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(picture alliance) Manchmal reicht es, wenn die Kanzlerin einfach zuhört

Angela Merkel - Die Kummerkastentante der Nation

Der „Dialog über Deutschland“ ist das große Imageprojekt der Kanzlerin gegen die Politikverdrossenheit. Sie sucht das Gespräch mit den Wutbürgern. Während die Opposition schon Wahlkampf wittert, zeigen die Diskussionen vor allem eins: Manchmal tut es einfach gut, wenn die Politik zuhört – auch wenn die Kanzlerin ihnen nicht helfen kann

Selbstbewusst greift Jonas Lesch zum Mikrofon. Es ist soweit. Endlich darf der 25-jährige Student aus Stralsund Angela Merkel eine Frage stellen: Demnächst habe er seinen Master in Energie- und Umweltmanagement in der Tasche. Wenn er bis zum 36. Lebensjahr eine Familie gegründet, ein Haus und ein Auto gekauft haben will, brauche er einen Job, auf den er sich länger als ein paar Jahre verlassen könne. Doch wo finde man den auf dem Arbeitsmarkt?
Die Kanzlerin nickt. Merkel hört zu, Merkel versteht. Und sie stellt klar, wie der Arbeitsmarkt sich in dieser Hinsicht verändert. Er solle versuchen, das als Chance zu begreifen: „Neu ist, dass man sich darauf einstellt, drei bis vier Mal im Leben umzuziehen“, erklärt die Kanzlerin, „Es wird in der Tat Flexibilität verlangt. Ich fürchte, alle Ängste kann ich Ihnen da nicht nehmen.“

Verständnis, Mitgefühl und gute Zusprache, das ist alles, was die Kanzlerin leisten kann. Und: Merkels Klarheit reicht Jonas. An diesem Nachmittag in Berlin ist er einer von 100 Bürgern, die Gelegenheit haben, mit Angela Merkel zu sprechen. Aus allen Landesteilen der Republik sind sie gekommen: Zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung hat der Deutsche Volkshochschulverband an 50 Orten in der Bundesrepublik Dialoge über die Zukunft Deutschlands begonnen. Aus diesen 50 Orten wurden 100 Abgesandte nach Berlin geschickt. Eine einmalige Gelegenheit – für Wutbürger, ihren Frust loszuwerden und für die Kanzlerin, diesen abzufedern, zuzuhören und Bürgernähe zu demonstrieren.

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Es ist Merkels Versuch, gegenzusteuern: Seit 2010 protestieren Bürger bundesweit gegen Stuttgart 21, Sarrazin, Banken, ACTA und Flugrouten in Berlin und anderswo. Mit ihrer Bezeichnung als „Wutbürger“ haben sie es sogar zum Wort des Jahres 2010 gebracht. Die Skandale um die Herren zu Guttenberg, Wulff und co. haben diese Tendenz der Politikverdrossenheit noch verstärkt. Spätestens mit den Erfolgen der Piratenpartei, die mehr Teilhabe der Bürger am demokratischen Prozess fordert, ist auch den etablierten Parteien klar geworden, dass sie die Bürger mit konventionellen Konzepten nicht mehr erreichen. Und während andere Politiker den Kontakt über soziale Netzwerke suchen, ihren Tag entlang twittern oder Facebook-Partys schmeißen, hat Angela Merkel 2011 das Projekt „Dialog über Deutschland“ initiiert. Dass sie damit auch eine Medikation des Wutbürgertums in die Testphase bringt, kann wohl kaum geleugnet werden. Ist das der Schlüssel zur Bürgernähe, werden viele Politiker folgen.

Die Veranstaltungsreihe der Bertelsmann-Stiftung und der Volkshochschulen war die letzte Säule des von ihr 2011 ins Leben gerufenen Projekts „Dialog über Deutschland“. Dazu gehörten außerdem eine Gesprächsrunde der Kanzlerin mit 150 Experten, drei regionale Bürgerforen in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld, sowie ein Internetforum, in dem Vorschläge eingereicht und bewertet werden konnten.

„Wahlkampftaktik!“, skandierte die Opposition damals sofort. Doch während SPD und Grüne sich noch aufregten, stellte sich die Kanzlerin nach dem Vorbild amerikanischer Town-Hall-Meetings in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld bereits den direkten Fragen der Bürger. Im Kern ihrer Initiative standen drei Fragen, die Zukunft Deutschlands und der Deutschen betreffend: 1. Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? 2. Wovon wollen wir in Zukunft leben? 3. Wie wollen wir in Zukunft lernen? Es ging der Kanzlerin um eine längerfristige Perspektive für das Land, als die kurzfristige, die den Politikalltag prägt: „Wenn ich so durch die Welt fahre, dann sehe ich, dass sich andere ziemlich viel anstrengen und da müssen wir uns auch ein bisschen anstrengen: Womit können wir unseren Wohlstand erhalten?“ Sie hat in der Welt gesehen, dass den Letzten die Hunde beißen. Und sie hasst Hunde.

