Drohende Pleitewelle wegen Corona - „Eine Insolvenz ist nicht das Ende“

Zum Bekämpfen der Corona-Rezession setzte die Regierung auch die Insolvenzantragspflicht aus. So könnte die Gastronomie- und Reisebranche eine verschleppte Pleitewelle treffen. In Cicero warnt die Insolvenzanwältin Jutta Rüdlin davor, Insolvenzen zu verteufeln.

Gastronomen drohen Pleiten: Der Herbst könnte ungemütlich werden / dpa
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Lars-Thorben Niggehoff ist freier Wirtschaftsjournalist aus Köln.

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Jutta Rüdlin ist seit 2015 Mitglied des Beirats beim Verband Insolvenzverwalter Deutschlands (VID), seit 2019 ist sie Sprecherin. Die Rechtsanwältin ist Partnerin bei der Kanzlei BRRS und beschäftigt sich dort schwerpunktmäßig mit Insolvenzverwaltung sowie Sanierungs- und Restrukturierungsberatung.

Frau Rüdlin, noch bis Ende des Jahres bleibt die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt. Haben Sie und Ihre Kollegen bis dahin also Zwangsferien?
Zunächst muss man da differenzieren: Bis zum Jahresende darf ein Unternehmer den Antrag nur aufschieben, wenn er ihn wegen Überschuldung, also wenn die Schulden das vorhandene Vermögen übersteigen, stellen würde. Wer tatsächlich zahlungsunfähig ist, also seine Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen kann, der muss ab dem 01. Oktober wieder ganz regulär Insolvenz beantragen. Diese Abstufung ist auch richtig, denn trotz der Extremsituation müssen wir nach und nach zurück zum Normalzustand.

Aber für viele Unternehmen ist die Krise doch noch lange nicht vorbei.
Wir müssen klar zwischen denen unterscheiden, die vor allem wegen der Einschränkungen durch die Pandemie Probleme haben, und denen, die sowieso in einer schwierigen Situation sind. Und genau dafür ist diese Differenzierung zwischen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit sehr sinnvoll. Schulden können durch Corona-Notkredite aufgeblasen sein. Wer Schulden hat, kann sein Geschäft ja erstmal trotzdem weiterführen. Aber wer seine Lieferanten nicht mehr bezahlen kann, bei dem kann es nicht einfach weitergehen.

Jutta Rüdlin, Insolvenzrechtlerin

Viele hoffen vielleicht trotzdem noch auf Maßnahmen des Staates, die den Tod der eigenen Firma verhindern.
Die Wahrnehmung in Deutschland, dass ein Insolvenzantrag automatisch das Ende bedeutet, ist meiner Meinung nach falsch. Unser Insolvenzrecht kennt viele Werkzeuge, mit denen wir Insolvenzverwalter Unternehmen helfen können. Klar, nicht jedes Geschäft ist zu retten, aber sehr häufig finden wir zumindest Teilbereiche, die sich noch sanieren lassen, selbst in der Corona-Zeit. Ich habe im Februar einen Sachwalter-Job bei einer Firma übernommen, die Insolvenz beantragt hatte. Und trotz der schwierigen Umstände haben wir es geschafft, sie zu sanieren.

Die Zahl der Insolvenzanträge geht schon länger zurück.
Wir sehen da eine Fehlsteuerung im System. Auf den ersten Blick mag es gut klingen, dass immer weniger Firmen in Schwierigkeiten geraten. Aber zu einem gesunden Wirtschaftssystem gehört eben auch, dass Unternehmen, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, nicht einfach weitermachen. Und da setzen wir mit unserer Lobbyarbeit an. Letztendlich brauchen wir eine Kultur des Scheiterns wie in den USA, wo es eben kein Makel ist, in die Insolvenz zu gehen. Vielleicht hat Corona in diesem Bereich etwas Gutes: Wenn nun mehr Geschäftsleute diese Erfahrung machen, wird die Insolvenz in Zukunft positiver wahrgenommen.

Das ist eigentlich schwer vorstellbar.
Vielleicht. Wenn ich in ein insolventes Unternehmen reingehe, dann sehe ich zunächst meist hängende Schultern. Aber die Verzweiflung weicht auch oft Erleichterung, wenn man den Leuten darlegt, was für Mittel und Wege es gibt, um ein Unternehmen wieder fit zu machen. 

