Transformationspolitik - Schluss mit der Selbsttäuschung

Wir müssen aufhören, Technologie als Selbstzweck zu verstehen. Staatliche Digitalprojekte müssen in die Lebensrealität der Bürger eingebettet sein. Das wird auch am Beispiel der europäischen Cloud-Initiative Gaia-X deutlich.

Ein Server des Superrechners Datura im Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Golm bei Potsdam / dpa
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Autoreninfo

Matthias Mirbeth ist Experte für Schnittstellen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor bei der Beratungsfirma TLGG Consulting. Sie berät kleine und mittelständische sowie Dax-Unternehmen und Organisationen im öffentlichen und politischen Raum dazu, die Auswirkungen der Digitalisierung einzu ordnen und sich auf die Veränderungen einzustellen.

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Europa soll unabhängiger werden von bestehender Tech-Dominanz aus Amerika oder China. Google und Facebook bekommen den Druck aus Brüssel bereits seit Längerem zu spüren, Gesetze wie die DSGVO schützen die Daten der Bürger und gelten selbst in Washington als Vorbild. Jetzt folgt der nächste Schritt: Mit Gaia-X will Europa auch mit einer eigenen Infrastruktur-Lösung die Verbindung ins Silicon Valley kappen. Die Idee an sich ist richtig und gut: Eine länderübergreifende Cloud-Infrastruktur, die auf europäischen Standards und Ansprüchen an Datenschutz und Privatsphäre beruht. Behörden und Institutionen arbeiten mit hochsensiblen Daten, die nicht verlorengehen oder mitgelesen werden dürfen.

Die Initiative zeigt: Die industrielle Elite hat die Phasen des Trotzes, des Verharrens und der reinen Absicherung des Status Quo hinter sich gelassen. In einzelnen Unternehmen, in Unternehmens-Allianzen und in den Rängen politischer Entscheider lässt sich Gestaltungswille beobachten. Die Pandemie hat die Anfälligkeit des globalen Wirtschaftens noch einmal deutlich spürbar und den bislang eher diffusen Drang zu einer stärkeren wirtschaftlichen und technologischen Souveränität konkreter gemacht. „Unsere Abhängigkeit von Asien ist übermäßig und nicht hinnehmbar“, sagte denn auch der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire vor seinem Treffen mit Peter Altmaier im Februar. Beide einigten sich darauf, Wasserstoff, Cloud-Computing und Mikroelektronik zu „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) zu machen.

Beschwerde über zu viel Bürokratie

Doch das Projekt Gaia-X offenbart auch die Schwächen der europäischen Vision. Kritiker warnen, dass es sich bei dem geplanten „Verbundsystem von bestehenden Cloud-Anbietern“ eher um lose, ergänzende Angebote zu den bestehenden großen Plattformen handeln könne. Start-ups beschweren sich über zu viel Bürokratie und hohe Komplexität der inzwischen 234 Mitglieder starken Initiative. Und die Bürger? Einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) von März zufolge können 93,5 Prozent mit dem Begriff „Gaia-X“ nichts anfangen.

Die Grundidee aber ist richtig. Eine zukunftsfähige, digitalorientierte Industriepolitik muss sich mittelfristig aus der bloßen Projektlogik befreien, sie muss sich als Innovations- und Transformationspolitik beweisen.

Fragen der persönlichen Freiheit

Dies wird umso wichtiger, je deutlicher sich konkrete Gefahren abzeichnen. Zum einen wird im unterschwelligen globalen Wertekonflikt klar, dass wir technologischen Wandel nicht mehr nur unter wirtschaftlicher Prämisse betrachten dürfen, sondern durchaus auch Fragen der persönlichen Freiheit und unseres Wertegerüsts zur Debatte stehen. Zum anderen wächst die Furcht, wie mit unseren Daten umgegangen wird und was dies für unsere Selbstbestimmung bedeutet.

