Mobbing bei internationalen Organisationen - Wo kein Richter...

Bei internationalen Organisationen möchten viele Menschen gerne arbeiten. Es winken interessante Aufgaben und viele Sonderleistungen. Aber wehe, man verliert den Job

Erschienen in Ausgabe
In großen Organisationen spielen sich ungeachtet von der Justiz rechtswidrige Fälle von Mobbing ab / Dirk Bruniecki
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Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Der Rechtsweg des Iren Patrick Corcoran, 54, endet kurz hinter der A 99, Abfahrt München-Haar. Hier auf dem Gebiet des Europäischen Patentamts (EPA) hat das deutsche Grundgesetz keine Gültigkeit mehr. Jahrelang hatte Corcoran für die Beschwerdekammer des EPA als Richter gearbeitet, entschied etwa, ob Patente korrekt vergeben wurden. Bis er im Dezember 2014 in Verdacht kam, interne Informationen weitergegeben und Spitzenpersonal verleumdet zu haben. Corcoran war plötzlich eine Art Staatsfeind Nummer eins auf dem supranationalen Terrain. Der französische EPA-Präsident Benoît Battistelli startete einen Rachefeldzug: Er schickte Spione gegen den Iren, erteilte Hausverbot, schaltete Gerichte ein. Corcoran ist heute beruflich ruiniert und seelisch zerrüttet.

Der Fall des Richters Corcoran zeigt drastisch, was nicht nur am Europäischen Patentamt, sondern bei vielen supranationalen Organisationen, etwa den Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation schieflaufen kann. Weil sowohl die Organisationen selbst als auch das Spitzenpersonal und die Mitarbeiter oft Immunität genießen, entstehen quasi rechtsfreie Räume, in denen nur die selbst gegebenen Regeln der jeweiligen Organisation gelten – geht alles gut, sind das traumhafte Jobbedingungen. Nur was, wenn in solchen Behörden ein System von Willkür entsteht, in dem sich keiner gegen Druck, Mobbing oder sogar gegen Menschenrechtsverstöße wehren kann?

„Menschenrechte werden missachtet“

Dass es um mehr als nur den Fall Corcoran geht, zeigt auch die mittlerweile 42. Demo der Internationalen Gewerkschaft am Europäischen Patentamt (IGEPA). Zuletzt versammelten sich im März etwa 300 Mitarbeiter. Auf dem Gelände der Münchner Hauptzentrale an der Isar durften sie nicht demonstrieren und wichen auf die von der Polizei abgesperrte Straße vor dem schwarzen Siebziger-Jahre-Klotz aus. Die IGEPA wirft dem Patentamt vor, auf diese Weise auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken, dem EPA-Chef Battistelli unterstellt sie einen „autokratischen Führungsstil“ und „Zensur“. Mit ihrem Motto fordern sie nicht weniger als: „Grundrechte jetzt!“

Am Europäischen Patentamt in München gilt kein deutsches Arbeitnehmerrecht

Zuletzt hatte die Gewerkschaft nach eigenen Angaben fast ihr ganzes Spitzenpersonal verloren: Ihr Generalsekretär in Den Haag wurde entlassen. In München traf es den Präsidenten und den Vize. Auch der Schatzmeister wurde degradiert. Die IGEPA sagt, sie alle hätten nur ihre Arbeit als Betriebsräte ausgeübt. Werden am EPA Betriebsräte weggemobbt? Das EPA-Direktorium, dem mit Vizepräsident Raimund Lutz, Generaldirektor für Recht und Internationale Angelegenheiten, auch ein Deutscher angehört, entgegnet: Die IGEPA habe alle seriösen Dialogversuche des Managements „immer abgelehnt“.

Nicht die Gewerkschaft, auch der frühere Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß hält vieles, was an den fünf Standorten des Europäischen Patentamts in München, Berlin, Den Haag, Wien und Brüssel geschieht, für gesetzeswidrig. Er sagt: „Die Menschenrechte werden häufig missachtet.“ Im Auftrag von US-Pharmakonzernen hat Broß ein dickes Gutachten zur Rechtsstaatlichkeit des Europäischen Patentübereinkommens verfasst, jener Akte, die zur Gründung des Amtes 1977 führte. Die damals definierte Aufgabe: Das EPA soll Unternehmen einen Anreiz für Innovationen schaffen – und so Arbeitsplätze in Europa sichern. In Zeiten, da Handelskriege zwischen den USA, China und Europa drohen, braucht es das mehr denn je.

