Anmelden von Kurzarbeit - „Die deutsche Industrie befindet sich in einer Rezession“

Immer mehr Arbeitnehmer müssen Kurzarbeit und Lohnausfall akzeptieren. Innerhalb weniger Monate hat sich ihre Anzahl verdoppelt. Schuld daran sind der ungelöste Brexit, der Handelsstreit zwischen China und den USA, aber auch die Diesel-Diskussion, sagt Ifo-Ökonom Timo Wollmershäuser

E-Golf-Produktion von Volkswagen in Dresden / picture alliance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Wollmershäuser, es ist von „Kurzarbeit-Alarm in Deutschland“ zu lesen. Was steckt hinter dieser Schlagzeile?
Wir sehen aktuell einen messbaren, deutlichen Anstieg von Kurzarbeit in Deutschland. Das war schon länger nicht mehr der Fall, weil wir eine sehr gute konjunkturelle Situation hatten. Die aktuelle Entwicklung würde ich aber noch nicht als alarmierend bezeichnen. Es ist eine logische Konsequenz der konjunkturellen Abkühlung, die sich in der deutschen Wirtschaft abzeichnet. Insbesondere die deutsche Industrie befindet sich seit Mitte vergangenen Jahres in einer Rezession.

Von der Wirtschaftslage aber hängen Arbeitsplätze von Menschen ab. Ist insofern eine Zunahme von Kurzarbeit nicht besorgniserregend?
Wenn wir die aktuelle Situation mit jener von 2009 vergleichen, als wir eine weltweite Wirtschaftskrise und eine tiefe Rezession hatten, dann sind wir davon meilenweit entfernt.

Was bedeutet das in Zahlen?
Am Höhepunkt der Weltfinanzkrise hatten wir über 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, die in Kurzarbeit beschäftigt waren. Aktuell sind wir bei 44.000 Menschen. Nach unserer aktuellen ifo-Umfrage betrifft dies 3,8 Prozent der Industrie-Unternehmen im Juni 2019. Im Juni 2009 waren es 53 Prozent.

Also stecken wir nicht in einer neuen Krise?
Im Vergleich zum letzten Jahr hat sich die Anzahl der Kurzarbeiter verdoppelt. Für jeden Betroffenen ist dies Grund zur Sorge. Gesamtwirtschaftlich ist das Ausmaß allerdings noch nicht allzu groß, vor allem wenn man es mit dem Jahr 2009 vergleicht. Aber je länger die Konjunkturschwäche anhält, desto mehr Arbeitnehmer werden von Kurzarbeit betroffen sein.

Was genau bedeutet Kurzarbeit?
Das Entscheidende ist, dass die Arbeitnehmer nicht entlassen werden. Sie werden also weiter in den Unternehmen beschäftigt. Es wird aber ihre Arbeitszeit reduziert. Eigentlich würde das bedeuten, dass auch das Einkommen entsprechend sinkt. Wenn ein Unternehmen für seine Beschäftigten bei der Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeit anmeldet, dann übernimmt diese einen Teil des Lohnausfalls. Das ist wie eine Art Arbeitslosengeld I, aber eben ohne arbeitslos zu sein.

Ein Nachteil ist das für die Arbeitnehmer aber trotzdem.
Auf jeden Fall, denn es ist eine unfreiwillige Reduktion der Arbeitszeit und damit auch des Lohns, die sie hinnehmen müssen. Denn die Auftragslage des Unternehmens ist schlechter geworden. Der Vorteil ist natürlich, dass es einen gewissen Ausgleich gibt und man nicht sofort betriebsbedingt entlassen wird.

Aber diesen Lohnausgleich finanzieren wir alle, die Steuerzahler.
Ja, aber das ergibt volkswirtschaftlich Sinn. Ohne den Ausgleich würde die Kaufkraft der betroffenen Arbeitnehmer zurückgehen, sie müssten ihren Konsum einschränken. Indem der Staat die Einkommen der Haushalte stabilisiert, verhindert er, dass sich die Krise verschärft. Somit werden die Zweitrundeneffekte der Konjunkturabschwächung abgefedert.

Für die Unternehmen klingt das auch nach einem guten Deal.
Klar, aber nicht nur finanziell. Die Unternehmen sind froh, dass sie ihre Arbeitnehmer nicht ganz entlassen müssen. Sie befinden sich trotz der aktuellen konjunkturellen Schwankung in einer Lage, in der sie Fachkräfte unbedingt brauchen. Das Kurzarbeitergeld verhindert, dass Firmen wieder auf eine langwierige und kostenintensive Suche gehen müssen, wenn die Auftragsbücher in vielleicht einem Jahr wieder voller werden.

