Wahlprogramm der Grünen - Ideologische Enge und falsch verstandene Modernität

Corona legt gnadenlos offen, wie sehr Deutschland den Anschluss verloren hat. Deswegen bräuchte es ein echtes Zukunftsprogramm. Was Bündnis90/Die Grünen jetzt vorgelegt haben, geht leider in die entgegengesetzte Richtung.

Die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck am Freitag bei der Präsentation ihres Wahlprogramms / dpa
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Autoreninfo

Michael Rogowski, Jahrgang 1939, ist Wirtschaftsingenieur und ehemaliger deutscher Manager. Er war von 2001 bis 2004 Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie.

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Mir geht es wie Heinrich Heine in seinen Nachtgedanken: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Der Blindflug, den wir in Sachen Corona seit Monaten erleben, gestützt und befördert auch von der grün-linken Opposition, bringt mich nicht nur um den Schlaf. Er treibt den Adrenalinspiegel vielmehr in nie geahnte Höhen. Masken, Testen, Messwerte, Impfstoffe, Impfen: ein Debakel nach und neben dem anderen.

Dabei sollten wir alle den Kopf frei bekommen und über die großen Herausforderungen nach der Pandemie und nach der Bundestagswahl im Herbst nachdenken. Und deswegen auch die Programme der Parteien, soweit sie überhaupt bereits vorliegen, analysieren, diskutieren und bewerten.

Man mag die FDP schätzen oder nicht, Christian Lindners Analyse vom Zustand der Bundesrepublik trifft den Nagel auf den Kopf: „Wenn wir die Lage unseres Landes ansehen, dann müssen wir die Lebenslüge erkennen, dass wir in einem geordneten und gut organisierten Gemeinwesen leben würden. Wir haben enorme Handlungsdefizite bei der Digitalisierung des Staates und bei der Bildung, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist massiv zurückgegangen, wir haben höchste Steuersätze und Energiepreise höchste und noch steigende Sozialabgaben.“

Bildung ganz oben auf die Agenda

Der Katalog der Herausforderungen ist groß. Ganz oben auf die Agenda gehört die Bildung. Der „Baustoff“ für die Zukunft muss neu erfunden werden. Das betrifft die Inhalte genauso wie die Methoden, die Verantwortlichkeiten und die Organisation.

Das Bürokratiemonster muss endlich zur Strecke gebracht werden. Die Anzahl der Gesetze und Verordnungen ist riesig und wächst weiter, obwohl jede Bundesregierung, aber auch Brüssel das Gegenteil versprechen. Die Kosten der Verwaltung steigen und steigen, die Kosten der zahlreichen und vielfach unausgegorenen „Projekte“ explodieren. Schuld haben nicht die Planer und die Ausführenden. Das ganze System krankt.

Am Beispiel Corona erleben wir derzeit, wie weit wir im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung zurück liegen. Die nächste Regierung wird beweisen müssen, dass sie aus diesen Mängeln gelernt hat, denn Digitalisierung wird ein zentraler Treiber von Fortschritt und Produktivität sein.

Der Schutz vor dem auch durch die Menschen verursachen Klimawandel ist eine zentrale Herausforderung. Durch einseitige Lösungen, Verbote und Einschränkungen werden wir hier allerdings nicht wirklich weiterkommen. Die Lösung muss vorrangig in innovativen Techniken gesucht werden, unter Einschluss von Wasserstofftechnologien und modernen, CO2-freundlichen Kernkrafttechniken. Ansonsten werden unsere schon heute unerträglich hohen Energiekosten weiter steigen und die Wettbewerbsfähigkeit noch mehr belasten.

Der Schuldenfalle entrinnen

Apropos Belastung: Auch bezüglich Steuern und Abgaben sind wir europaweit „führend“. Eine grundlegende Reform ist überfällig, um unser Wachstumspotential zu nutzen und mittelfristig der gefährlichen, durch Corona erheblich befeuerten Schuldenfalle zu entrinnen. Ich bin gespannt, wie häufig die zentrale Frage „Wie schaffen wir mehr Wachstum?“ in den Wahlprogrammen behandelt werden wird.

