Digitalisierung - Das Ende der Mittelschicht

Im Zuge der Digitalisierung können wir nicht davon ausgehen, im Alter noch genügend Geld zu haben. Auf die Altersversorgung rollen gleich drei bedrohliche Entwicklungen zu. Ein gewaltiger Systemwechsel muss her. Sind Politik und Gesellschaft dazu in der Lage?

Trotz guter Vorsorge droht vielen im Alter Armut / picture alliance
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Daniel Goffart ist Autor und Chefkorrespondent des Magazins FOCUS.

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Wenn die DAX-Konzerne ihre Bilanzen präsentieren, schlägt regelmäßig die Stunde der Populisten. Denn in den Zahlenwerken der Unternehmen tauchen neben Umsatz und Gewinn auch die Vergütungen für die Top-Manager auf. Zwar hat sich die Öffentlichkeit inzwischen an die Millionengehälter der deutschen Vorstände gewöhnt. Aber wenn mal wieder jemand ausrechnet, dass beispielsweise VW-Chef Herbert Diess 2018 nur drei Tage arbeiten musste, um das durchschnittliche Jahresgehalt seiner Beschäftigten zu verdienen, regt sich stellenweise doch noch Unmut – vor allem wenn wie zuletzt bei VW satte Konzerngewinne zusammen mit Plänen zum Abbau von 7000 Stellen verkündet werden.

Wie weit die Einkommensschere in Deutschland inzwischen auseinander geht, lässt sich bei den 30 größten Konzernen im Lande besonders gut beobachten. Die Dax-Vorstände erhalten heute sage und schreibe zehnmal mehr Geld als noch vor dreißig Jahren. An den normalen Arbeitern und Angestellten hingegen ist diese wundersame Geldvermehrung spurlos vorbeigegangen. Im gleichen Zeitraum sind ihre Realeinkommen nur sehr moderat gestiegen; jahrelang mussten die Durchschnittsverdiener in Deutschland sogar Stagnation oder Reallohnverluste verkraften.

Sinkender Lebensstandard

Ähnlich mau sieht es bei den Sparguthaben und beim Anteil der Arbeitnehmer am Wachstum des Gesamtvermögens aus. Dessen Verteilung zeigt, dass die Reichen immer reicher werden. Der Mittelstand und die Bürger am Ende der Gehaltsskala können da nicht mithalten. Inzwischen besitzen 45 Super-Reiche in Deutschland so viel wie die ärmere Hälfte der gesamten Bevölkerung. Obwohl wir seit Jahren ein konjunkturelles Dauerhoch erleben und uns über Rekordbeschäftigung freuen, blicken immer mehr Bürger sorgenvoll in die Zukunft. Wie tief sich die Verunsicherung inzwischen in die Mittelschicht hineingefressen hat, zeigen Umfragen, wonach jeder Zweite um die Wahrung seines Lebensstandards fürchtet.

Es sind vor allem zwei Dinge, die das klassische Lebensmodell der Mittelschicht bedrohen und für Unsicherheit sorgen: Die Sorge um den Bestand des Arbeitsplatzes im digitalen Wandel sowie die Angst, im Alter nicht genügend Geld zu haben. So kann nur ein ganz kleiner Teil der jetzt noch arbeitenden Bundesbürger darauf hoffen, als Rentner seinen gewohnten Lebensstandard halten zu können. Der größte Teil der heutigen Arbeitnehmer muss mit einer geringen und in der Tendenz eher sinkenden Versorgung auskommen. Die im Jahr 2017 ausgezahlte Regelaltersrente betrug im Durchschnitt gerade einmal 902 Euro. Wenn man davon als Rentner noch Miete bezahlen muss, gerät man schnell in finanzielle Schwierigkeiten – erst recht, wenn man in einer teuren Großstadt lebt.

Leider trifft dieses Problem die Mehrzahl der Menschen: Trotz Bausparverträgen und Baukindergeld ist Deutschland ein Mieterland geblieben. Nur 45 Prozent der Bürger verfügen über Wohneigentum, das ist die niedrigste Immobilienquote in Europa. Ein sinkendes Rentenniveau und steigende Mieten sind ein toxischer Mix für den sozialen Frieden.

Alter in Armut

Insbesondere die hohe und ständig wachsende Zahl der heute prekär Beschäftigten entwickelt sich in wenigen Jahren zur tickenden Zeitbombe für die gesetzliche Rentenversicherung. Rund 7,7 Millionen Menschen sind derzeit gering oder befristet beschäftigt, haben Minijobs oder sind auf Leih- und Zeitarbeitsverträge angewiesen. Das betrifft rund 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung – Tendenz stark steigend. Anders gesagt: Jeder fünfte Arbeitnehmer kann wegen seiner prekären Beschäftigung später nicht auf eine auskömmliche Rente hoffen. 

