorgang erläuterte der Rechtsanwalt von David Groenewold am 24. Januar auf Anfrage des NDR für die NDRFernsehsendung «Menschen und Schlagzeilen». Die Bild-Zeitung will den Namen des Hotels neun Tage später selbst herausgefunden haben. Die Behauptung, man habe etwas «enthüllt», was ein anderer zuvor offengelegt hat, nannte das Landgericht Berlin in einer Einstweiligen Verfügung gegen den Springer-Verlag eine «Persönlichkeitsverletzung aufgrund einer unwahren Tatsachenbehauptung». Nach ähnlichem Muster hatte die Bild-Zeitung am 12. Dezember den Namen von Edith Geerkens «enthüllt», obwohl Herrn Heidemanns der Kreditvertrag mit ihrem Namen am 6. Dezember im Bellevue aus freien Stücken vorgelegt worden war.

Am Montag, den 30. Januar, kam der Nachtportier des Hotels Stadt Hamburg aus seinen Ferien zurück. Ich kenne diesen Nachtportier nur aus den Vernehmungsprotokollen des LKA. In dem Buch, das die Bild-Redakteure Heidemanns und Harbusch Ende 2012 über ihre sogenannten Recherchen vorgelegt haben, hat er den Decknamen «Tamara». In der dazugehörigen Anmerkung heißt es: «Identität zum Schutz der Quelle verändert». «Tamara» also rief am 31. Januar bei Bild an, es gebe einen Hinweis, dass ein von Herrn Groenewold bezahlter Aufenthalt von Herrn Wulff auf Sylt verschleiert werden solle. Zwei Tage später ging in der Poststelle von Springer angeblich ein Umschlag ohne Absender ein, in dem eine Kopie der Notiz des Hotels Stadt Hamburg vom 16. Januar lag. Weitere Dokumente könnten bei einem persönlichen Treffen übergeben werden. «Wie die Übergabe erfolgt, auch das bleibt Redaktionsgeheimnis », heißt es in dem Buch von Heidemanns und Harbusch. «Im Krimi hilft oft Kommissar Zufall». Schon am 3. Februar habe man weitere Unterlagen auswerten können.

Ich erlaube mir kein Urteil über die Motive des Nachtportiers. Wem tagaus, tagein auf allen Kanälen und besonders suggestiv über die Bild-Zeitung der Eindruck vermittelt wurde, dass der Bundespräsident ein Schnäppchenjäger ist, ein Bonus-Präsident, ein Schnorrer, ein Kleber, ein Pattex-Präsident, ein Mann mit dubiosen Freunden, kurz: eine schwere Belastung für das Land – wie lange noch? –, der durfte vielleicht zwischenzeitlich durchaus dem Glauben verfallen, er erweise der Nation mit seinem Anruf bei Bild einen Dienst.

In der gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Volksschauspieler Ottfried Fischer vertrat der Anwalt des angeschuldigten Bild- Reporters offensiv den Standpunkt, «dass der Ankauf von Informationsmaterial eine berufstypische Handlung von Journalisten ist».

Bis heute kann im Hotel Stadt Hamburg niemand erklären, wie die erste handschriftliche Notiz vom 16. Januar – «lt. tel. 16.1. keine Daten von Hr. Groenewold rausgeben! (War 2007 mit Hr. Wulff hier & hat den Aufenthalt übernommen)» – den Weg in die internen Hotelunterlagen gefunden hat. Es handele sich mit Sicherheit nicht um die Handschrift einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters, sagte die Direktionsassistentin bei ihrer polizeilichen Vernehmung aus.

Am Mittag des 7. Februar rief Herr Heidemanns im Büro Groenewold an, den er nicht erreichte. Dann wählte er die Nummer von Groenewolds Rechtsanwalt und konfrontierte ihn mit den Vertuschungsvorwürfen. David Groenewold wandte sich umgehend an den Direktor des Hotels Stadt Hamburg, der die Chefredaktion der Bild-Zeitung per Fax und per Mail um 16.41 Uhr über den wahren Sachverhalt in Kenntnis setzte und betonte, es habe nie einen Versuch durch Herrn Groenewold gegeben, etwas zu vertuschen oder zu vernichten. Herr Groenewold habe lediglich Kopien für seine Unterlagen erbeten. Der Axel Springer Verlag teilte dazu später auf Anfrage mit, das Schreiben des Hoteldirektors sei nicht relevant gewesen, weil es in dem Artikel nicht darum gegangen sei, dass Herr Groenewold Originale angefordert habe.

