Impfen - „Zwang wirkt kontraproduktiv“

Die Bundesregierung erwägt die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht. Radikale Impfgegner protestieren wütend dagegen. Die Psychologin Cornelia Betsch hat ihre Motive untersucht. An die Politik richtet sie einen Appell

Kleiner Pieks, große Wirkung: Impfskeptikern ist die soziale Dimension ihrer Verweigerung oft nicht klar / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Cornelia Betsch ist Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt und Beraterin für die Weltgesundheitsorganisation WHO. Gerade hat sie in einer Studie mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung untersucht, warum Menschen sich und ihre Kinder nicht impfen lassen. 

Frau Betsch, die Zahl der Masern-Erkrankungen steigt in Europa gerade wieder an. Seit Jahresbeginn waren es 40 000 neue Erkrankungen und 40 Tote. Woran liegt das? 
Es wird in Europa nicht flächendeckend gegen Masern geimpft. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schreibt vor, dass 95 Prozent der Bevölkerung geimpft werden müssen. Diese Zahl wird aber nicht erreicht. Deshalb kommt es in periodischen Abständen immer wieder zu neuen Ausbrüchen.  

In Deutschland sind etwa 97 Prozent der fünf- bis sechsjährigen Kinder gegen Masern geimpft. Die Quote ist also gar nicht so schlecht.
Sie dürfen die Erwachsenen nicht vergessen, die nicht geimpft sind. Es gibt die Empfehlung, dass alle, die nach 1970 geboren sind, ihren Status nochmal checken lassen sollten. Man sollte zweimal gegen Masern geimpft werden. Viele sind es nur einmal.

Zwei bis fünf Prozent der Bundesbürger gelten als Impfgegner. Reden wir nicht von einer sehr kleinen Gruppe von Menschen, die sich mit Impfungen schwer tut?
Richtig, nach Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist diese Gruppe in den vergangenen Jahren konstant geblieben. Wir unterscheiden aber zwischen Impfgegnern und Impfskeptikern. Wir interessieren uns vor allem für die Skeptiker, die Fragen haben und an der einen oder anderen Impfung zweifeln, aber nicht an allen. Und diese Gruppe ist nicht gerade sehr klein. Sie umfasst ein Fünftel der Bevölkerung.  

Warum hat man den Eindruck, die Gruppe der Impfgegner sei größer als die der Skeptiker?
Diese Menschen sind eben sehr gut vernetzt – und sie sind sehr laut. Man denkt immer, das liegt an dem „bösen“ Internet, aber auf dem Buchmarkt sieht es fast noch schlimmer aus. Im Internet gibt es eine Menge guter wissenschaftliche Portale neben Portalen für Impfgegner, man muss sie nur finden. Im Buchladen aber finden sich fast nur impfkritische Bücher. Das ist ungünstig, denn bei diesem wichtigen Thema kauft man ja vielleicht doch mal ein Buch, so wie man auch einen Reiseführer kauft. Doch die meisten der verfügbaren Bücher führen zu Falschinformationen und wecken Zweifel. 

Aber wer würde diese Bücher kaufen, wenn er nicht schon vorher misstrauisch wäre?  
Misstrauen ist aber nur einer von fünf Gründen, die wir in unserer Studie untersucht haben – und zwar der, über den die Medien am liebsten berichten. Impfgegner, das ist eine klar abgegrenzte Gruppe von Menschen mit merkwürdigen Ansichten. Es ist aber wichtig, auch die anderen Gründe zu betrachten. Vielen Menschen sind die Risiken der Krankheiten gar nicht bewusst, sie wissen zu wenig über Impfungen oder denken nicht daran, dass sie der Gemeinschaft schaden können, wenn sie sich nicht impfen lassen. Ganz wichtig sind auch die praktischen Hürden. 

Was meinen Sie damit?
Ist Impfen eigentlich leicht genug? Man hätte wohl nicht gedacht, dass das hierzulande ein relevanter Punkt ist. Ist er aber. 