„Korruption auf hoher Ebene“

Das Drama spielt auf einer Bühne ohne Scheinwerfer – ein rechtsfreier Raum, weil die Immunität des supranationalen EPA jede juristische Kontrolle ausknipst. Präsident Battistelli aber lehnt die Rolle des Bösewichts ab. Er sieht sich in der Opferrolle. Die Pressestelle erklärte: „Seit der Einführung des Reformprozesses ist das EPA einer unvergleichlichen Diffamierungskampagne ausgesetzt“, mit der das Amt und insbesondere sein Top-Management „schwer diskreditiert“ würden. Die Methoden: „eine persönliche Schmierenkampagne, Unterstellungen, persönliche Drohungen, Fehlinformationen“. Das Ziel: „den Ruf des Amtes schwer zu schädigen“. Interne Rundschreiben belegen: Das Amt fürchtet eine Kampagne nicht nur gegen Battistelli, sondern auch gegen dessen zweiten Vize, den Kroaten Željko Topic.

Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Siegfried
Broß erhebt schwere Vorwürfe

Einer der Hauptverdächtigen des Amtes ist Patrick Corcoran. Er darf – wie alle anderen EPA-Mitarbeiter – nicht mit Journalisten reden. Cicero aber liegen drei als „vertraulich“ eingestufte Berichte zu seinem Fall von April und Mai 2016 vor, zusammen mehr als 180 Seiten. Sie stützen sich auf forensische Analysen der Investigativen Unit, einer Ermittlungseinheit des EPA, die fast schon nachrichtendienstliche Befugnisse hat: Das Team überwachte den Akten zufolge heimlich Corcorans E-Mails und PCs, durchkämmte sein Büro, beschlagnahmte seinen privaten USB-Stick, nahm Fingerabdrücke. Die EPA-Dienstvorschriften sehen vor, dass die Einheit bei Vorwürfen von Beleidigung oder Belästigung eingeschaltet wird. Im Fall Corcoran wurden auch Unbeteiligte überwacht: Die Ermittler präparierten einen öffentlich zugänglichen Rechner mit Keyloggern, die mitlasen, was die Nutzer dort taten. Bei Patrick Corcoran, so das Fazit der Spurenanalyse, seien „mehrere Tausend“ Dateien gefunden worden. Er habe zahlreiche E-Mails an Staatsoberhäupter, Regierungschefs, Journalisten oder das Europäische Parlament verfasst und habe vor „Korruption auf hoher Ebene“ und „Vetternwirtschaft“ gewarnt, von einer „Balkan-Affäre“ um Battistelli und Vize Topic.

Corcoran räumte ein, Kopien dieser Mails besessen zu haben, bestritt aber, sie verfasst zu haben. Dagegen spreche allein schon die schiere Menge an Daten. Präsident Battistelli ordnete dennoch die Suspendierung des Iren an – wegen Verleumdung. Dabei unterstehen Richter des EPA nicht dem Präsidium, sondern nur dem Verwaltungsrat. Das soll die interne Unabhängigkeit sichern. Der Verwaltungsrat stimmte der Maßnahme nachträglich zu – auch das gegen die Vorschriften – und beantragte beim zuständigen Richtergremium, der Großen Beschwerdekammer, der auch Corcoran einst angehörte, dreimal dessen Amtsenthebung. Aber die Richter erklärten die Anträge für unzulässig, obwohl sie offenbar massiv von Battistelli unter Druck gesetzt wurden. „Alle gegenwärtigen Mitglieder der Großen Beschwerdekammer“ sähen sich „mit Disziplinarmaßnahmen bedroht“, heißt es in der Entscheidung vom Juni 2016. „Dies untergräbt das Grundprinzip der gerichtlichen Unabhängigkeit.“

Traumberuf mit verpflichtender Produktivitätssteigerung

Fachleute des internationalen Rechtes kritisieren schon lange, dass Richtergremien in vielen internationalen Organisationen nicht wirklich unabhängig sind. Die Richter solcher Gerichtshöfe – wie bei der Welthandelsorganisation oder den Vereinten Nationen – würden meist nur befristet angestellt, schreibt der Genfer Anwalt Matthew Parish. Ernannt aber würden sie oft vom Chef der Organisation, „gegen den die Beschwerden eingehen“. Am EPA ignorierte Benoît Battistelli sodann das Corcoran-Urteil. Er hielt am Hausverbot fest und reichte mit Željko Topic beim Landgericht München sogar Privatklagen wegen Beleidigung ein. Vergeblich: Es fehle der Beweis, dass Corcoran der Urheber der Mails war, steht im Beschluss des Gerichts vom November 2017.