 

Am 8. Februar, dem Tag des Erscheinens des Artikels, reichte der Nachtportier beim Hotel Stadt Hamburg seine Kündigung ein – fristlos. Die Staatsanwaltschaft stellte auffällige Ähnlichkeiten zwischen seiner Handschrift und der Handschrift auf dem Umschlag fest, in dem Kopien der Hotelunterlagen am 14. Februar anonym bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle eingingen. Weil der Bild-Artikel vom 8. Februar nicht sofortige Wirkung zeigte, wollte jemand nachhelfen. «Hierzu bedarf es weiterer Ermittlungen», heißt es in den Untersuchungsakten. Diese Ermittlungen wurden bis heute nicht aufgenommen.

Es lagen inzwischen 60 Tage im Ausnahmezustand für meine Familie und mich hinter mir. Woran erinnere ich mich, wenn ich an diese Wochen des Jahreswechsels 2011/2012 denke? An schlafl ose Nächte, an Momente großer Verzweiflung, an meine Ohnmacht. An die hundert investigativen Journalisten, die mich täglich mit Fragen konfrontierten – am Ende waren es fast eintausend –, an Talkshows fast jeden Tag, an Hörfunknachrichten rund um die Uhr. Ohne wahre Freunde und ohne den unermüdlichen Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich auch menschlich bewährten, hätte ich diese Zeit nicht durchgestanden. Die Niedertracht kannte keine Grenzen mehr. Wir sahen uns Menschen gegenüber, die jedes Maß und Mitgefühl vermissen ließen. Mit engen Freunden sprach ich manchmal darüber, wie viel die Psyche eines Menschen wohl aushält. Bei öffentlichen Auftritten Journalisten gegenüber zu stehen, die kein anderes Ziel mehr kannten, als mich mit allen Mitteln aus dem Amt zu treiben, erforderte Disziplin und Selbstbeherrschung. Geholfen haben Briefe aus der Bevölkerung oder Rufe nach Veranstaltungen –»Treten Sie nicht zurück, Herr Präsident!»

Wenn ich heute durch die Presseordner blättere – ein prall gefüllter Leitz-Ordner pro Woche –, schmunzele ich gelegentlich. Nicht nur über die Karikaturen. Da hält ein Bild-Zeitungsleser seinem Hund eine Bild-Zeitung hin, der Hund macht «Wulff, Wulff, Wulff», und der Mann sagt zu seiner Frau: «Man muss ihm nur die Bild-Zeitung hinhalten!» Das war in der tageszeitung, die immer wieder gegen den Diekmann-Stachel löckte.

Fernsehen und Hörfunk waren bei der Stimmungsmache dabei. Zehn Wochen lang garantierte das Thema Wulff traumhafte Einschaltquoten für sämtliche Talkshows. Günther Jauch hatte das neue Talk-Jahr mit einer weiteren Sendung über mich als «Problem-Präsidenten » eröffnet. 5,81 Millionen schauten zu – laut Media Control so viele wie bei keiner Jauch-Sendung zuvor. «Seit Bundespräsident Christian Wulff in der Klemme steckt, gewinnt Günther Jauch an Souveränität», kommentierte Stern online. Diese Souveränität ließ er nicht nur in der übernächsten Sendung zu mir am 12. Februar für einen kurzen Moment vermissen: «Von dem wird wohl niemand ein Stück Brot mehr nehmen».

Wer die Sendung heute im Internet aufruft, fi ndet den Satz in Minute 52 : 25 nicht mehr. Er wurde herausgeschnitten. Der Grund dürfte gewesen sein, dass ein Bürger nach der Sendung Strafanzeige angekündigt hatte.