Warum?
Wissen Sie zum Beispiel, wann Ihre nächste Impfung fällig ist? Finden Sie es heraus, wenn Sie in Ihren Impfpass schauen? Wenn Sie keinen festen Hausarzt haben, der einen Überblick über alle Ihre Impfungen hat, ist das ein Problem. Impfen zu vereinfachen, bedeutet, die praktischen Barrieren abzubauen. Impfungen in Kindergärten und Schulen und in Gesundheitsämtern könnten helfen. Dann könnte so etwas wie in Essen nicht mehr passieren. 

Was ist da passiert?
Da ist 2018 eine Mutter von drei Kindern gestorben. Bei zwei Impfungen pro Kind hätte im Prinzip sechsmal die Möglichkeit bestanden, sie zu fragen: Sind Sie eigentlich auch gegen Masern geimpft? 

Cornelia Betsch / Marco Borggreve

Ist der Tod dieser Mutter die Folge der Impfmüdigkeit auf ärztlicher Seite, die Sie in Ihrer Studie kritisieren?
Das können wir in dem Einzelfall nicht sagen, und hier sollen auch keine Schuldzuweisungen getroffen werden. Impfmüde Ärzte gibt es natürlich. Wir konnten zeigen, dass schon geringe Vorbehalte dazu führen, dass die Praxis weniger impffreundlich geführt wird. Aber dennoch sind die Ärzte die wichtigsten Akteure in dem ganzen Prozess – sie sind Vertrauenspersonen und am Ende natürlich die, die die Spritze in der Hand haben. Und nur damit werden Impflücken geschlossen.    

An welchem der fünf Punkte kann denn die Politik am leichtesten etwas ändern? 
An den praktischen Barrieren. Es geht darum, mit der Machete durch diesen Bereich zu gehen, Verfahren zu vereinfachen und rechtliche Grundlagen zu schaffen. Impfen ist eine öffentliche Aufgabe, aber sie wird im Prinzip durch den privaten Sektor – durch Krankenkassen und Ärzte – abgewickelt. Die Frage ist, ob man hier nicht wieder anders denken und den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken sollte. 

Aber laufen solche Veränderungen nicht ins Leere, wenn Menschen solche Angebote gar nicht als Hilfe, sondern als Bevormundung empfinden?
Die Hardcore-Impfgegner kriegt man damit natürlich nicht. Das sind Menschen, die Wissenschaft aus verschiedenen Gründen ablehnen. Häufig steckt auch die Verteidigung einer Weltsicht dahinter; diesen Trend kennen wir auch aus internationalen Studien. Es gibt Menschen, die zweifeln alles an, um ihrem Protest gegen den Staat Ausdruck zu verleihen. Die Techniken, mit denen sie ihre Sicht verbreiten, sind überall dieselben. 

Welche sind das?
Da werden „falsche“ Experten herangezogen oder Verschwörungstheorien verbreitet. Da werden nur solche Fakten herausgepickt, die ihr Weltbild untermauern.  

Einer der Vorwürfe der Impfgegner lautet, die Ärzte handelten im Auftrag der Pharma-Industrie. Wie kommen sie darauf?
Am Ende überschneiden sich Wirtschaft und Gesundheitssektor. Die Pharma-Industrie stellt diese Impfstoffe her, will sie verkaufen, und das Gesundheitswesen hat ein Interesse daran, dass sie genutzt werden. Wer hier eine Verschwörung sehen will, hat da leichtes Spiel. Dabei muss man sich klarmachen, dass die Industrie viel mehr Geld mit Medikamenten als mit Impfstoffen verdient – die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen ist sehr teuer und man braucht sie vergleichsweise selten.  

Ganz hartnäckige Impfgegner sollen so genannte Masernparties veranstalten, auf denen sich gesunde Kinder bei erkrankten Kindern anstecken, um auf diesem Wege Abwehrkräfte zu entwickeln. 
Ich hab davon auch schon häufiger gehört, halte das aber für eine urban legend. Wenn es so etwas wirklich gäbe, sollte man sich darüber im Klaren sein, was so eine Infektion für den Körper bedeutet. Studien haben gezeigt, dass das Immunsystem noch Jahre nach der Ansteckung geschwächt ist. 