Aber wenn Corcoran die Mails nicht verfasst hatte – warum suchten dann offenbar andere, unzufriedene Mitarbeiter ein Ventil nach außen? Die Konditionen im Europäischen Patentamt klingen eigentlich wie ein Traumjob: Ungefähr 11 000 Euro verdient ein Patentprüfer monatlich, steuerfrei. Seit 2011 seien die Gehälter um 15 Prozent gestiegen, sagt das EPA. Hinzu kommen Sonderleistungen, Schulgeld für die Kinder, der Status der Immunität. Nur kann jeder, der das verliert, ins Bodenlose fallen: Versicherungen, Renten, Leistungen bei Berufsunfähigkeit – alles hängt von einer Institution ab.

Bereits 42 Mal demonstrierten die Beschäftigten – ohne Wirkung

Als Battistelli begann, das Amt auf maximale Effizienz zu trimmen, ging es mit der Stimmung am EPA abwärts. Seit seinem Amtsantritt 2010 hat er die Zahl der bewilligten Patente um 82 Prozent erhöht – auf 106 000 im Jahr 2017, ein neuer Rekord. Und das nach eigenen Angaben bei sinkenden Betriebskosten. Das schaffte er, indem er eine neue leistungsbezogene Vergütung einführte und die Zielvorgaben immer weiter nach oben schraubte. Dieses Jahr sollen sich die Mitarbeiter nach Gewerkschaftsangaben nochmals zu einer Produktivitätssteigerung verpflichten: plus 10 bis 20 Prozent gegenüber 2017. Auch rühmt sich Battistelli, die Krankentage um 40 Prozent gedrückt zu haben. Er schuf medizinische Schnüffel- und Kontrolleinheiten: Eine Vorschrift – Rundschreiben 367 – besagt, dass sich Kranke täglich von 10 bis 12 Uhr und von 14 bis 16 Uhr in ihrer Wohnung aufhalten sollen, falls der Amtsarzt klingelt. Wer nicht daheim ist, dem drohen Sanktionen, auch Depressiven oder Burnout-Patienten.

Fünf Mitarbeiter begingen Selbstmord

Der Münchner Rechtsanwalt Alexander Holtz zählt auf, wie viele Grundrechte diese Regelung verletzt: „erstens das allgemeine Persönlichkeitsrecht, zweitens das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung, und drittens werden auch Belange und die Rechte der Angehörigen betroffen“. Die Pressestelle erklärt: „Die Reformen werden die Zukunft des Amtes sichern und machen das EPA zu einer europäischen Erfolgsstory.“

Der Rechtsanwalt Alexander Holtz spricht von Grundrechtsverletzungen

Zur „Erfolgsstory“ gehört auch die Tatsache, dass in den vergangenen sechs Jahren fünf Mitarbeiter Selbstmord begangen haben. Manche im direkten Arbeitsumfeld: Laut IGEPA ist einer in Den Haag aus dem Bürofenster gesprungen. Ein anderer hat sich am letzten Ferientag erhängt. Die Gewerkschaft sieht einen Zusammenhang mit den Battistelli-Reformen. Das EPA erklärte, es sei „zutiefst besorgt“ über die Suizide. Doch „entgegen allen Prinzipien der Kollegialität“ hätten einzelne Individuen die Vorfälle „für politische Zwecke“ genutzt.

Warum dieser unbedingte Wachstumskurs des Patentamts? Alles für die Wirtschaft und den Ideenstandort Europa? Selbst die Industrie sieht das zunehmend skeptisch. Ende 2016 befragte das Wirtschaftsanwaltsmagazin Juve 168 Technologieunternehmen, wie sie die Qualität der Patenterteilungsverfahren am EPA einschätzten. 54 Prozent sagten, sie seien unzufrieden. Eine knappe Mehrheit von 50,2 Prozent sah auch Mängel bei den Beschwerdeverfahren. Die Frage, wie unabhängig diese sind, beschäftigt derzeit auch das Bundesverfassungsgericht: Vier Klagen seien anhängig wegen unzureichendem Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern, teilte Karlsruhe mit.

