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(picture alliance) Den Opfern verpflichtet. Der NSU-Untersuchungsausschuss

NSU-Ausschuss - Den Aufklärern läuft die Zeit davon

Vor einem Jahr flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. Die Politiker im Berliner Unter­suchungsausschuss wollen einen neuen Stil prägen: Aufklären statt sich aufplustern. Doch angesichts der Unmengen an Polizei- und Geheimdienstakten läuft ihnen die Zeit davon

Yavuz Narin hastet zum Eingang des Glas-Beton-Kolosses am Spreeufer hinter dem Reichstag. Er will pünktlich im Paul-Löbe-Haus sein, heute, immer. Ab 10 Uhr wird ein weiterer ehemaliger Verfassungsschützer vernommen, der erklären soll, warum die Neonazis des NSU mehr als zehn Jahre ungestört raubend und mordend durchs Land ziehen konnten.

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Narin hat sich den orangefarbenen Bundestagsgastausweis an den Gürtel seiner schwarzen Anzughose geclipt. Der Aufzug bringt ihn in den fünften Stock, Besuchertribüne. Er setzt sich in die erste Reihe, wo man den besten Blick auf das hat, was sich ein Stockwerk tiefer in dem 250 Quadratmeter großen Saal 4.900 abspielt. An einem Tisch sitzen 22 Abgeordnete, gewappnet mit Akten, mit denen sie den Ex-Geheimdienstmann konfrontieren. Der gerät rasch in die Defensive, spricht von „Fehleinschätzungen“, bedauert. 

Siebeneinhalb Stunden und zwei Zeugen später, wenn die meisten Journalisten längst gegangen sind, wird Yavuz Narin noch auf der Besuchertribüne sitzen und sich mit seiner geschwungenen Schrift Notizen in ein Ringbuch machen. Gut zwei Dutzend hat er vollgeschrieben, seit der Ausschuss im Januar eingesetzt wurde. Narin ist immer da, als wollte er diesen Staat beaufsichtigen wie ein gefährliches Tier.

Der 34 Jahre alte Rechtsanwalt vertritt die Familie eines Opfers der Zwickauer Zelle. Der Grieche Theodoros Boulgarides hatte einen Schlüsseldienst im Münchner Westend, im Juli 2005 wurde er in seinem Laden erschossen. Narin war schon Anwalt der Familie, als die Polizei noch ahnungslos war. Bis vor einem Jahr, am 4. November 2011, in Eisenach nach einem Banküberfall die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden wurden; wenige Stunden später explodierte in Zwickau das Haus, in dem die beiden mit ihrer Komplizin Beate ­Zschäpe gewohnt hatten. Und das Vertrauen in die Behörden implodierte. Es gab Debatten und Gedenkstunden, der Staat bemühte sich um die Opfer. Von einer „Schande für unser Land“ sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gedenkfeier für die Ermordeten im Februar.

Seite 2: Die große Show kann sich dieser Ausschuss nicht leisten

Saal 4.900 im Paul-Löbe-Haus ist der Ort, an dem die Schande ein Stück weit wiedergutgemacht werden könnte, indem die Abgeordneten Zeugen vernehmen, Unmengen von Akten auswerten und aufklären – ohne in die üblichen Rituale der Profilierung zu fallen.

Typischerweise sind Untersuchungsausschüsse ein Mittel der Opposition, um die Regierung anzugreifen. „Ein Untersuchungsausschuss ist erstens ein Kampfinstrument, zweitens ein Kampfinstrument und drittens ein Kampfinstrument“, hat Joschka Fischer einmal gesagt. Mal sollte die CDU als quasi mafiöse Vereinigung entlarvt werden, mal die Grünen als Multikulti-Spinner, die osteuropäische Horden ins Land lassen, mal die SPD als willfährige Gehilfin finsterer US-Geheimdienstmachenschaften. Es geht um die Show. Und der Showdown ist das Kreuzverhör eines Ministers oder gar Kanzlers.