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Doch die Probleme der deutschen Bürger liegen im Hier und Jetzt: Es geht um Mitfahrgelegenheiten zum Nachmittagssport für die Kinder, um eine barrierefreie Welt für Rollstuhlfahrer, um besser ausgebildete Lehrlinge fürs Handwerk, um Anti-Aggressionstrainings für Lehrer, um die Möglichkeit von Mehrgenerationen- und Mehrnationenhäusern. Aufmerksam hört Merkel zu, konzentriert und demonstrativ fasst sie nach jedem Beitrag zusammen, was sie mitnimmt nach Berlin. Für manchen eine Überraschung: Bei der „eisernen Kanzlerin“ menschelt es authentisch. Sie bemüht sich erkennbar, die Anliegen der Menschen aus dem manchmal wirren Gerede herauszuhören und sorgt mit ihrem trockenen Humor für den einen und anderen Lacher. Eine Merkel zum Anfassen – Momente, die vergessen machen, dass es eine Opposition im Land gibt. Über andere Politiker oder Parteien verliert sie fast nie ein Wort.

Und doch sind die Beiträge der Bürger vermutlich selten das, was sie sich für dieses Projekt vorgestellt hatte. Zu oft kommen sie mit Problemen, deren Handhabe nicht in Merkels Macht steht. Wie zum Beispiel das Thema Bildung: Bereits in Erfurt, Bielefeld und Heidelberg wurde gefordert, sie solle sich um die Schulbildung kümmern, sie zur Chefsache machen. So auch am Mittwoch in Berlin. Vorsichtig verweist Merkel darauf, dass sie in der föderalistischen Bundesrepublik darauf nur begrenzten Einfluss nehmen könne. Immerhin habe sie mit den Bundesländern die Einigung erlangt, dass diese es sich zum Ziel machen, die Zahl der Schulabbrecher zu halbieren, die Abschlüsse einheitlicher zu gestalten und Berufsausbilder in die Schulen zu schicken. Als sie sich dermaßen in die Bildungspolitik einmischte, habe sie „schon mancher ziemlich schräg angeguckt“.

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Doch das Argument Bildungsföderalismus zieht nicht. Dann solle sie sich halt eine 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat besorgen, die Verfassung ändern und die Sache selbst in die Hand nehmen, lautet der rigorose Vorschlag aus dem Publikum. Beifall! – die Menschen im Saal würden ihr in diesem Moment alles anvertrauen. Merkels Kalkül geht auf.

Was Merkel daraus machen wird, ob am Ende jemals Einwürfe dieser Bürgergespräche in ihrer Politik wiederzuerkennen sind, ist die spannende Frage, die bleibt. Vorerst, so die Kanzlerin, müssten alle rund 11.000 Vorschläge gesichtet werden. Zu Beginn des Projekts hatte sie versprochen, die zehn Bürger, deren Vorschläge im Internet am besten bewertet wurden, ins Bundeskanzleramt einzuladen. Auf Platz zwei liegt da derzeit das Legalisieren von Cannabis. Der Bonbon klebt ihr jetzt an der Bluse, genauso wie Platz eins: ein „Gesetz zur Leugnung des Völkermordes an Armeniern und Aramäern“. Über all das wird dann im August schließlich ein Buch veröffentlicht, ein Fest gefeiert und auch verkündet werden, welche Vorschläge in welchem Ministerium umgesetzt werden.

Zum Schluss meldet sich dann noch Susanne aus Senftenberg. Ihr brenne es auf dem Herzen, dass Laboranten in West und Ost nicht den selben Lohn bekämen. Dass das Thema 45 Minuten früher bereits behandelt wurde, scheint sie nicht zu kümmern. Merkel zeigt wieder Verständnis, doch auch hier ist der Einfluss der Kanzlerin beschränkt: „Ich muss ja auch sagen, was ich nicht kann. Und ich kann nicht Befehlen: Für alle Laborantinnen den gleichen Tarifvertrag! Das müssen Gewerkschaften aushandeln“, erklärt sie die Zuständigkeiten. Dann schiebt sie hinterher: „Aber ich verstehe ihren Wunsch!“ Manchmal ist das schon alles, was ein Bürgerherz braucht.

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