Das Internet folgt eigenen Gesetzen. Drei Tage vor der Jauch- Sendung hatte Hape Kerkeling ein Plädoyer zu meiner Unterstützung auf seiner privaten Facebook-Seite veröffentlicht. Es sei ein «Skandal unserer maroden und degenerierten Mediengesellschaft», wie über den Fall Wulff diskutiert werde. «Die Frage, die sich hier stellt, lautet nicht: Wulff oder ein Neuer, sondern vielmehr: Wulff oder Bild? Wie soll Deutschland in Zukunft aussehen?» Für ihn, Kerkeling, sei die Antwort klar: «Ich bin eindeutig für Wulff!!!» Tausende von Kerkeling-Fans posteten ihren Protest, Kerkeling antwortete, er lasse sich den Mund nicht verbieten. Daraufhin wurde die Echtheit der Facebook-Seite angezweifelt: Es handele sich gar nicht um den echten Hape, sondern um einen Trittbrettfahrer. Kerkelings Facebook-Seite wurde auf ominöse Weise gesperrt.

Das Thema bescherte auch den Privatsendern hohe Einschaltquoten. Am 10. Januar übertrug n-tv den traditionellen Neujahrsempfang für das Diplomatische Corps erstmals live in voller Länge. Das hatte es noch nie gegeben, es war eine tolle Werbung für die täglichen Aufgaben des Bundespräsidenten. Normalerweise sieht man am nächsten Tag in den Zeitungen ein Foto, auf dem der Bundespräsident dem Botschafter oder der Botschafterin mit der auffälligsten Nationaltracht die Hand schüttelt, dazu gibt es einen knappen Text. Jetzt waren wir anderthalb Stunden auf Sendung: alle 170 Repräsentanten in alphabetischer Folge der von ihnen vertretenen Länder und die akkreditierten Vertreter der internationalen Organisationen. Der letzte war wohl der Internationale UN-Beauftragte für den Schutz der Fledermäuse.

Der Fernsehzuschauer konnte jeden Moment etwas Spektakuläres erwarten: Vielleicht bricht Wulff jetzt zusammen! Wenn etwas zum Thema «Bundespräsident in der Krise» lief, war die Quote doppelt so hoch, weil Menschen auf ganz unterschiedliche Weise Anteil nahmen. Die Produktionskosten tendierten gegen null, und an den Werbeblöcken, die nach Zuschauerzahlen abgerechnet werden, verdienten die Privaten dank meiner ungewollten Mitwirkung mehr als sonst. Die suggestive Wirkung der Bilder war übrigens einer der Gründe dafür, dass ich Anfang Januar den Vorschlag von Kai Diekmann abgelehnt hatte, meine Mailbox-Nachricht zur Veröffentlichung freizugeben. Ich konnte mir genau vorstellen, wie das ausgesehen hätte: ein möglichst unscharfes Standfoto des Bundespräsidenten mit Handy, meine Stimme aus dem Off und unten die Live- Ticker-Endlosschleife: «Wulff bedroht Chefredakteur». Auf n-tv und N24 wäre das vermutlich rund um die Uhr gelaufen. (…)

Als ich am Morgen des 8. Februar die Bild-Zeitung sah, war ich am Boden zerstört. Nur auf eine Person konnte ich mich jetzt noch verlassen, die Bundeskanzlerin. In der dritten Januarwoche hatten wir uns zuletzt gesehen, sie war in die Pücklerstraße gekommen, der Termin unterlag höchster Geheimhaltungsstufe. Wenn Redaktionen von diesem Besuch erfahren hätten – darin waren wir uns einig –, würden die meisten am selben Abend noch online stellen: «Merkel drängt Wulff zum Rücktritt!»

Aus der kleinen Kanzlerrunde am 8. Februar erhielt ich die Nachricht, dass die Bundeskanzlerin mir fest vertraue und weiterhin unverbrüchlich zu mir stehe. Sie habe sich immer auf meine Angaben verlassen können. Am nächsten Tag fand in der Akademie der Künste eine Gesprächsrunde der Deutschen Welthungerhilfe statt, deren Schirmherr ich war. Eine der Teilnehmerinnen twitterte aus der Runde: «Wulff hat eiskalte Hände».

Alles hing jetzt davon ab, wie viele Tage David Groenewold brauchte, das Konstrukt der Bild-Zeitung zu enttarnen. Am 14. Februar lag eine Einstweilige Verfügung des Landgerichts Köln vor, die es der Axel Springer AG untersagte, die auf Unterdrückung von Beweismitteln hindeutenden Sätze des Bild-Artikels vom 8. Februar weiter zu verbreiten. Laut Gerichtsbeschluss durfte die Bild-Zeitung nicht mehr behaupten, dass auf Sylt Beweismittel beseitigt werden sollten. Noch am selben Tag leitete Groenewolds Anwalt die Einstweilige Verfügung an die Staatsanwaltschaft Hannover weiter.

