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(picture alliance) Julia Schramm zog sich nach massiver Kritik an ihrer Person vom Vorstandsamt zurück

Rücktritte bei den Piraten - Niemand braucht eine Mobbing-Partei

Ohne Sekundärtugenden kommt keine Partei aus – schon gar nicht eine solche mit dürftigen Inhalten. Die Rücktritte der Bundesvorstände Julia Schramm und Matthias Schrade sollten die Piraten zum Anlass nehmen, von der FDP zu lernen

Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Niedergang der Piratenpartei nahm seinen Lauf mit dem ZDF. Nicht etwa, weil CSU-Sprecher Hans Michael Strepp nach der ominösen Anruf-Affäre zurücktreten musste – das wäre eher ein Vorfall gewesen, der den Piraten scharenweise neue Mitglieder und Wähler hätte zutreiben müssen. Nein, es war das neueste ZDF-Politbarometer. Es machte den dramatischen Absturz der Partei aktenkundig: Vier mickrige Prozent würde sie nur noch erhalten, wenn morgen Bundestagswahlen wären.

Die Piraten sind also genau dort angekommen, wo die FDP derzeit ist: ganz unten. Oder besser gesagt: draußen. Nicht im Bundestag.

Die Basis und die potenzielle Wählerschaft hat es mit Schrecken aufgenommen. Das anfängliche Murren im Orchestergraben wich einem Crescendo, am Freitag schließlich einem Fortissimo. Mit Julia Schramm und Matthias Schrade kündigten gleich zwei Vorstandsmitglieder ihren Rückzug aus der Parteispitze an.

Es ist ein Niedergang, der seine Ursache im ganz Persönlichen hat. In solchen einst von Oskar Lafontaine als „Sekundärtugenden“ geschmähten Umgangsformen. Höflichkeit, Ordnung, Rechtschaffenheit. Und Fleiß. Der Wähler verzeiht vielleicht den Verzicht auf das ein oder andere, er akzeptiert Streit – sachlichen, inhaltlichen – als Notwendigen demokratischen Wettstreit. Aber nicht, wenn er in Rachefeldzügen und Intrigen ausartet. So haben sich die Verbalattacke von Ronald Pofalla, der seinem Parteikollegen Wolfgang Bosbach zuraunte, „ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“, oder der unflätige Ausraster Wolfgang Schäubles gegen seinen Pressesprecher ins kollektive Gedächtnis eingefräst.

Wie aber konnte es bei den Piraten so weit kommen?

Der frühere Bundesvorsitzende Sebastian Nerz – heute Stellvertreter – sprach einmal von „Mobbing“. Nerz war im April, kurz vor seiner Abwahl, bei der Berliner Fraktion in Ungnade gefallen. Und es scheint bei den Piraten eine gewisse Tradition zu haben, dass jeder, der einen Chefposten innehat, sich diesem Mobbing aussetzen muss.

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Im Bundesvorstand sind es derzeit gleich mehrere Figuren: Da wäre der politische Geschäftsführer Johannes Ponader. Der Theaterpädagoge ist immer mal wieder auf Hartz IV angewiesen und hatte sich dafür eine Rüge der Bundesagentur für Arbeit eingehandelt. Er präsentierte sich in Talkshows – und stieß damit auf den Widerstand vieler Piraten. Im Netz wurde er immer wieder angefeindet, zuletzt mehrten sich Rücktrittsforderungen.

Matthias Schrade, Beisitzer im Bundesvorstand, erklärte, er habe sich gewünscht, dass Ponader „seine Konsequenzen aus der regelmäßig von allen Kollegen vorgebrachten Kritik“ ziehe. Stattdessen habe dieser sich „als weitgehend beratungsresistent und absolut nicht teamfähig“ gezeigt. Von Höflichkeit keine Spur.

Seite 2: Aus Schramms Worten spricht tiefe menschliche Verletzung

Ponader räumte ein, „in den vergangenen Monaten selbst einige Fehler gemacht“ zu haben. Er warnte, die Partei vertrage weder permanenten Streit und noch „den Versuch, Unterschiede durch Machtkämpfe zu nivellieren“.

Eine weitere polarisierende Figur war Julia Schramm, ebenfalls Beisitzerin. Mit ihrem Buch „Klick mich“ hatte sie für negative Furore gesorgt. Für das Buch soll sie 100.000 Euro im Voraus eingestrichen haben. Als ein Unbekannter einen Link zu einem kostenlosen Download im Netz verbreitete, ließ Schramm die illegale Seite im Auftrag ihres Verlages sperren. Zuvor hatte Schramm geistiges Eigentum stets als „ekelhaft“ bezeichnet.

Schramm geriet in einen sagenhaften Shitstorm – sie selbst spricht von „Stuhlgewitter“. Das allein sei aber nicht der Grund ihres Rückzugs gewesen, erklärte sie schriftlich. „Dass jedoch jeden Tag mehr die Anpassung meines Denkens und Handelns an eine alte Politikervorstellung notwendig zu werden scheint, die ich ablehne und nicht bereit bin zu vollziehen, ist ein Umstand, dem ich mich nicht länger aussetzen möchte.“

Aus diesen Sätzen spricht mehr als der Frust einer abgewatschten Politkarrieristin. Es ist tiefe menschliche Verletzung.