Dieser Ausschuss kann sich das nicht leisten. Eine Inszenierung, in der sich die Abgeordneten aufplustern und stolzieren wie die Gockelhähne, würde alles noch schlimmer machen. Aber kann es anders laufen? Ist ein Ausschuss möglich, der mit der eingeübten politischen Kultur bricht und dessen Mitglieder sich die parteitaktischen Reflexe verbieten? Jedenfalls ging es so los. Im Januar wurde auf Antrag aller Fraktionen, von Union bis Linkspartei, ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man werde „alles tun“ für eine „gründliche und zügige Aufklärung“, hieß es in dem Beschluss. Das ist das Versprechen.

Yavuz Narin, oben auf der Besuchertribüne, ist eine Art Bindeglied zwischen den Opfern und der Politik. An ihm kann man sehen, wie schwer es ist, das Vertrauen in den Staat wiederherzustellen. Für Narin ist dieser Fall wichtig, auch persönlich. Acht der zehn Mordopfer der NSU‑Terroristen hatten wie er türkische Wurzeln. „Der Staat hat sie alleine gelassen“, sagt er. Schlimmer noch: Jahrelang hatten die Ermittler die Opfer dem falschen Verdacht ausgesetzt, in kriminelle Machenschaften verstrickt zu sein und an ihrem Tod eine Mitschuld zu tragen. „So etwas darf sich nie mehr wiederholen.“

Der junge Anwalt hat keine der bald 50 Zeugenvernehmungen verpasst. Dieses Mal ist er am Abend vor der Ausschusssitzung nach Berlin gefahren, sechs Stunden war er auf der Autobahn. Meist ruft er nach den Vernehmungen Theodoros Boulgarides’ Witwe an und berichtet ihr von den Fragen, die aufgeworfen wurden. Und von den Abgründen, die sich aufgetan haben. 

Die Sitzungen dauern. Stundenlang lümmeln die Kameraleute auf den Lederpolstern vor dem Sitzungssaal herum. Auf dem Boden liegen zerlesene Bild-Zeitungen und leere Cola-Flaschen. Drinnen dürfen die Fernsehleute nicht filmen, höchstens zwei, drei Minuten vor den Zeugenvernehmungen. Deshalb müssen sie warten, bis die Türen aufgehen und sich die Abgeordneten nach draußen bewegen, zu den Mikrofonen neben dem Treppenaufgang. Innerhalb einer halben Minute steht ein Pulk Journalisten um die Politiker, Scheinwerfer werden angeworfen. Aufnahme läuft. 

In früheren Untersuchungsausschüssen hätte das, was dann kommt, so ausgesehen: Die Vertreter der Opposition hätten behauptet, die Befragung habe eindeutig gezeigt, dass Minister XYZ versagt habe und zurücktreten müsse. Und die Vertreter der Regierungskoalition hätten inbrünstig behauptet, die Befragung habe eindeutig alle Vorwürfe widerlegt. Rücktritt? Iwo!

Seite 3: "Der beste Untersuchungsausschuss als jeder andere zuvor"  

Im NSU‑Ausschuss läuft es anders. Wenn der Vorsitzende Sebastian Edathy und die fünf Obleute der Fraktionen sich vor die Kameras stellen, sind sie in ihren Einschätzungen erstaunlich nahe beieinander. Vielleicht formuliert Petra Pau von der Linkspartei ihre Kritik an den Behörden etwas schärfer als Clemens Binninger von der CDU. Aber in gefühlt 90 Prozent der Fälle geht sie in dieselbe Richtung. 

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„Dieser Untersuchungsausschuss arbeitet besser und effektiver als alle davor“, sagt Hans-Christian Ströbele von den Grünen. Er muss es wissen: Es ist sein vierter Untersuchungsausschuss, der erste befasste sich mit dem in die DDR übergelaufenen Verfassungsschützer Hansjoachim Tiedge. 1985 war das.Trotz seiner Prostatakrebserkrankung, die der inzwischen 73 Jahre alte Ströbele vor kurzem öffentlich machte, studiert er stundenlang Akten, führt Pressegespräche, sitzt manchmal bis kurz vor Mitternacht in den Zeugenvernehmungen.Ströbele ist nicht bekannt als einer, der den Parteienkonsens sucht. Aber in diesem Fall empfindet er die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit als Segen. Er verliert kein böses Wort über die Kollegen. Auch nicht über die von Union und FDP.

Wenn dieser Ausschuss ein „Kampfinstrument“ ist, dann nicht eines der Opposition gegen die Regierung, sondern eines des Parlaments gegen die Vertuschung. 