Der Beschluss des Landgerichts Köln sei in dem Antrag auf Aufhebung meiner Immunität «ausdrücklich zitiert» worden, teilte die Staatsanwaltschaft Hannover später zu ihrer Rechtfertigung mit. Man habe jedoch zugleich darauf hinweisen müssen, dass die Veröffentlichung des Artikels noch am selben Tag zu «lautstarken Forderungen» nach einem Eingreifen der Staatsanwaltschaft geführt habe. In den Medien erhobene «lautstarke Forderungen» wurden von der Staatsanwaltschaft Hannover und der niedersächsischen Justiz demnach höher gewertet als ein Gerichtsbeschluss.

Groenewolds Anwalt schickte eine Kopie der Einstweiligen Verfügung auch an die dpa. Die Deutsche Presse-Agentur hatte Meldungen zur Affäre stets gern und schnell verbreitet. Nur dieses Mal klappte es nicht. Man habe die Information bekommen, so die Agentur in einer späteren Stellungnahme, aber «aufgrund unseres Grundsatzes, immer auch die Gegenseite zu hören, haben wir dann erst bei Axel Springer angefragt und nicht sofort Antwort erhalten». Wen wundert’s? Ausreichend wäre es gewesen, man hätte bei der Pressestelle des Gerichts nachgefragt. Anschließend sei die Meldung «tatsächlich leider in unserem Nachrichtenfl uss stecken geblieben». Vier Monate später, am 18. Juni 2012, erkannte die Axel Springer AG die Einstweilige Verfügung in allen acht Punkten rechtskräftig an. Das hatte allerdings keine Bedeutung mehr, das Ziel war erreicht.

Die Situation empfand ich jetzt nur noch als surreal. Es standen kurz hintereinander zwei Auslandsreisen an: Am 9. Februar, einen Tag nach Veröffentlichung des Sylt-Artikels, sollte ich abends zum Treffen der nicht-exekutiven Präsidenten Europas nach Helsinki fl iegen. Am Sonntag, den 12. Februar, gab es einen Bellevue-Empfang anlässlich der Berlinale. Am darauf folgenden Morgen begann der dreitägige Staatsbesuch in Italien. Ich telefonierte unterdessen regelmäßig mit meinen Anwälten. In Helsinki machte ich am 10. Februar bei minus dreißig Grad einen kurzen Spaziergang mit meiner Pressesprecherin. Ich erwog aufzugeben. Der Rückfl ug war für den nächsten Tag, Samstag halb eins geplant. Kurz vor dem Einstieg, so meine Überlegung, könnten wir die Presse für 15.00 Uhr ins Bellevue zu meiner Rücktrittserklärung einladen.

Das Treffen mit den acht Staatsoberhäuptern lenkte mich ab. Es gab viel Zuspruch und manche Ermutigung, aber auch Kurioses. Der ungarische Präsident Pál Schmitt nahm mich zur Seite: Er habe zu Hause auch ein Problem, seine Doktorarbeit werde wegen Plagiatsverdachts gefi lzt. Am 2. April musste Schmitt zurücktreten. Zum Glück habe ich nie meinen Doktor gemacht, dachte ich bei mir, den hätte mir Herr Heidemanns sicher als erstes aberkannt.

Warum trat ich an diesem Wochenende nicht zurück? Ich wollte mir nicht vorwerfen müssen, gegen eine mediale Inszenierung der Bild nicht standgehalten zu haben. Für mich wäre es einer Kapitulation gleichgekommen, aus Erschöpfung zu kneifen und damit am Ende das Zerrbild zu stützen, das die Medien von mir zeichneten. Was sich seit dem 12. Dezember abspielte, war in meinen Augen eine so nie dagewesene Machtprobe zwischen Medien und Politik. Ich wollte nicht zulassen, dass die Bild-Zeitung am Staatsoberhaupt ein Exempel statuierte. Dies wäre auf eine gefährliche Verschiebung der Machtverhältnisse in unserem Land hinausgelaufen, deshalb musste das Amt des Bundespräsidenten gegenüber konstruierten Vorwürfen eine von den Medien uneinnehmbare Bastion bleiben.

