Felix Magath - „Ich hielt mich für Siegfried “

Felix Magath arbeitet seit 2016 in China. Erstmals spricht der Trainer über seine Erfahrungen, Fußball, Kommerz, den HSV und die Flüchtlingskrise. Und kritisiert die Entscheidungsscheu der Deutschen

Erschienen in Ausgabe
„Fußball wird überall anders gespielt, abhängig vom Umfeld, den klimatischen und kulturellen Bedingungen“ / Chi Yin Sim
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die ostchinesische Provinz Shandong war die Heimat von Konfuzius. In der Hauptstadt Jinan, einer Metropole mit rund sechs Millionen Einwohnern, hat Felix Magath eine Bleibe auf Zeit gefunden. Er trainiert den ambitionierten Erstligaklub Shandong Luneng Taishan. Wollte man nach einem deutschen Äquivalent für den Vereinsnamen suchen, käme man etwa auf „Bayern Audi Andechs“: Shandong ist die Region, Luneng deutet auf den Besitzer, die zum State-Grid-Konzern gehörende Luneng Group, einen Immobilienentwickler, Taishan heißt ein nahe gelegener heiliger Berg des Daoismus. Cicero traf Magath in Jinan zum Exklusivgespräch.

Herr Magath, Sie arbeiten seit Juni 2016 hier in Jinan. Verstehen Sie mittlerweile China?
Felix Magath: Ich bin weit davon entfernt, maße mir nicht an, das Land zu kennen. Hier ist alles anders – vor allem die zu Recht gerühmte Gastfreundschaft der Chinesen. Sie beeindruckt mich sehr und erfreut mich täglich immer wieder neu.

Wie drückt sich dieses Andere im Alltag aus?
Im Straßenverkehr etwa fährt jeder so, wie es der Platz gerade hergibt. Durchgezogene Linien haben bestenfalls empfehlenden Charakter. Lücken nutzt man sofort. Dennoch gibt es äußerst selten unangenehme oder gefährliche Situationen. Sehr beeindruckend. Niemand fährt besonders aggressiv. Mir gefällt es hier, ich finde Land und Leute hochspannend.

Wozu gewiss die sportliche Situation beiträgt. In der vergangenen Saison haben Sie Shandong Luneng vom letzten Platz zum Klassenerhalt geführt, momentan spielen Sie im oberen Drittel.
Das stimmt. Wir holten in der Rückrunde 25 Punkte in 15 Partien. Die Trainingsbedingungen sind hier fantastisch. Unser Eigentümer State Grid, das größte Energieunternehmen der Welt, nimmt den professionellen Fußball sehr ernst. Shandong Luneng ist ein großer Traditionsverein, führt die Ewige Tabelle des chinesischen Fußballs an. Wir waren viermal chinesischer Meister, zuletzt 2007. Und ich will ja bekanntlich immer Meister werden.

Immer und überall. Wird Fußball eigentlich an jedem Ort der Welt gleich gespielt?
Ganz und gar nicht. Fußball wird überall anders gespielt, abhängig vom Umfeld, den klimatischen und kulturellen Bedingungen, der Mentalität der jeweiligen Einwohner. Bereits in Österreich wird anders gespielt als in Deutschland, in Spanien anders als in Portugal und in China anders als in Korea oder Japan.

Der kulturelle Unterschied zwischen Ihrer vorletzten Station in London beim FC Fulham, wo Sie im September 2014 entlassen wurden, und nun in Jinan könnte kaum größer sein. Warum hat es Sie nach Ostchina verschlagen?
Ich hatte mir schon mit 15 Jahren vorgenommen, einmal länger im Ausland zu leben. Als Spieler hat das nie geklappt; das Angebot, 1984 vom HSV nach Italien zu wechseln, lehnte ich ab. Die zehn Monate in Fulham waren für mich sehr schön, aber auch sehr kurz. Nun bin ich froh und dankbar, in China arbeiten zu dürfen.

Mit Geld hat es nichts zu tun?
Arbeit hat immer mit Geld zu tun. In China gibt es mehr zu verdienen als anderswo. Es wäre albern, das abzustreiten.

China hat ehrgeizige Pläne. Staatspräsident Xi gab das Ziel aus, bis zur Jahrhundertmitte in die Weltspitze des Fußballs vorzudringen. Ist das rea­lis­tisch?
Man wird sehen. Das Bestreben vorwärtszukommen ist auf jeden Fall riesig. Ehrgeiz und Potenzial sind da, an der fußballerischen Ausbildung muss aber noch einiges geändert werden. Fußball ist hier ein sehr junger Sport. Man versucht, den Rückstand jetzt möglichst schnell durch Investitionen in Spieler, in Trainingsgelände, in Stadien und in die Nachwuchsarbeit zu verringern. Aber einen langen Atem und viel Geduld wird man auch brauchen.