Der Münchner Patentanwalt Gero Maatz-Jansen von der Kanzlei Grünecker sagt, das EPA dürfe kein Profit-Center sein. Er erwartet, dass sich Patentprüfer Zeit nehmen, wirkliche Innovationen zu prüfen. Seine Kanzlei meldet jährlich rund 3000 Patente beim EPA an. Früher sei davon etwa die Hälfte bewilligt worden, im vergangenen Jahr plötzlich mehr als 2500. Maatz-Jansen sieht das skeptisch: „Wenn das Monopolrecht, das der Anmelder da kriegt, zu nachlässig geprüft und daher nicht durchsetzbar ist, ist es wertlos für ihn.“ Das lege die Axt an das ganze Patentsystem.

Bei einem deutschen Betrieb hätte die Justiz reagiert

Verdient wirklich jedes der Patente seinen Namen? Viele EPA-Patentprüfer warnen inzwischen selbst, sie könnten die Qualität ihrer Arbeit nicht mehr sicherstellen. 924 von ihnen schrieben Mitte März einen offenen, aber anonymen, von einem Notar beglaubigten Brief an den Verwaltungsrat: Sie würden „viel zu oft in das Dilemma getrieben“, entweder auf hohe Qualität zu achten oder sich dem Befehl ihrer Vorgesetzten zu unterwerfen. Die Angst vor Sanktionen ist groß.

Einer der wenigen, die über die Vorgänge am EPA sprechen, ist Roland Klausecker, 44, ein Typ mit Dreitagebart und Poloshirt. Er ruft per Skype aus Südkorea an. Dort arbeitet er für den Autozulieferer Schaeffler als Asien-Regionalmanager, Direktor für Werkzeuge und Prototypen. Klausecker ist nach einem Unfall mit 18 zu 100 Prozent schwerbehindert: Links fehlen ihm die Hand, das Augenlicht, auch das Ohr ist schwer verletzt. Rechts hat er Teile seiner Finger verloren. Seine Leistung hat das nie beeinträchtigt. Klausecker studierte Fertigungstechnik an der Uni Erlangen, wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter und bewarb sich dann am Europäischen Patentamt. Er bestand alle Einstellungstests, die Fachleute waren hochzufrieden. Der Amtsarzt hatte Bedenken: Klausecker sei arbeitsfähig, es sei aber nicht ausgeschlossen, dass seine rechte Hand irgendwann von der PC-Arbeit überlastet sein könne. Klausecker wurde aussortiert.

Internationalität und Immunität gelten nicht nur am EPA in München

Hätte sich ein deutscher Betrieb so verhalten, hätten Justiz und Antidiskriminierungsstellen wohl reagiert. Nicht beim Europäischen Patentamt. Klausecker klagte. Er war überzeugt, diskriminiert worden zu sein und hielt sich für äußerst fit: 2010 bestieg er den Island Peak, einen Sechstausender im Himalaya. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dann 2006, es sei für diese Frage nicht zuständig – das EPA genieße Immunität. Ähnlich argumentierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2015: Die Klage sei nicht zulässig, da das EPA eine „legale Person“ und „kein Beteiligter“ der Europäischen Menschenrechtskonvention sei. Das Münchner Amt ist also nicht an das Papier gebunden, das alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats mit ihren 820 Millionen Bürgern unterzeichnet haben. Zehn Jahre klagte Klausecker, das Ergebnis: nichts. Sein Instanzen-Feldzug verdeutlicht, warum es für Mitarbeiter, Bewerber, Unternehmen und auch einfache Bürger fast unmöglich ist, gegen eine internationale Organisation ihr Recht durchzusetzen.

Leak erreichte die Öffentlichkeit

Der Ex-Verfassungsrichter Siegfried Broß fasst die rechtliche Lage beim Europäischen Patentamt so zusammen: „Mit einer solchen Organisationsstruktur einer internationalen Organisation könnte man mitten in München legal ein Guantánamo betreiben.“ Der Ire Patrick Corcoran jedenfalls sieht sich als Opfer von Rufmord. Ein Leak soll daran schuld gewesen sein. Im Oktober 2015 vermeldete die Süddeutsche Zeitung: In seinem Büro sei „Unglaubliches“ gefunden worden: „zwei Schlagstöcke – und nationalsozialistisches Propagandamaterial“, darunter völkisches Liedgut und „verbotene Embleme“. Das Blatt berief sich auf die Erkenntnisse der internen Ermittlungseinheit des EPA.