An dem Freitag, an dem ich beim Spaziergang im eisig-kalten Helsinki zum ersten Mal daran dachte, hinzuschmeißen, erschien in der Bild-Zeitung ein Kommentar von Nikolaus Blome. «Wenn nicht alles täuscht, wird die Affäre des Bundespräsidenten die politischen Bedingungen für Rücktritte in Deutschland neu defi nieren.» Blome ging davon aus, dass ich durchhielt, und das kam für ihn einem Verfall der politischen Kultur gleich, denn dann könne sich ein Politiker in Zukunft «annähernd alles leisten, was er will». Wie recht er hatte mit seiner düsteren Prophezeiung, erwies sich eine Woche später, als ich aufgab und damit indirekt einräumte, dass «die politischen Bedingungen für Rücktritte in Deutschland» von der Bild-Zeitung diktiert werden.

Beziehungsweise von deren Chefredakteur, der auf dem Höhepunkt der Affäre den Verdacht, es handele sich um eine persönliche Fehde, weit von sich wies: «Wer den Fall und die Probleme des Bundespräsidenten jetzt zu einem Machtkampf zwischen dem ersten Mann im Staat und der größten Zeitung im Land aufpumpt, der geht wahrhaft völlig in die Irre». Wer etwas derart Abwegiges unterstelle – so die Dialektik dieses gespreizten Satzes –, verkenne die Objektivität von Bild. Ihn habe die morgendliche Zeitungslektüre jedenfalls «oft zum Lachen gebracht. Und so entstand die Idee, die Karikaturen im Original zu kaufen, die sich mit Bild und Christian Wulff befasst haben». Diekmann erwarb gut zwei Dutzend Originalkarikaturen – Jagdtrophäen sozusagen. (…)

An Bord der Regierungsmaschine, die am Montagmorgen um 7.45 Uhr von Berlin-Tegel nach Rom startete, herrschte eine gespenstische Stimmung. Noch bevor der Airbus abhob, gingen meine Frau und ich nach hinten und begrüßten die Mitreisenden einzeln: die Bundestagsabgeordneten und die Vertreter der Wirtschaft im Mittelteil, die Journalisten im hinteren Teil des Flugzeugs. Aus dem Stern- Redakteur Hans-Martin Tillack platzte es heraus: Ob ich nur aus «Angst vor Mittellosigkeit» nicht zurücktreten würde. Als ich mich später während des Fluges mit den Journalisten zusammensetzte, um ihnen das Besuchsprogramm zu erläutern, und sagte, dass es mir vor allem um ein Zeichen der Solidarität mit den Reformen der Regierung Monti gehe, verlor Tillack zum zweiten Mal die Fassung: «Glauben Sie im Ernst, dass sich irgend jemand dafür interessiert, was Sie in Italien vorhaben?»

Wäre es nach einigen der mitreisenden Journalisten gegangen, wäre es zu einer Art Showdown über den Wolken gekommen. Aber ich ließ mich nicht provozieren. Alle an Bord richteten ihre Blicke auf mich, als wollten sie sagen: Es muss doch endlich einmal Schluss sein, einer muss dem Spuk jetzt doch ein Ende machen. Aber warum ich? Aufgeputscht durch Gerüchte, Halbwahrheiten und Unwahrheiten der Bild-Zeitung, hatten sich viele in einen kollektiven Wutrausch geschrieben, aus dem sie nicht mehr heraus fanden. Warum sollte ausgerechnet ich ihnen dabei helfen? Als die Maschine zur Landung in Rom ansetzte und alle wieder ihre Plätze einnahmen, empfahl ich den Journalisten, sich anzuschnallen. Sonst heiße es noch, wir hätten sie zu Schaden kommen lassen. (…)