Die Antwort auf diese Sorgen ist eine Industriepolitik, die sich zum Ziel setzt, auch künftig unsere Freiheiten und Werte zu verteidigen – eine befähigende Transformationspolitik, die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen klare Rahmenbedingungen setzt, nachhaltige Kollaborationen zwischen Staat und Öffentlichkeit ermöglicht und dabei nicht nur auf Produktivität optimiert, sondern auch auf soziale Ziele. Leuchtturm-Projekte wie Gaia-X reichen da nicht aus, wenn sie einerseits nicht in eine übergeordnete Strategie eingebunden sind, andererseits nicht über praktische Projekte den Weg in die Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger finden. Da besteht viel Aufholbedarf.

Einladung zur Teilhabe fehlt

Hier sind auch Initiativen wie die Seite „Digital made in DE“, die die offizielle Digitalstrategie der Bundesregierung mit Hilfe eines grafischen Dashboards darstellt, zwar willkommen, kommen in ihrer Umsetzung dann aber doch nicht beim Bürger an. Es gibt kaum einen Verweis auf eine darüberstehende, ernstzunehmende Ambition, Deutschland und seine europäischen Nachbarn durch nachhaltige Transformationspolitik zu den innovativsten und lebenswertesten Ländern der Welt werden zu lassen. „Schau mal, was ich kann“ ist keine Strategie, keine Vision und schon gar keine Einladung zur Teilhabe. Da dieses Leitbild eines digitalen Deutschlands und Europas fehlt, wird es so schwer, konkrete Maßnahmen zu gestalten, zu bündeln, zu harmonisieren.

Am Ende wird Europa mit einer eigenen Digitalstrategie nur dann erfolgreich sein, wenn die Ergebnisse überzeugen. Ein digital-souveränes Europa punktet durch Infrastruktur und Software-Produkte, die Trust und Privacy zu ihrem Kern machen, darüber für breite Zustimmung sorgen. Womit wir wieder bei Gaia-X wären. Die Initiative könnte mit der Verknüpfung von Startup-Welt, Wirtschaft und übergeordneter Zielsetzung des Staates am Ende punkten. Dafür aber braucht es konkrete Anwendungen mit Mehrwert. Forschung zur Künstlichen Intelligenz (KI) beispielsweise könnten Treuhändermodelle und Storage-Lösungen angeboten werden. Smart-City-Projekte, die auf Cloud-Modelle europäischer Standards zurückgreifen, könnten nicht nur die Effizienz steigern, sondern echte Wertschöpfung generieren und die Akzeptanz fördern.

Getrennte Konzepte, mühevoll zusammengetackert

Es geht auch darum, „Digitalisierung“ als integralen Bestandteil industriestrategischen Handelns zu verstehen und entsprechend zu handeln. Um es grob zu konkretisieren: Wenn der Staat den Eurofighter finanziert, warum dann nicht auch die dazu passende militärische Cloud, die neue Maßstäbe in Sachen Sicherheit und Zuverlässigkeit setzt und mittelfristig auch privatwirtschaftlich eingesetzt werden kann? Warum sind klassische Investition und Zukunftsinvestition so oft zwei getrennte Konzepte, die mühevoll zusammengetackert werden müssen?

Der oft bemühte Aufruf, Zukunft müsse gestaltet werden, hat weder an Richtigkeit noch an Dringlichkeit verloren. Wenn wir aufhören, Technologie als Selbstzweck zu verstehen, und sie stattdessen als Mittel der Wahl begreifen, unsere Gemeinschaft in die Zukunft zu bringen, dann können wir auch den richtigen Rahmen dafür setzen. Wir als Europäer müssen selbstbewusst genug sein, um uns die Kombination aus Datenschutz, Vertrauen, Wertemodell und Innovationskraft zuzutrauen. Eine befähigende Transformationspolitik bindet Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen aktiv in den Wandel und die dafür notwendigen Schritte ein, schafft so Akzeptanz – und schließlich echte Wettbewerbsvorteile als lebenswerte Gesellschaft.

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