Woher kam dieser Bericht? Hat Battistelli die Presse für sein persönliches Spiel benutzt? Ist Corcoran ein Rechtsextremer? Seine Anwältin, die Arbeitsrechtlerin Senay Okyay, verdreht bei der Frage die Augen. „Ich würde nie jemanden mit rechtsextremem Gedankengut verteidigen!“ Die junge Anwältin sitzt in ihrem schlichten Büro am Münchner Stachus. Die Wände sind leer, der Schreibtisch umso voller. Akten von Mitarbeitern des EPA, auch von Patrick Corcoran. Sie sagt: „Ja, mein Mandant ist ein Geschichtsfreak, er hat historisches Material über Deutschland gesammelt. Aber bin ich dann auch Nazi, weil ich zu Hause ein Buch über Hitler habe?“

Auffällig jedenfalls ist: Einen Monat, bevor der SZ-Artikel erschien, hatte die Große Beschwerdekammer Corcorans Amtsenthebung widersprochen. Weder diese noch die weiteren ihn entlastenden Urteile hat das Amt – entgegen den Statuten – je veröffentlicht. Stattdessen aber erreichte das Leak die Öffentlichkeit. Obwohl Corcoran öffentlich am Pranger stand, errang er ein weiteres wertvolles Urteil: vor dem Genfer Tribunal der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, dem einzigen Gerichtshof, der geeignet sein könnte, die Rechtslücken im Supranationalen zu schließen. Er ist für 58 000 Mitarbeiter in 62 internationalen Organisationen zuständig. Der Haken: Es orientiert sich nur an dem Rechtsrahmen, den sich die betreffende internationale Organisation selbst gibt. Der britische Staranwalt Geoffrey Robertson, der auch den Schriftsteller Salman Rushdie verteidigt, ist überzeugt: Das ILO-Gericht erfülle nicht die Menschenrechtsstandards. Nicht nur, weil auch hier die Richter wegen der kurzen Amtszeiten – immer nur drei Jahre – befangen sein könnten. Es gebe auch kein „faires und öffentliches rechtliches Gehör“, da die Richter allein nach Aktenlage entscheiden. Fehl­entscheidungen seien nicht überprüfbar. Eine Berufungsinstanz gibt es nicht.

Suizid hätte verhindert werden können

Corcoran gewann vor dem ILO-Tribunal nur, weil das EPA seine eigenen Regeln missachtet und die innere Gewaltenteilung verletzt hatte. Die Richter entschieden, dass der Ire „sofort“ wieder eingestellt und ihm 35 000 Euro Schadensersatz gezahlt werden müssen. Bis heute verwehrt ihm das EPA den alten Job. Im Februar sei ihm nun ein völlig fachfremder Arbeitsplatz in Den Haag angeboten worden, 850 Kilometer von seinem Haus entfernt – „pures Mobbing“, sagt Anwältin Okyay. Inzwischen ist Corcoran krank, leidet, wie viele im EPA, an schweren Depressionen. Okyay sagt: „Mein Verdienst ist, dass er wenigstens noch lebt.“

Die Anwältin Senay Okyay kämpft für die Rechte mehrerer Mitarbeiter des EPA

Das ILO-Tribunal ist in Wahrheit ohnmächtig; weder hat es Sanktionsgewalt noch Vollzugsmacht. Auch die Selbstmorde am EPA hinterfragte das Genfer Tribunal nicht. Mehr noch: Es entschied Ende Januar, dass das Amt korrekt gehandelt habe, als es die besorgte Personalvertreterin Elizabeth Hardon feuerte. Dieser Fall lässt die Anwältin Senay Okyay bis heute nicht los. Es geht dabei ursprünglich um ihren Mandanten, den Franzosen Jean-Pierre Bardelot, der eigentlich anders heißt. Sie hat ihn als humorvollen Lebemann in Erinnerung. Im Frühjahr 2012 erhängte er sich in einem Münchner Vorort. Okyay ist überzeugt: Das EPA hätte es verhindern können. Bardelot habe an Depressionen gelitten. Dennoch hätten die Vorgesetzten gegen ihn disziplinarrechtliche Schritte eingeleitet. Sie erinnert sich an einen Anruf. Bardelot habe ihr gesagt: „Das Amt wird nicht aufhören, bis sie einen Grund gefunden haben, mich zu entlassen.“ Vor zwei Kolleginnen habe er den geplanten Selbstmord sogar erwähnt.