Ist damit denn zu rechnen?
Es ist das Wesen der Konjunktur, dass die wirtschaftliche Lage schwankt. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt uns, dass nach jeder Tiefphase wieder eine Hochphase kommt. Auch die jetzige Situation wird nicht von Dauer sein. Aber in der Tat können wir derzeit noch nicht das Ende der aktuellen konjunkturellen Schwäche erkennen. Insbesondere in der Industrie sehen wir keine Indikatoren, die auf eine Entspannung der Situation hindeuten.

Welche Indikatoren sind das?
Die konjunkturelle Weltlage ist nach wie vor stark geprägt von dem heftigen Handelsstreit zwischen den USA und China. Der Brexit ist nach wie vor nicht geregelt. Auch die Lage im Nahen Osten, wie der USA-Iran-Konflikt, ist nicht gelöst. Es sind viele Faktoren hinzugekommen, die über Jahrzehnte geschaffene internationale Wertschöpfungsketten in Frage stellen.

Welche Branchen sind in Deutschland besonders von vermehrter Kurzarbeit betroffen?
Vor allem im Fahrzeugbau und im Maschinenbau sind Unternehmen und Arbeitnehmer von sinkenden Aufträgen und in der Folge von Kurzarbeit betroffen. Das sind Branchen die besonders stark von der internationalen Nachfrage abhängen. Aber auch Unternehmen in der Textilindustrie wollen zunehmend Kurzarbeit fahren.

Laut Ihren Umfrageergebnissen ist nicht in erster Linie die Autoindustrie, sondern der „sonstige Fahrzeugbau“ am schwersten betroffen ist. Was ist darunter zu verstehen?
Dazu gehören die Hersteller von Schiffen, Zügen, Luft- und Raumfahrzeugen, Panzern und von Motor- und Fahrrädern.

Viele kritisieren dennoch, die CO2-Diskussionen um den Verbrennungsmotor sorge für Kurzarbeit in der Autoindustrie. Ist das falsch?
Der Automobilbau ist auch überdurchschnittlich stark betroffen. Während alle Branchen zusammen etwa 4 Prozent Kurzarbeitsbedarf angeben, sind es in der Autobaubranche schon 7 Prozent. Perspektivisch werden es in den nächsten Monaten 16 Prozent. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Das hat mit der eben genannten Abschwächung der Weltkonjunktur zu tun. Aber eben auch mit der Binnennachfrage, sowohl in Deutschland als auch in der EU. Hier stagnieren die Absatzzahlen für Pkw. Bei uns kommt die Diskussion um Dieselfahrverbote noch hinzu. Viele Menschen zögern beim Autokauf und fragen sich, welche Antriebstechnik für ihren Bedarf zukünftig die richtige ist.

Müssen wir damit rechnen, dass sich die Kurzarbeit-Situation auf andere Branchen ausweitet?
Grundsätzlich kann man sagen, dass je weniger exportorientiert Unternehmen sind, desto weniger sind sie derzeit von Kurzarbeit betroffen. Die Bauwirtschaft etwa brummt nach wie vor. Hier werden dringend Fachkräfte gesucht. Auch bei den konsum- und baunahen Dienstleistungen sowie im Handel läuft es nach wie vor ganz gut. Aber schon im industrienahen Dienstleistungsbereich, wie etwa der Logistik, schlägt sich die Konjunkturschwäche nieder. Hier haben sich die Beschäftigungszuwächse deutlich verlangsamt und immer mehr Unternehmen planen, ihre Belegschaft zu reduzieren. Ganz allmählich breitet sich also die Schwäche der Industrie auf andere Bereiche aus.

Was müssen die Politiker der Regierung jetzt tun?
Zugegebenermaßen ist es gerade bezüglich der Handelspolitik der USA nicht einfach für die deutsche Regierung oder die EU, alles zum Wohl der hiesigen Wirtschaft zu regeln. Aber es ist ihre Aufgabe, hier Erfolge zu erzielen. Auch der Brexit und seine Folgen müssen gestaltet werden. Freihandelsabkommen wie das neue zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten kompensieren das Problem zwar ein wenig. Aber die Größe dieses Wirtschaftsraums ist mit dem der USA dennoch nicht vergleichbar. Schließlich muss der Übergang zur Elektromobilität begleitet werden, sowohl auf Seiten der Unternehmen und Arbeitnehmer, als auch auf Seiten der Verbraucher.

 

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