- Europas kleines schmutziges Geheimnis
Das Unheil der europäischen Schudenkrise nahm in Deutschland seinen Lauf: Die Niedrigzinspolitik der EZB nach dem Dotcom-Crash half vor einem Jahrzehnt vor allem der deutschen Wirtschaft – und stürzte Europas Peripherie ins Verderben
Die Spanier sind faul. Die Portugiesen und Italiener sowieso. Und die Iren trinken hauptsächlich. Ihrem eigenen Schlendrian haben es diese Länder zu verdanken, dass ihre Staatsschulden heute untragbar hoch sind, sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben und sie in der Krise stecken. Die Deutschen dagegen sind die erfolgreichen Exporteure. Global wettbewerbsfähig wie kaum eine andere Nation. Diesen Status haben sie sich selbst erschaffen, mit harten Strukturreformen im eigenen Arbeitsmarkt. Wenn die Welt doch bloß so einfach wäre.
Leider ist alles etwas komplizierter. Die heutige Stärke
Deutschlands und die Schwäche Spaniens, Irlands, Portugals und zum
Teil auch Italiens ist eine direkte Folge der Einführung der
Gemeinschaftswährung im Jahr 1999 sowie der Politik der
Europäischen Zentralbank nach der Jahrtausendwende. Griechenland
wird in der Aufzählung bewusst nicht aufgeführt, denn dort ist die
Lage tatsächlich verbockt.
Blenden wir also zurück, ins Jahr 2000: Deutschland war damals der
kranke Mann Europas, der es kaum mehr zu schaffen schien,
Wachstumsraten von mehr als 2 Prozent zu erreichen. Das
Platzen der Technologieblase im Frühjahr 2000 traf die Deutschen
besonders hart: Der zuvor hochgejubelte Neue Markt in Frankfurt
brach um 96 Prozent ein.
Als Folge dieses Schocks fiel die deutsche Wirtschaft 2002 und
2003 in eine sich selbst verstärkende Abschwungphase. Es handelte
sich dabei nämlich nicht um eine normale, harmlose Abkühlung,
sondern um eine Bilanzrezession. Ein Land kann in eine
Bilanzrezession fallen, wenn es zuvor einen exzessiven privaten
Schuldenaufbau durchlebt hat. Kippt dann die Stimmung und kühlt
sich die Wirtschaft des Landes ab, setzt das „Sparparadox“ ein: Die
privaten Haushalte oder die Unternehmen sind plötzlich mit zu hohen
Schulden belastet und versuchen, sie abzubauen. Jeder agiert für
sich rational; er erhöht seine Sparquote und zahlt Schulden zurück.
Wenn das aber alle gleichzeitig tun, sackt die Nachfrage in der
Volkswirtschaft in sich zusammen. Was damals in Deutschland
geschah, hat Richard Koo, der Leiter des Nomura Research Institute
in Tokio, in einer aktuellen Studie beschrieben (siehe Grafik
„Finanzierungssaldi Deutschlands“).
Die Kurven zeigen die Finanzierungssaldi der vier Nachfragesektoren
in einer Volkswirtschaft (Haushalte, Unternehmen, Staat, Ausland).
Speziell zu beachten sind die rote und die blaue Kurve. Sie zeigen,
wie die privaten Haushalte und besonders die Unternehmen in
Deutschland nach dem Schock von 2000 ihre Sparquote deutlich
erhöhten – im Fall der Unternehmen von minus 5 Prozent
auf plus 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese
Bewegung entzog der deutschen Volkswirtschaft nach Berechnungen
Koos zwischen 2000 und 2005 eine aggregierte Nachfrage von
12,6 Prozent des BIP.
Seite 2: Deutschland drohte Deflation
Deutschlands Inflationsrate fiel damals auf deutlich unter 1 Prozent, das Land drohte in die Deflation abzugleiten. Was tat die Europäische Zentralbank (EZB) dagegen? Sie riss die geldpolitischen Schleusen auf. Zwischen 2001 und 2003 senkte die Zentralbank den Leitzins von 4,75 Prozent auf ein Nachkriegstief von 2 Prozent und beließ den Satz dort.
Diese Maßnahme rettete Deutschland. Und sie stürzte Irland, Spanien und Portugal ins Verderben. Deren Volkswirtschaften nämlich steckten nicht in einer Bilanzrezession, und die Niedrigzinspolitik der EZB ließ sie überhitzen. Spanien und Irland verzeichneten zwischen 2001 und 2007 im Schnitt jährliche Konsumpreis-Inflationsraten von deutlich über 3 Prozent pro Jahr, während es in Deutschland weniger als 1,7 Prozent waren. Wie Richard Koo in seiner Studie nachweist, stiegen die Immobilienpreise in Spanien zwischen 2000 und 2005 sogar um 107 Prozent, in Irland schossen sie um 76 Prozent in die Höhe. In Deutschland fielen sie dagegen um 8 Prozent.
Und als direkte Konsequenz der divergierenden Inflationsraten begannen auch die Arbeitskosten auseinanderzuklaffen (siehe Grafik „Lohnkosten in den wichtigsten Ländern der Eurozone“). Es war in diesen verhängnisvollen Jahren zwischen 2000 und 2005, als die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Peripheriestaaten, ganz besonders Spaniens und Irlands, ruiniert wurde.
Sie wurde geopfert, um Deutschland zu retten. Bezeichnenderweise
argumentierten deutsche Ökonomen wie Hans-Werner Sinn und Axel
Weber damals, einige Länder in Europa müssten höhere
Inflationsraten erdulden, damit die EZB sicherstellen könne, dass
kein Land – gemeint war in diesem Fall Deutschland – in
eine Deflation abgleite. Weber kam in seinem Papier sogar zu dem
Schluss, dass Inflationsdivergenz innerhalb der Eurozone kein
Problem darstelle.
Deutsche Politiker argumentieren heute oft und gerne, ihre
Wirtschaft sei so wettbewerbsfähig, weil zwischen 2003 und 2005
harte Reformen am Arbeits- und Dienstleistungsmarkt durchgesetzt
wurden. Diese waren gewiss nötig, und Deutschland hat allen Grund,
stolz darauf zu sein. Bloß, ist das wirklich die einzige
Erklärung?
Ein Blick auf den Saldo der deutschen Handelsbilanz (siehe Grafik) mit den Ländern der Eurozone, den USA und Asien: Nach der Einführung des Euro und der extrem lockeren Geldpolitik der EZB zwischen 2001 und 2004 schwollen vor allem Deutschlands Handelsüberschüsse mit den anderen Euroländern an. Wäre Deutschland nach den eigenen Marktreformen tatsächlich weltweit wettbewerbsfähiger geworden, hätten auch die Überschüsse im Handel mit den USA und Asien steigen müssen. Das taten sie aber erst ab 2010.
Nein, die Sache ist profaner: Deutschland fand zu neuer Stärke, weil es die Handelsüberschüsse mit den anderen Euroländern massiv erhöhen konnte. Deutschland wurde in Europa wettbewerbsfähiger, weil die Peripheriestaaten als Folge der EZB-Politik wettbewerbsunfähiger wurden. Das ist das kleine schmutzige Geheimnis der heutigen Eurokrise.
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