So werden alle Beschäftigten, die den Mindestlohn von 9,19 Euro erhalten, auch nach 45 Jahren Arbeit in Vollzeit eine Rente unterhalb der Grundsicherung erhalten. Entgegen landläufiger Meinung zählen hier nicht nur die Geringqualifizierten zum Kreis der Betroffenen. Laut DGB weisen zwei Drittel der Niedriglohnbezieher eine abgeschlossene Berufsausbildung auf; weitere 10,3 Prozent sogar einen Hochschulabschluss. Aber auch in den mittleren Gehaltsklassen stehen oft nur bescheidene Erträge. Kleine Renten an der Schwelle zur Armut sind zu einem realen Problem für große Teile der Mittelschicht geworden.

Sinnloses Sparen

Davon unabhängig rollen auf die Altersversorgung in den nächsten Jahren gleich drei bedrohliche Entwicklungen zu. So gehen erstens ab 2022 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Das bedeutet, dass dann immer mehr Alte von immer weniger Arbeitnehmern finanziert werden müssen. Anders formuliert: Wenn die Babyboomer demnächst in der Rentenversicherung ankommen, verwandelt sich die demografische Lücke in einen regelrechten Krater.

Zweitens schlummern in den Bilanzen der Lebensversicherer milliardenschwere Risiken. Was viele Angehörige der Mittelschicht als zusätzliche Absicherung für das Alter angespart haben, dürfte in der einst versprochenen Höhe nur in wenigen Fällen zur Auszahlung kommen. Gerade bei den kapitalbildenden Lebensversicherungen, dem Lieblingsprodukt der deutschen Angstsparer, lösen sich die in Aussicht gestellten Ablaufzahlungen gerade in Luft auf. Grund dafür ist die lang anhaltende Niedrigzinsphase. Sie bringt auch viele betrieblichen Altersversorgungen in eine gefährliche Schieflage. Das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht sah sich Mitte 2018 bereits gezwungen, angesichts der deprimierenden Zahlen eine deutliche Warnung auszusprechen. Doppelt bitter für die Betroffenen ist außerdem die Tatsache, dass von dem zusätzlich Ersparten für den Lebensabend bei Auszahlung noch Steuern und bei einigen Lebensversicherungen sogar doppelte Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen – ein Umstand, der mit Blick auf die drohende Schieflage der privaten Altersvorsorge dringend geändert werden sollte.

Der Jobkiller Künstliche Intelligenz

Das dritte Problem wird bislang weder in der Politik noch bei den Finanzdienstleistern offen diskutiert: die Folgen der Digitalisierung. Wenn es zutrifft, das Künstliche Intelligenz und die Vernetzung aller Produkte und Lebensbereiche in wenigen Jahren hunderttausende, ja sogar Millionen Jobs vernichten, ist die gesetzliche Altersversorgung in ihrer bisherigen Struktur nicht mehr zu halten. Das auf den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beruhende Umlagesystem würde jetzt schon ohne den jährlichen 90-Milliarden-Zuschuss des Bundes zusammenbrechen. Wenn aber die derzeitig herrschende Rekordbeschäftigung einmal einer größeren Arbeitslosigkeit weicht, wird die Lage schnell unbeherrschbar.

Wir wissen heute nicht, ob die Digitalisierung wirklich zum Jobkiller wird, wie viele Studien prognostizieren. Klar ist aber, dass die Zahl der wegfallenden Stellen im einfachen und mittleren Tätigkeitssegment die Zahl der neu entstehenden Jobs im High-Tech-Bereich deutlich zu übertreffen droht. Vor allem wird das Phänomen der „Ungleichzeitigkeit“ Spuren in den Sozialversicherungen hinterlassen: Diejenigen, die ihren Job in der alten analogen Welt verlieren, dürften kaum in der Lage sein, den Anforderungen der neuen Arbeitswelt 4.0 gerecht zu werden.

Auslaufmodell Festanstellung

Natürlich wird in allen politischen Sonntagsreden jetzt die Nebelkerze namens „Umschulung“ gezündet. Aber ein 50-jähriger Trucker, dessen Lkw künftig autonom fährt, lässt sich nur in den wenigsten Fällen zum Web-Designer umschulen. In Deutschland gibt es derzeit mehr als eine Million Berufskraftfahrer – und das ist nur ein Beispiel von vielen anderen. US-amerikanische Arbeitsmarktforscher gehen davon aus, dass künftig jeder, der heute noch vor einem Computer sitzt und Routinetätigkeiten ausübt, bald von Algorithmen und selbst lernenden Computern ersetzt wird.