Am 12. Februar erläuterten meine Anwälte in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Hannover die Einzelheiten des Sylt-Aufenthaltes vom Herbst 2007 einschließlich aller Zahlungsmodalitäten. Zwei Tage später erging die Einstweilige Verfügung des Landgerichts Köln gegen die Axel Springer AG auf Unterlassung der Behauptungen der Bild-Zeitung. Trotzdem stellte die Staatsanwaltschaft Hannover am 16. Februar bei Bundestagspräsident Norbert Lammert einen Antrag auf Aufhebung meiner Immunität. Als Generalstaatsanwalt Lüttig im April 2013 in einem Interview mit Ulrich Exner in der Welt die Ermittlungen bilanzierte, nannte er als Grund für die Eröffnung des Verfahrens den Bericht der Bild-Zeitung: «In dem Moment, als in der Presse zu lesen war, dass David Groenewold versucht, Beweise aus der Welt zu schaffen … da war die Sache gelaufen. Da durfte eine Staatsanwaltschaft nicht drüber hinweggehen.» Warum aber ging sie hinweg über das Schreiben meiner Anwälte vom 12. und die Einstweilige Verfügung des Landgerichts Köln vom 14. Februar?

Weil es politisch offenbar so gewollt war. Die beiden Männer, die den Schritt zu verantworten haben, waren der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann und der Leiter der Strafrechtsabteilung im niedersächsischen Justizministerium, Frank Lüttig. Busemann kannte ich gut, vielleicht zu gut.

Ich erinnere mich zum Beispiel an den September 1999. Ich war als Vorsitzender der CDU-Niedersachsen zugleich Fraktionsvorsitzender meiner Partei im niedersächsischen Landtag, Bernd Busemann war mein Stellvertreter. Ohne mich zu unterrichten, hatte Busemann ein Gutachten des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes des Landtags angefordert, um Entscheidungen von mir, die er für falsch hielt, überprüfen zu lassen. Damit kam er zu mir und behauptete, ich hätte die Satzung der Fraktion falsch ausgelegt. Ein merkwürdiges Vorgehen, dachte ich, dass ein Vize sich beim Landtag über die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen seines Vorsitzenden erkundigt, ohne ihn darüber zumindest zu informieren.

Einen Tag nach der Sitzung des Fraktionsvorstandes am 14. September 1999 verteilte Busemann ein Strategiepapier, in dem er sich von meinem Kurs als Partei- und Fraktionsvorsitzender absetzte. Er erläuterte das Papier ausgewählten Journalisten und ließ es danach in die Fächer sämtlicher Fraktionsmitglieder, also auch meines, legen. Ein Mitarbeiter informierte mich, ich war bereits auf dem Weg nach Osnabrück. Als ich das Auto in der Einfahrt unseres Hauses neben der Garage parkte, klingelte das Autotelefon. Ein Korrespondent der Hannoverschen Allgemeinen war dran: Ihr Stellvertreter hat gerade ein Strategiepapier verkündet, das eine massive Kritik an Ihnen beinhaltet, was sagen Sie zu dem Papier von Herrn Busemann? Ich begrüße das Papier, sagte ich, es ist wunderbar, wenn sich Menschen Gedanken machen, selbstverständlich werden wir dieses Papier in den Gremien umfassend beraten, es ist sicher ein wichtiger Denkanstoß. Beerdigung durch Belobigung.

Am nächsten Tag wurde Busemann in einem Pressegespräch deutlicher. Die CDU dürfe nicht noch einmal so unvorbereitet und konzeptionslos wie beim letzten Mal in eine Landtagswahl gehen. Dann entwickelte er ein paar Ideen zur Privatisierung von Häfen, zur Zuordnung des Landwirtschaftsministeriums zum Wirtschaftsministerium (im Agrarland Niedersachsen!) und zur Erhebung von Studiengebühren. Seine wichtigste Empfehlung lautete, dass sich die CDU von der FDP abkoppeln müsse, weil diese 2003 voraussichtlich nicht mehr in den Landtag einziehen werde. Und dann ließ er noch den schönen Satz fallen: «Wulff ist von der Papierform her der Spitzenkandidat ». Diese Steilvorlage ließ sich der Fraktionsvorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, nicht entgehen: Offenbar werde Wulff in seiner eigenen Partei nur noch als «Papiertiger» gehandelt. (...)