Schon jetzt ist durch die Arbeit des Gremiums mehr herausgekommen, als bei den meisten der über 50 Untersuchungsausschüsse in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Bild, das sich immer deutlicher abzeichnet, ist das einer katastrophalen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern.

Polizei und Geheimdienste haben sich nicht geholfen, sondern behindert. Die bayerische Sonderkommission „Bosporus“ versteifte sich jahrelang auf die These, dass die deutschlandweite Mordserie an Migranten einen Hintergrund in der organisierten Ausländerkriminalität haben müsse. Spuren nach rechts wurden so spät wie inkonsequent verfolgt. Stattdessen glaubten die Ermittler, mit einer undercover betriebenen Dönerbude den Killern und der vermeintlich hinter ihnen stehenden Mafia auf die Schliche zu kommen. Sogar die Dienste eines Geisterbeschwörers, der behauptete, zu einem der Opfer im Jenseits Kontakt zu haben, nahm die Polizei in Anspruch.

Derweil stümperten in Thüringen Zielfahnder des LKA den 1998 abgetauchten Jenaer Neonazis Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hinterher – während der dortige Verfassungsschutz Hinweise für sich behielt, dass sich das Trio in Sachsen verstecken und mit Waffen eindecken könnte. 13 Jahre blieb die Terrorzelle unentdeckt.

Ohne den Untersuchungsausschuss wäre auch die Schredderei von Verfassungsschutzakten nach dem Auffliegen des NSU nicht herausgekommen. Die bis heute mysteriöse Aktion führte im Juli dazu, dass sich der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, vorzeitig in den Ruhestand zurückzog.

Im September wurde im Ausschuss bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt einen der mutmaßlichen Unterstützer der Zwickauer Zelle jahrelang als Informanten in der Neonazi‑Szene geführt hatte: den einst mit Beate Zschäpe liierten Thomas S. Er war es auch, der dem Trio das TNT für die Rohrbomben beschaffte, die nach dessen Abtauchen in einer Garage gefunden wurden.

Wenn der Anwalt Yavuz Narin der Familie des NSU-Opfers Theodoros Boulgarides von den immer neuen Enthüllungen berichtet, bekommt er inzwischen die Antwort: Da fällt man doch vom Glauben ab! „Diese Mordserie“, sagt er, „stellt die Strukturen des Staates grundlegend infrage.“

„Was haben Sie gedacht, als der NSU im November 2011 aufgeflogen ist?“ Eva Högl von der SPD, eine Juristin mit zehn Jahren Erfahrung im Bundesarbeitsministerium, stellt diese Frage fast jedem Zeugen, der vor den Ausschuss zitiert wird. Högl lächelt dabei betont freundlich. Es ist ein doppelbödiges Lächeln, das sagt: Ich gebe Ihnen die Chance, ihre Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen, Selbstkritik zu üben, Demut zu zeigen. Diese Chance sollten Sie gefälligst nutzen.

Clemens Binninger von der Union beginnt Zeugenbefragungen meist mit einem nüchternen Satz: „Wir haben jetzt etwa 23 Minuten zusammen.“ Das ist die Zeit, die seiner Fraktion pro Fragerunde zusteht. Binninger war früher Polizist in Baden-Württemberg. Den Commissario nennen ihn Ausschussmitarbeiter. Als am 28. Juni der BKA-Chef Jörg Ziercke im Saal 4.900 saß, geriet er mit Binninger aneinander. Der ließ Ziercke auflaufen: „Für Hochmut ist in diesem Ausschuss wenig Platz“, sagte er dem BKA-Boss. Die Botschaft: Hier haben nicht Sie das Sagen, sondern wir. Einen ehemaligen Landesgeheimdienstchef fragte Binninger: „Wozu brauchen wir einen Verfassungsschutz, wenn er nicht mitdenkt?“

„Wir können jede Gangart“, sagt der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland. „Von ganz lieb bis ganz böse.“

Seite 4: Die Parteitaktik ist auf dem Vormarsch - die Bundestagswahl 2013 rückt näher 

Das Selbstbewusstsein gegenüber den Behörden, das parteiübergreifende Wir-Gefühl: So außergewöhnlich die Atmosphäre in diesem Ausschuss ist, ganz frei von Parteiinteressen ist die Arbeit nicht. Wenn im Ausschuss Spitzenpolitiker geladen sind, steigt die Versuchung der Parteitaktik – und je näher die Bundestagswahl 2013 rückt, desto größer wird sie werden.