Kommt die große Insolvenzwelle im nächsten Jahr?
Wir sind in der Rezession, und trotzdem gibt es weniger Anträge als im Vorjahr. Rational erklären lässt sich das normalerweise nicht. Ich erwarte auf jeden Fall, dass sich das ändern wird, sobald die Maßnahmen der Bundesregierung auslaufen. Die öffentlichen Gläubiger spielen dabei eine Schlüsselrolle.

Wie meinen Sie das?
Grundsätzlich können auch Gläubiger die Insolvenz eines Geschäftspartners beantragen. Und das sind oft auch Finanzämter, Sozialkassen und andere öffentliche Einrichtungen. In normalen Zeiten sind sie für rund 30 Prozent der Anträge verantwortlich. Seit Beginn der Pandemie haben sie gar keine mehr gestellt. Wenn das wieder losgeht, gehen wohl auch die Zahlen hoch.

Gilt das so für alle Branchen?
Allgemeingültig sind solche Aussagen nie. Gerade in den besonders hart betroffenen Bereichen wie Reiseindustrie, Gastronomie oder Hotelgewerbe glaube ich nicht, dass alle überleben werden. Besonders, wenn ein zweiter Lockdown kommen sollte, wird das in diesen Branchen ganz schwierig. Da ist nach diesen harten Monaten auch häufig die Substanz aufgezehrt. Und dann ist es schwierig, noch einen Weg zur Fortführung zu finden. Betroffen sein werden davon vor allem die kleinen und Einzelunternehmen.

Und die großen Konzerne wie Tui haben bessere Überlebenschancen?
Nun, ohne konkret über Tui zu urteilen: In den angesprochenen Branchen werden sicherlich auch nicht alle Großen überleben.

Was bedeutet die Aussetzung der Antragspflicht für die Gläubiger?
Für die bringt das schon eine gewisse Unsicherheit mit sich. Bisher konnte man sich relativ sicher sein: Ein Unternehmen, das nicht mehr zahlen kann, beantragt Insolvenz. Das schafft ein gewisses Vertrauen in die Solvenz der Geschäftspartner. Nun sieht das aber anders aus, ich kann als Lieferant nicht mehr wissen, ob mein Kunde mich noch bezahlen kann oder vielleicht überschuldet ist. Viele stellen deswegen auch auf Vorkasse um.

Viele warnen angesichts der umfangreichen Stützmaßnahmen der Politik davor, dass Zombiefirmen geschaffen werden, also Firmen ohne Zukunftsaussichten. Halten Sie den Vorwurf für zutreffend?
Nicht unbedingt. Es gibt sicherlich solche Zombiefirmen, aber die gab es auch schon vorher. Aufgrund der Niedrigzinsphase ist es seit Jahren einfach, immer wieder frisches Geld von außen zu holen. Die aktuellen Maßnahmen laufen aber auch bald wieder aus, wirklich viele neue Zombies werden so nicht geschaffen.

So oder so haben Insolvenzverwalter in diesen Monaten wenig zu tun, Aufträge dürften weniger reinkommen. Ist Ihre Branche etwa eines der weniger beachteten Corona-Opfer?
Unsere Branche ist ja recht vielfältig. Viele Kanzleien machen nicht nur Insolvenzverwaltung, sondern auch Beratung. Und die ist natürlich in so schwierigen Zeiten sehr gefragt. Aber klar, wer primär Insolvenzverwaltung macht, der hat gerade viel Zeit. Wobei man nicht vergessen darf, dass Insolvenzverfahren manchmal Jahre dauern. Entsprechend arbeitet mancher gerade einfach Altfälle ab.

Also drohen keine Schwierigkeiten?
Für die großen nicht, aber der eine oder andere kleine Anbieter könnte in die Bredouille geraten, wenn die Insolvenzantragspflicht immer weiter ausgesetzt wird. Andere werden die eigenen Beratungsleistungen ausbauen. Wobei das auch kritisch sein kann, es drohen Interessenkonflikte: Wenn ich ein Unternehmen berate, kann ich danach Insolvenzverwalter werden? Das sind Fragen, über die man sich vorher im Klaren sein muss.

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