An Ehrgeiz hat es Ihnen nie gefehlt, weder als Spieler noch Trainer. Insofern könnten Sie hier zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.
Fußball ist für viele heute nur ein Job. Er sollte aber ein Beruf sein. Und ich möchte, dass die Spieler ihren Beruf erfolgsorientiert ausüben. Ohne Ehrgeiz gibt es keinen Erfolg, nirgends. Ein Sportler ist jemand, der daran arbeitet, besser zu werden.

Liegen die Wurzeln dieser Erfolgsbesessenheit in Ihrer Persönlichkeit?
Ich bin eigentlich immer unzufrieden, mit allem, auch mit mir, denn ich will immer das Maximum. Es gibt sicher viele Wege zum Erfolg, aber ich habe in meiner Zeit als aktiver Spieler beim HSV erfahren, dass man durch Arbeit und Disziplin, auch dadurch, dass man eigene Interessen zurückstellt, bis nach ganz oben kommen kann. Diesen Weg möchte ich meinen Spielern vermitteln.

Bekanntermaßen sehen Sie Spielerberater eher kritisch – warum denn eigentlich?
Mit dem Aufkommen der Berater nahm die Wechselfreude der Spieler rapide zu, die Beständigkeit hat nachgelassen. Vereinstreue gibt es fast nicht mehr. Kaum ein Spieler will hören, dass es für seine persönliche Entwicklung gut wäre, ein weiteres Jahr bei seinem Verein zu bleiben und dass ein Jahreseinkommen von drei Millionen Euro ganz ordentlich ist, es nicht unbedingt woanders fünf Millionen sein müssen. Bei einem Transfer ist der Berater federführend. Er erhält im Schnitt 10 Prozent von der Nettoablösesumme. Die Spieler werden so durch Berater wie auch durch die Vereine zur Unselbstständigkeit verleitet.

 

Sie selbst waren der Albtraum eines jeden Beraters. Zehn Jahre lang spielten Sie für den Hamburger SV in der Ersten Bundesliga. Dann beendeten Sie Ihre Karriere.
Berater gab es damals noch nicht. Heute stehen sie schon in der F-Jugend am Spielfeldrand. Günter Netzer war 1979 beim HSV der erste Manager im deutschen Fußball. Anfangs fühlte ich mich beim HSV wie eine kleine Wurst und wollte wieder weg. Ab dem dritten Jahr erst begann ich mich wohlzufühlen. Heute ist Hamburg für mich die lebenswerteste Stadt überhaupt – auch wenn das die Münchner nicht gerne hören.

Wie gefällt Ihnen der geläufige Begriff „moderner Fußball“?
Ich habe den Eindruck, das Wörtchen „modern“ wird manchmal wahllos benutzt, um andere Sichtweisen auszugrenzen. Um im Fußball modern zu erscheinen, ist man momentan geradezu versessen auf statistische Daten und Leistungstests. Man spricht auch gerne von „vertikalen Pässen“ oder dem Ball, der in die „Schnittstelle der gegnerischen Abwehr“ gespielt werden müsse. Das klingt so, als hätten früher die Fußballspieler nicht den Pass in die Tiefe gesucht und absichtlich den Gegenspieler angespielt.

Woher kommt der Drang zur großen Rhetorik?
Das hat zwei Gründe: Wie in der gesamten Gesellschaft wird alles und jeder verkauft. Man muss sich verkaufen können. Hinzu kommt der Siegeszug der Theorie. Der wunderbare britische Trainer Brian Clough sagte in den 1960er-Jahren, Taktik sei etwas für schlechte Spieler. Daran hat sich meiner Meinung nach nichts geändert. Dennoch wird das Spiel heute sehr vom Theoretischen, von der Taktik her betrachtet. Dabei ist Taktik nur ein Teilbereich des Fußballspiels.

Andererseits müssen Journalisten schreiben und berichten. Ganz ohne Worte wird das nicht funktionieren. 
Natürlich nicht. Doch die Sprache wurde einmal erfunden, damit die Menschen sich verständigen können. Es ging darum, etwas auszudrücken. Heute habe ich eher den Eindruck, mit der Sprache soll etwas versteckt werden. Fußball ist in dieser Hinsicht ein Abbild der Gesellschaft. Im Fußball gelten dieselben Gesetzmäßigkeiten wie in der großen Welt. Doch weil er eben eine überschaubare Welt ist, sind diese Zusammenhänge im Fußball leichter zu durchschauen. 