Der Fraktionschef der saarländischen Piraten, Michael Hilberer, sieht Versäumnisse nicht nur im Vorstand, sondern in der ganzen Partei. „Bei der Frage nach Ponaders Hartz-IV-Bezügen wäre es an uns gewesen, die Frage nach der Solidarität in der Gesellschaft zu stellen.“ Und bei der Debatte um Julia Schramms Buch habe es die Partei versäumt, das Thema Urheberrecht zu diskutieren. „So etwas darf uns eigentlich nicht passieren.“

Das sei auch den Strukturen geschuldet, ergänzte Hilberer. „Die Ansprüche an die Bundespartei gleichen denen an eine professionelle Fraktion.“ Die ehrenamtlichen Vorstände könnten das jedoch nicht leisten. „Deswegen müssen wir so schnell wie möglich zu bezahlten Vorständen kommen.“

Dass diese Forderung in Vier-Prozent-Zeiten kühn ist, versteht sich von selbst. Und sie übersieht, dass die Partei auch bei den Sekundärtugenden zu einem Neustart kommen muss.

Seite 3: Echter Fleiß sieht anders aus

Der Bundesvorsitzende Schlömer interpretierte die Statements von Schramm und Schrade insofern richtig, als er sagte, dass die persönliche Entscheidung der beiden „weit über das hinaus geht, was die Partei zur Zeit bewegt“. Aber er lag falsch in der Annahme, dass es noch ein anderes „Was“ gebe, das die Partei bewege. Das gibt es aber nicht. Nein, es ist genau das, was Schramm und Schrade verschreckte und an der Basis bereits die ersten Ehrenamtlichen verjagte: der persönliche Umgang miteinander, die menschlichen Tragödien, die die Medien gierig als Soap Opera ausschlachten.

Nicht einmal inhaltlich hat die Partei dem derzeit etwas entgegenzusetzen. Eigentlich hätten die Piraten in diesen Wochen thematisch regelrecht abräumen müssen: Nicht nur der CSU-ZDF-Skandal, sondern auch die Diskussionen um die Nebenverdienste des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, um die Heuchelei von Schwarz-Gelb und um die Abgeordnetenbestechung boten eine Steilvorlage. Einzig in den (bezahlten) Fraktionen tut sich noch was, etwa in Kiel, wo die Abgeordneten lustige Meldungen produzierten, weil sie alte Schreibmaschinen in den Landtag mitbrachten, gegen das Verbot anonymer Handy-Prepaid-Karten vor den Europäischen Gerichtshof zogen oder für offene Ausschüsse kämpften. Oder in Berlin, wo Martin Delius – der zuvor einen Shitstorm wegen eines umstrittenen Nazi-Vergleichs über sich ergehen lassen musste – kühlen Kopfes den Untersuchungsausschuss zum Hauptstadtflughafen leitet.

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Doch aus dem Bund kam: nichts. Keine neuen Inhalte. Keine Stellungnahme aus der Bundespartei zu Horst Seehofer. Nichts zum Einfluss der Politik auf die öffentlich-rechtlichen Sender. Der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer fand mehr Worte zu den Hanfplanzen seines Stellvertreters als zur Debatte um die Nebeneinkünfte. Stattdessen ein Verwirrspiel ums Urheberrecht. Echter Fleiß – das Programm für ein Land, ein Europa in der Krise – sieht anders aus.

Nicht einmal mehr ihre eigene IT hat die Partei im Griff. Der Live-Stream, in der Schlömer am Freitag vor der Presse eine Erklärung abgab, brach unter dem Ansturm zusammen. Während die Piraten auf Twitter über ihre Zukunft debattierten, schickte der Berliner Fraktionschef ein Foto zweier Schuhe an seinen Füßen: „Links oder rechts?“, Armani oder Boss? Besser hätte er nicht demonstrieren können, wie kalt ihn die Rücktrittsdebatte ließ. Der SPD-Netzpolitiker Lars Klingbeil fragte im Twitter: „Gibt’s die Piraten noch?“

Vielleicht hilft an dieser Stelle doch noch einmal der Blick zum Leidensgenossen FDP. Wir erinnern uns: Ende 2010, Anfang 2011 hatten die Attacken gegen den Ex-Parteivorsitzenden Westerwelle einen Höhepunkt erreicht. Er wurde von Rösler, Bahr und Lindner im April weggeputscht. Schließlich rollte auch Lindners Kopf – und wie lange sich Rösler jetzt noch hält, ist auch völlig offen. Mit ihrem brutalen internen Mobbing hat die FDP die Schlagzeilen beherrscht, ihre Themen vernachlässigt, und sich schließlich fast selbst obsolet gemacht.

Dass sich die Piraten ausgerechnet die Liberalen zum Vorbild nehmen, hätte wohl auch niemand gedacht. Dabei braucht eine Partei, die sich selbst zerfleischt, eigentlich kein Mensch.

Hinweis: In einer früheren Version hieß es, die Kieler seien gegen anonyme Handy-Prepaid-Karten vor den EuGH gezogen. Tatsächlich klagen sie gegen das deutsche Verbot. Der Fehler wurde korrigiert.

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