Was sich genau am 16. Februar in Hannover abspielte, kann ich lediglich aus Aussagen Dritter rekonstruieren. Ich selbst habe weder an diesem Tag noch sonst je mit einem der Beteiligten über meinen Fall gesprochen. Das erschien mir unangemessen. Ich wollte die Unabhängigkeit der Justiz keinen Moment in Abrede stellen. Bild- Redakteur Heidemanns war an diesem Tag offenbar eigens nach Hannover gefahren, um letzte Hand anzulegen. Gegen Abend war er zurück in Berlin und traf sich um 19.00 Uhr bei einem Italiener am Kurfürstendamm erstmals mit David Groenewold und dessen Anwalt. Er käme gerade von der Staatsanwaltschaft in Hannover, sagte er vieldeutig. Ob man solchen Aufschneidereien Glauben schenkt oder nicht: Die Presseinformation zum Antrag auf Aufhebung meiner Immunität erhielt am Abend, kurz nach 19.00 Uhr, zuerst Bild. Die Zeitung scheint so gedrängt zu haben, dass man in der Staatsanwaltschaft Hannover offenbar den Grundsatz vergaß, erst den Betroffenen zu unterrichten.

Am Vormittag des 16. Februar saßen beim niedersächsischen Justizminister Bernd Busemann Staatssekretär Oehlerking, der Strafrechtsabteilungsleiter Lüttig sowie Vertreter der Staatsanwaltschaften Hannover und Celle. Die Staatssekretärin aus dem Finanzministerium rief im Auftrag ihres Ministers an diesem Morgen an. Sie informierte Staatssekretär Oehlerking, der aus der Sitzung kam, dass das Finanzministerium nachweisen könne, dass ich mit einer Bürgschaftszusage aus dem Jahr 2006 im Zusammenhang mit David Groenewold nichts zu tun gehabt hätte. Wo man die entsprechenden Akten hinbringen solle? Daraufhin wurde ihr gesagt, dass die Würfel gefallen seien, die Aufhebung der Immunität werde noch am selben Tag beantragt. Die Staatsanwaltschaft Hannover habe die Entscheidung «unabhängig nach intensiver kollegialer Beratung getroffen», hieß es am Abend in der Pressemitteilung. Das war an sich schon ungewöhnlich. Vorsichtshalber fügte man hinzu: «Weisungen vorgesetzter Behörden hat es nicht gegeben». (…)

Der 16. Februar war Weiberfastnacht, am Nachmittag fand in der Kantine des Bellevue eine Feier statt, an der ich ursprünglich teilnehmen wollte. Von 12.30 Uhr bis 14.00 Uhr führte ich mit Journalisten ein Hintergrundgespräch über den Euro und die EZB. Anschließend diskutierte ich mit Mitarbeitern des Bundespräsidialamtes meine Rede für die Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt am 23. Februar. Nach meinem Rücktritt erfuhr ich, dass kurz nach 16.00 Uhr Ministerpräsident McAllister die Bundeskanzlerin an gerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass der Antrag gestellt werde. Etwa anderthalb Stunden später erhielt das Bundespräsidialamt einen Anruf von Professor Gerd Langguth, der Deutschlandfunk habe ihn für den Abend zu einem Interview über die Folgen der Aufhebung der Immunität gebeten; dies war für mich der erste Hinweis, dass der Antrag erfolgen würde.

Immunitäten von Abgeordneten werden jeden Monat aufgehoben, meistens geht es um Verkehrsdelikte. Die Staatsanwaltschaft darf dann ermitteln, der Betreffende macht seine Arbeit weiter. Das gleiche gilt für Minister und Ministerpräsidenten. Der bekannteste Fall in letzter Zeit war die so genannte Sprecher-Affäre der Ministerpräsidentin von Thüringen, Christine Lieberknecht. Ihr wurde vorgeworfen, im Sommer 2013 ihren Regierungssprecher in den einstweiligen Ruhestand versetzt zu haben, um ihm eine Anschlusstätigkeit in der Privatwirtschaft zu ermöglichen; durch diese Art der Entlassung seien zu hohe Versorgungsansprüche des Beamten begründet worden. Die Untreue-Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Erfurt wurden am 3. Februar 2014 eingestellt. Ein Beamter, der wegen eines Strafverfahrens seine Tätigkeit ruhen lassen muss – auch das sei hier erwähnt –, hat im Falle eines Freispruchs das Recht auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.