Auch eine Impfung ist nicht ohne Nebenwirkungen. Was wiegt schwerer?
Impfen ist immer eine Risiko-Abwägung. Das müssen wir aber eigentlich nicht selbst tun, die Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt nach einem international anerkannten Verfahren die Impfempfehlungen. Bei jeder neuen Impfung werden systematische Literaturanalysen durchgeführt und Risiken bewertet und abgewogen. 

Der Impfstoff gegen Masern ist schon seit Jahrzehnten auf dem Markt. Woher kommt plötzlich die Sorge, er könne Autismus hervorrufen oder Multiple Sklerose begünstigen? 
Diese Gerüchte kommen aus verschiedenen Ländern – das Autismus-Gerücht aus England und das MS-Gerücht aus Frankreich. In einer globalisierten Welt vermischen sich diese Verschwörungstheorien. Sie halten sich in unseren Köpfen. Die Medien sind daran auch nicht ganz unschuldig. 

Wie meinen Sie das?
Da steht dann zum Beispiel in der Überschrift eines Artikels: „Führt Impfen zu Autismus?“ Die Leute lesen dann aber nicht weiter, merken sich: Impfen und Autismus, da war doch was. Wenn so etwas einmal in die Welt kommt, wird es schwierig, das zu widerlegen.   

Welche Rolle spielt der Gemeinschaftsgedanke? Ist es den Impfgegnern egal, dass sie nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch andere? 
Da gibt es große regionale Unterschiede. In individualistischen Ländern wie Amerika und Deutschland ist der Fremdschutzgedanke naturgemäß nicht so ausgeprägt wie in den kollektivistischen Ländern im Osten. In Asien wird Impfen eher als soziale Entscheidung gesehen. Bei uns muss man vielen Menschen diesen Zusatznutzen erst erklären. Dann allerdings wird das für sie ein zusätzlicher Anreiz.   

Der Mikrobiologe Alex Berezow hat Impfgegner in einem wissenschaftlichen Bericht moralisch mit betrunkenen Autofahrern verglichen. Beide seien egoistisch, rücksichtslos und gefährdeten wissentlich das Leben anderer. Hat er Recht? 
Interessanter Vergleich, aber er hinkt. Wenn ich betrunken Auto fahre, tue ich das mit Absicht. Wenn ich mich nicht impfen lasse, unterlasse ich etwas. Aber nicht jede ausgelassene Impfung ist eine bewusste Entscheidung dagegen. 

Der Nationale Aktionsplan sieht vor, dass Masern und Röteln bis 2020 eliminiert werden sollen. Kann Deutschland dieses Ziel erreichen? 
Na ja, dieser Nachweis muss über mehrere Jahre erbracht werden. Masern und Röteln dürfen nur in einer bestimmten Inzidenz auftreten – Masern zum Beispiel nur ein Fall pro einer Million Einwohner. Dieses Ziel haben wir schon verfehlt. Aber die Bemühungen werden fortgesetzt. Es ist klar, dass da was passieren muss. 

Sie meinen die gesetzliche Einführung einer Impfpflicht, die die Bundesregierung gerade wieder diskutiert?
Nein, ich würde mir eher wünschen, die Politik greift die Ergebnisse unserer und anderer Studien auf: Und sie baut Impfbarrieren ab und macht schon vorhandene Angebote bekannter. Eine gesetzliche Impfpflicht kann auch Nebenwirkungen haben. 

Welche?
Eine Impfpflicht wäre ein starker Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Sie sollte wirklich nur das letzte Mittel sein. Es gibt zahlreiche Methoden, die man zuerst erproben könnte – zum Beispiel eine Widerspruchsregelung wie bei der Organtransplantation. So etwas könnte man auch mit Schulimpfungen verbinden. Zwang wirkt kontraproduktiv. Wenn man nur die Masern-Impfung vorschreiben würde, das zeigen uns Studien, holen sich die Leute die Entscheidungsfreiheit an anderer Stelle zurück ...

... und verzichten aus Protest auf eine Impfung gegen Tetanus oder Diphterie?
Genau, und das kann keiner wollen. 

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