Das Programm der Grünen liegt inzwischen vor. Es ist derart unausgewogen, dass Deutschland vielleicht noch grüner, aber mit Sicherheit nicht besser und vor allem nicht wettbewerbsfähiger würde. Bei diesem Programm handelt es sich eher um einen Eintopf mit teils unverträglichen Zutaten. Im Mittelpunkt stehen die Klimapolitik und die Energiepolitik, insbesondere der massive Ausbau von Solarenergie, Windkraft und Wärmepumpen. Das alles wird sehr viel Geld kosten. 
Leider ist abzusehen, dass das sinnvoll Machbare nicht ausreichen wird, um die erneut höher gesteckten Ziele zu erreichen, zumal die letzten Atomkraftwerke demnächst stillgelegt werden und das Aus der Kohlekraftwerke vorgezogen werden soll.

Keine Rede ist von der Suche nach neuen und verbesserten Technologien wie Wasserstoff oder gar moderner Kernkraft. Vom Jahr 2030 an sollen nur noch emissionsfreie Autos zugelassen werden. Diese Zielsetzung ist kontraproduktiv. Sie müsste vielmehr lauten: Es werden jene Technologien zugelassen, die den größten Gesamtbeitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten. Ideologie ist dagegen verkürzend und reduktiv.

Die Grünen wollen Sorge dafür tragen, dass die EU ein Instrument für eine dauerhafte, eigene Fiskalpolitik erhält. Das ist im Prinzip überfällig, muss aber an Bedingungen und Voraussetzungen geknüpft werden. Diese lässt das Programm völlig ungeklärt. Und die Schuldenbremse zeitgemäß gestalten, um verstärkt Investitionen zu ermöglichen, wäre allenfalls dann vertretbar, wenn die Erhöhung investiver Ausgaben Hand in Hand mit der Reduzierung konsumtiver Ausgaben im staatlichen Bereich geht. Die zahlreichen Forderungen im Programm der Grünen laufen aber genau in die entgegengesetzte Richtung.

Klassenkampf mit Vermögenssteuer

Im Kapitel Steuern lautet das klassenkämpferische Lieblingsprojekt der Grünen: „Einführung einer Vermögenssteuer“. Das hatten wir bis vor 25 Jahren schon einmal. Die Vermögenssteuer wurde bekanntlich abgeschafft, weil der Aufwand für deren Erhebung in Relation zu den Einnahmen viel zu hoch war. Derzeit wäre der Aufwand nicht geringer, die Wirkung jedoch katastrophal. Eine Vermögenssteuer trifft nämlich nicht nur Privatpersonen, sondern auch die vielen Personengesellschaften. Und genau das wäre fatal, denn diese Steuer fällt auch an, wenn Unternehmen Verluste machen – was insbesondere nach Corona bestimmt keine Seltenheit sein wird.

Alles in allem: Das grüne Programm ist eine lange Liste neuer Folterwerkzeuge, ohne überzeugende Aussagen zur Machbarkeit und ohne erträgliche Finanzierungskonzepte. Ein Schritt zurück in überbordende Bürokratie- und Verbotsstaatlichkeit. Ein Programm für mehr Wachstum sieht anders aus.

Da die Bundesrepublik nach der nächsten Bundestagswahl mit einiger Gewissheit von einer Koalition unter Beteiligung der Grünen regiert werden wird, steht zu befürchten, dass wir es erneut nicht schaffen, über einen durch Kompromisse weichgespülten Koalitionsvertrag hinaus ein Programm für die Zukunft Deutschlands und Europas zu entwerfen, das diesen Namen verdient. Die Farbe Grün steht dabei in meinen Augen leider nicht für Aufbruch, Technologieoffenheit und Innovationskraft, sondern für ideologische Enge und falsch verstandener Modernität. Insofern kann ich nur hoffen, dass ich mich irre.
 

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