Hinzu kommt, dass in der digitalen Zukunft die klassische Lebensgrundlage der Mittelschicht immer mehr erodiert, denn die Festanstellung mit sozialer Absicherung droht zum Auslaufmodell zu werden. Auch für diejenigen, die sich in der digitalen Welt behaupten können, wird sich die Struktur der Arbeit vollkommen verändern. Die verbleibenden Arbeitnehmer verwandeln sich in „Projektteilnehmer“. Die noch von Menschen zu erledigenden Dienstleistungen werden in immer kleinere Einheiten zerlegt und in weitaus stärkerem Maße als bisher an Fremdfirmen beziehungsweise Selbstständige vergeben.

Systemwechsel dringend notwendig

Die Arbeit der Zukunft findet nach den Prognosen der Arbeitsmarktforscher entweder in Mega-Konzernen oder Mikro-Unternehmen statt, die auf ein industrielles Ökosystem mit Millionen wertschöpfender Einzelunternehmer zurückgreifen können. Die heutigen Click-Worker der Plattform-Ökonomie sind bereits die Vorboten der neuen Arbeitswelt. Entstehen wird ein Heer von frei arbeitenden Digital-Nomaden, die ihre mobile und jederzeit verfügbare Dienstleistung zum günstigsten Preis anbieten müssen. Die von der Mittelschicht erkämpften Errungenschaften wie Arbeitnehmerrechte und Sozialversicherungspflicht gehören dann der Vergangenheit an – mit entsprechenden Folgen für die sozialen Sicherungssysteme.

Die große Zukunftsaufgabe der Politik muss also darin bestehen, einen gewaltigen Systemwechsel zu organisieren. In der alten, analogen Welt hing die soziale Absicherung der Menschen einzig und alleine vom Faktor Arbeit ab. Auch die Wertschöpfung, der Vermögensaufbau und das Wachstum waren wesentlich von der Arbeit bestimmt. In der digitalen Welt hingegen werden diese Faktoren ihre Bedeutung verlieren. Rohstoff und Treiber des digitalen Wachstums sind die Daten der Menschen. Die kaum nachvollziehbaren Milliardenwerte kleiner Start-Ups an den Börsen sind sichtbarster Ausdruck für diese Verschiebung. Hier muss die Politik ansetzen, wenn sie nicht ohnmächtig dem Entstehen eines riesigen Digital-Prekariats zusehen will. Die großen Vermögen von Google, Apple, Facebook und Amazon und entstehen an den Aktien- und Absatzmärkten, werden dort aber kaum oder gar nicht besteuert. Auch auf ihre Gewinne zahlen die GAFAs in Europa nur lächerlich wenig Steuern. Nicht zuletzt ist der enorme Wertzuwachs der Aktien in vielen Fällen so gut wie steuerfrei.

Neues Modell gefragt

Das gilt auch für fast alle anderen Internet-Konzerne, die Dimensionen sind gewaltig. Sie erwirtschaften Milliardengewinne, beschäftigen aber kaum Festangestellte und bedienen sich aller Steuervermeidungstricks. Vor allem verursachen sie mit dem unaufhaltsamen Vordringen der Plattform-Ökonomie und des datengetriebenen Überwachungs-Kapitalismus laufend neue Verlierer des digitalen Wandels. Diese Menschen müssen dann von den Steuern und Beiträgen derjenigen finanziert werden, die noch dem herkömmlichen Modell verbunden sind, in der klassischen Industriewelt arbeiten und nicht auf Steueroasen ausweichen können.

Das kann so nicht weitergehen. Ob man künftig Börsen-; Transaktions- oder Mindeststeuern erhebt oder ob man den Unternehmen unabhängig von der Zahl ihrer Beschäftigten eine allgemeine Sozialversicherungsabgabe auferlegt, die sich alleine an Umsatz oder Gewinn orientiert, ist eine Entscheidung der Politik. Denkbar sind viele Modelle, auch für einen staatlich abgesicherten und steuerlich begünstigten Vermögensaufbau von Arbeitnehmern durch Unternehmensbeteiligungen. Nur eines steht jetzt schon fest: Alleine mit einer Respektrente für Arme wird man den Abstieg der arbeitenden Mitte in der digitalen Welt nicht aufhalten können.

  Daniel Goffarts, Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell, Piper Verlag, 400 Seiten, 22 Euro

 

 

 

 

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