Ende September war der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier von der CDU als Zeuge geladen. Es ging um die Frage, ob Bouffier, als er noch Innenminister in Hessen war, die Ermittlungen der Polizei blockierte. Beim neunten Mord des NSU in einem Kasseler Internetcafé im April 2006 war Sekunden vor oder gar zur Tatzeit ein Verfassungsschützer des Landes anwesend, angeblich zufällig und rein privat, zum Cyberflirt. Bouffier erlaubte es den Ermittlern nicht, die V-Leute des damals von der Polizei verdächtigten Geheimdienstmannes zu vernehmen – eine Entscheidung, die er noch heute für richtig hält, wie er im September im Ausschuss sagte. Da schaltete Eva Högl von der SPD auf Attacke: Bouffier sei ein „eiskalter Bürokrat“. Während Commissario Binninger auf Beschwichtigungskurs ging und den CDU-Kollegen in Schutz nahm. Skandal? Iwo!

Auf der Tribüne im Paul-Löbe-Haus sitzt Yavuz Narin. Er registriert jene Tiefpunkte, jene Momente, in denen ein Stück des Vertrauens wieder verspielt wird, das der Ausschuss gewonnen hat. Was soll er den Opferangehörigen berichten? Dass sich in Berlin die Politiker übereinander aufgeregt haben? 

Wenn demnächst Ex-Bundesinnenminister Otto Schily befragt wird, dürfte die Union dem Sozialdemokraten vorwerfen, dass er 2004 voreilig verneint hatte, der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keup­straße könne terroristische Hintergründe haben. Die SPD wird rufen: Dafür hat er sich doch längst entschuldigt!

Doch dann gibt es wieder diese anderen Momente, in denen die Akteure selbst stutzen, als wären sie verblüfft über den Geist dieses Ausschusses. Etwa als der ehemalige bayerische Innenminister Günther Beckstein als Zeuge auftrat. Da lobte Petra Pau von der Linkspartei den CSU-Mann für seine Entschlossenheit gegen Neonazis. Beckstein runzelte die Stirn. Das Lob von links sei ihm „fast peinlich, Entschuldigung!“

Für ausgiebige Parteitaktik fehlt den Politikern auch schlicht die Zeit. Ein Untersuchungsausschuss muss seine Arbeit bis Ende der jeweiligen Legislaturperiode abschließen. Deshalb müsste der Ausschuss im Frühjahr die letzten Zeugen hören und bis zum Sommer den Abschlussbericht schrei­ben. Darin soll nicht nur stehen, was in den Behörden falsch lief, sondern auch, was passieren muss, damit sich ein solches Versagen nicht wiederholt. „Das ist eigentlich nicht zu bewältigen“, sagt Ströbele von den Grünen.

Die Behörden decken die Abgeordneten in Berlin mit Akten ein. Das ist klüger, als den Vorwurf der Vertuschung zu riskieren. Neulich hat Thüringen an einem Freitag 778 weitere Aktenordner an die Geheimschutzstelle des Bundestags geschickt. Insgesamt sind dem Ausschuss seit Januar knapp zwei Millionen Seiten an Dokumenten zugegangen. Auf einen Stapel aufgehäuft wäre dieser Papierberg vier Mal so hoch wie das Reichstagsgebäude.

Weil immer mehr Abgeordnete das Gefühl bekommen, dass ihnen die Zeit nicht reicht, gibt es nun Überlegungen, den Ausschuss in der nächsten Legislaturperiode neu zu starten. Um das zu Ende zu bringen, was in den restlichen Monaten bis zur Wahl nicht mehr geschafft wurde. Auch das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik so noch nicht gegeben.

„Auch der nächste Bundestag wird sich intensiv mit den Konsequenzen für Geheimdienst und Polizei beschäftigen müssen“, sagt Ströbele. Er rechnet fest damit. Das sei mit der Grund, warum er noch mal für den Bundestagswahlkampf antreten will, wenn seine Krankheit geheilt ist. Er will die Aufklärung mit zu Ende bringen. Und das Versprechen einlösen.

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