Die Betriebsrätin Elizabeth Hardon schrieb damals über einen Gewerkschaftsverteiler eine E-Mail, in der sie Bardelots Vorgesetzten hinterfragte: „Viele von uns glauben, dass das Verhalten des Managers sowie die grundlosen Attacken durch den Personalchef signifikant zum Tod des Kollegen beigetragen haben. Formell wird das Amt natürlich jegliche Schuld bestreiten.“ Jemand aus dem Verteiler leitete die vertrauliche Mail weiter. So erfuhr Präsident Battistelli davon. Er schaltete das Disziplinarkomitee ein. Das konnte bei Hardon kein grobes Fehlverhalten feststellen, Battistelli aber ignorierte den Rat der Experten – und degradierte Hardon. Die Richter des Genfer ILO folgten seiner Begründung, Hardon habe einen Kollegen „diffamiert“, ihr Verhalten sei „ernst“ und „falsch“ gewesen. Ob an Hardons Vorwürfen hingegen etwas dran sein könnte, untersuchte das Gericht nie. Stattdessen bekam Battistelli einen Blankoscheck: Dieser dürfe auch Entscheidungen der internen Disziplinar- und Beschwerdekammern überstimmen, solange der Einspruch „inhaltlich gut begründet“ sei.

Machtmissbrauch bei internationalen Organisationen

Ein „schreckliches Urteil“, sagt Stefan Schennach, der dem Sozialausschuss im Europarat vorsitzt. „Wozu eine Clearing-Instanz, wenn der oberste Dienstherr nicht an interne Entscheidungen gebunden ist?“ Der österreichische Sozialdemokrat hat sich intensiv mit den Vorgängen am EPA befasst. Was ihm vertraulich von dort berichtet wurde, auch aus der Niederlassung in Den Haag, hält er für „schwere Willkür“. Er schrieb am Entwurf für eine Resolution mit, mit der die Parlamentarische Versammlung des Europarats mehr Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und höhere Sozialstandards in internationalen Organisationen einfordert. In der Empfehlung ist von „Machtmissbrauch“ die Rede.

Diese richtet sich nicht nur ans EPA, sondern an alle internationalen Organisationen. Schennach beschreibt den Fall zweier Ehefrauen von UN-Mitarbeitern in Österreich, die ihn um Hilfe bitten: Deren Männer ließen sich scheiden, verweigerten aber ein Trennungsgeld und Unterhaltszahlungen für die ehelichen Kinder. Die Frauen können wegen der Immunität für UN-Mitarbeiter weder in Österreich klagen noch in ihrer ursprünglichen Heimat. Auch die Vereinten Nationen fühlen sich nicht zuständig. Beide Geschiedene stehen vor einer ungewissen Zukunft. Ihr Aufenthalt ist an das Visum der Ex-Ehemänner gekoppelt.

Deutschland ohne „Eingriffsbefugnisse“

Das Europaratspapier fordert nun, das Konzept der Immunität einzudämmen, auch in der EU. Schennach nennt es „aberwitzig“, dass sich EU-Niederlassungen in den Mitgliedsländern auf diplomatische Unantastbarkeit berufen, obwohl sie nur „ausgelagerte Behörden der Kommission“ sind. „Genießt die bayerische Vertretung in Berlin auch Immunität?“ Zudem sollen sich alle internationalen Organisationen einer unabhängigen Rechtsprechung unterwerfen – etwa der des Europarats oder noch zu schaffender Gerichtshöfe. Dem Resolutionsentwurf müsste aber der Ministerrat des Europarats zustimmen. Nur wie könnte die Reform dann konkret umgesetzt werden?

Immerhin hat der EPA-Verwaltungsrat offenbar erkannt, dass es einen sozial kompetenteren Präsidenten als Battistelli braucht. Ihm nachfolgen soll ab Juli der Portugiese António Campinos, bislang Direktor des EU-Amtes für Geistiges Eigentum in Alicante. Nur gilt auch er als dessen Vasall. Deutschland hat seit Oktober einen strategisch wichtigen Posten inne: den Vorsitz des EPA-Verwaltungsrats – mit Christoph Ernst sogar ein Ministerialrat aus dem Justizministerium. Das BMJV aber lässt ausrichten, Deutschland habe als Einzelstaat „keine Eingriffs- oder Aufsichtsbefugnisse“ und sei so gegenüber dem EPA nicht weisungsbefugt. Es „muss den Weg über die Gremien der Organisation gehen und ist hierbei nur einer von 38 Vertragsstaaten.“

Fotos: Dirk Bruniecki

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.










 

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