Ein Bundespräsident kann weder bei einem Anfangsverdacht noch nach einem Freispruch so argumentieren wie Abgeordnete und Beamte, er ist in dieser Hinsicht schlechter gestellt. Es war für mich politisch undenkbar, nach Aufhebung der Immunität meine Amtsgeschäfte weiterhin wahrzunehmen. Rechtlich wäre das möglich gewesen. Die Verfassung nennt als einzigen möglichen Grund für eine Amtsenthebung des Bundespräsidenten die vorsätzliche Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes. Die Kommentare der Staatsrechtler zu Artikel 61 GG sind eindeutig: «Die Verletzung kann nur durch eine Amtshandlung erfolgen, private Tätigkeiten und Handlungen fallen nicht in den Anwendungsbereich von Art 61 GG.» Die Verletzung der Amtshandlung muss in die Amtszeit als Bundespräsident fallen.

Einen kurzen Moment habe ich mir die Frage gestellt, ob die Mitglieder des Immunitätsausschusses des Deutschen Bundestages eine Beratung des Schreibens der Staatsanwaltschaft Hannover in Betracht ziehen und erwägen könnten, wegen der Dürftigkeit der Verdachtsmomente dem Verlangen der Staatsanwaltschaft Hannover nicht nachzugeben. Es handelte sich um Vorwürfe aus meiner Zeit als Ministerpräsident, die in Frage stehende Summe belief sich auf insgesamt 2500 Euro. Vergehen solcher Geringfügigkeit werden in vielen Staaten nach Ende der Amtszeit (unter Aufhebung der Verjährung) geklärt. Warum nicht auch in Deutschland? Die Antwort war einfach: Weil keiner in den Reihen der Regierungsparteien das Lärmen der Opposition – nicht zu reden von der Empörung der Medien – auch nur einen Tag durchgestanden hätte. Deshalb rief ich die Bundeskanzlerin in dem Moment an, als mir der Antrag auf Aufhebung der Immunität bekannt wurde, und teilte ihr mit, dass ich am nächsten Morgen meinen Rücktritt erklären werde. Am Freitagmorgen vor 8.00 Uhr, bevor die Eilmeldung der dpa zur bevorstehenden Demission über die Schirme lief, unterrichtete ich auch Horst Seehofer für die CSU und Philipp Rösler für die FDP von meiner Entscheidung.

Kein Weg führte an der Erkenntnis vorbei, dass ich die Auseinandersetzung verloren hatte. Unser Land brauche einen Präsidenten, der sich uneingeschränkt seinen Aufgaben widmen könne, sagte ich in meiner Rücktrittserklärung kurz nach 11.00 Uhr, «einen Präsidenten, der vom Vertrauen, nicht nur einer Mehrheit, sondern einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger getragen wird. Die Entwicklung der vergangenen Tage und Wochen hat gezeigt, dass dieses Vertrauen und damit meine Wirkungsmöglichkeiten nachhaltig beeinträchtigt sind… Was die anstehende rechtliche Klärung angeht, bin ich davon überzeugt, dass sie zu einer vollständigen Entlastung führen wird. Ich habe mich in meinen Ämtern stets rechtlich korrekt verhalten. Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig. Die Berichterstattungen, die wir in den vergangenen zwei Monaten erlebt haben, haben meine Frau und mich verletzt.»

Am Nachmittag dieses 17. Februar fuhren meine Frau und ich mit unseren Kindern Linus und Leander nach Großburgwedel, in jene «hundselendigliche Gegend» (Voltaire), in die meine Kritiker aus FAZ und Welt und Spiegel mich seit meiner Nominierung im Juni 2010 zurückwünschten. Als die Bild-Zeitung anderthalb Jahre später auf diese Linie einschwenkte – aus Gründen, die offenbar in meiner Haltung zum Islam und im persönlichen Ehrgeiz ihres Chefredakteurs zu suchen waren –, geriet ich mehr als in Bedrängnis. 598 Tage hatte ich alles gegeben. 67 Tage hatte ich gegen alle öffentlich erhobenen Vorwürfe standgehalten. Dann war es vorbei.

  Christian Wulff: Ganz oben ganz unten, C.H. Beck, 2014, 259
  Seiten, 19,95 Euro.

 

 

 

 

 

 

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