Ein anderer Trend unserer Zeit ist das große Geld, das mit dem Fußball verdient wird. In China setzen die Klubbesitzer hohe Summen ein, um Stars in die Volksrepublik zu holen. Der argentinische Nationalspieler Carlos Tevez spielt bei Shanghai Shenhua, der einstige Bundesliga-Profi Anthony Ujah stürmt für Liaoning Whowin und kämpft dort gegen den Abstieg.
Sie haben die europäische Champions League vergessen. Da wurde durch die enormen Ausschüttungen der Uefa der nationale Wettbewerb in vielen Ligen fast schon außer Kraft gesetzt. Wenn der FC Bayern es will, wird er die nächsten zehn Jahre immer Meister. Ich würde mir wünschen, dass DFB und Uefa sich stärker für den nationalen Wettbewerb einsetzen statt die Eliten zu begünstigen.

Wenn der FC Bayern von der Champions League besonders profitiert, müssten Sie als dessen ehemaliger Meistertrainer erfreut sein.
Darf ich ehrlich sein? Ich bin Sportler, und als Sportler ist mir Bayern München wie jeder andere ehemalige Verein egal. Nur zum HSV habe ich eine dauer­hafte emotionale Bindung, auch wenn diese in den letzten Jahren sehr auf die Probe gestellt worden ist.

Dann wäre eine Rückkehr zum HSV als Trainer oder Manager vorstellbar?
Ich bin ein Mensch mit viel Fantasie.

Wie sind Sie eigentlich aufgewachsen?
Ich lebte in Aschaffenburg mit meiner aus Ostpreußen vertriebenen Mutter, meiner Großmutter, einem Onkel, dessen Frau und schließlich auch mit dessen beiden Kindern in einer Zweizimmerwohnung. Wir waren also zu siebt. Danach wohnte ich allein mit meiner Mutter, ebenfalls in einer Zweizimmerwohnung. Jeden Monat stellte meine Mutter die Möbel um, damit es in der Wohnung anders aussah.

Ihre Mutter war eine Vertriebene, sagten Sie. Rechnen Sie deshalb heute zur Refugees-welcome-Fraktion?
Da muss man unterscheiden. Wer ist wirklich Flüchtling und verdient Schutz und Hilfe? Und wer sucht, so verständlich es sein mag, lediglich bessere wirtschaftliche Perspektiven? Dann sollte man nicht von Flüchtlingen reden.

Haben Sie von China aus einen anderen Blick auf die Flüchtlingskrise gewonnen?
Zumindest erfahre ich hier am eigenen Leib: Wer in ein fremdes Land kommt, der muss sich anpassen, um akzeptiert zu werden. Wer sich integrieren will, ist hier herzlich willkommen. Deshalb interessiere ich mich sehr für die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich kann außerdem vom legendären Militärstrategen und Philosophen Sunzi noch viel für meine Arbeit lernen. 

Wenn heute dank der Champions Lea­gue Cristiano Ronaldo und Messi astronomische Summen verdienen, dürften Sie als liberaler Mensch eigentlich keine Einwände haben: Die Besten verdienen am meisten. Was ist daran denn auszusetzen?
Ich habe daran nichts auszusetzen, trotzdem wollte ich Ronaldo und Messi nicht so gerne in meiner Mannschaft haben. Fußball ist aus meiner Sicht deshalb schwieriger als Schach, weil Fußball von Menschen gespielt wird und nicht von Figuren. Fußball ist das schwierigste Spiel überhaupt, viel schwieriger als Schach, weil es ein Mannschaftsspiel ist. Im Schach ist jede Figur genau definiert und leistet, was sie soll. Ein Springer hat in jedem Spiel die gleiche Form und eine festgelegte Zugvariante. Der Springer bleibt immer Springer. Im Fußball hat jeder Spieler jeden Tag eine andere Form. Portugal wurde vielleicht auch deshalb Europameister, weil Ronaldo in entscheidenden Momenten nicht auf dem Platz stand. Ein zu großes Ego kann den Erfolg einer Mannschaft gefährden.

Sie hatten als Trainer in München, auf Schalke, in Wolfsburg mit vielen Stars zu tun. Philipp Lahm gilt als Ihre Entdeckung.
Ich holte ihn von der zweiten Mannschaft des FC Bayern, wo er drei Jahre lang keine Chance bekam, in der Bundes­liga zu spielen, nach Stuttgart. Unter mir wurde er vom Rechts- zum Linksverteidiger und dann auf dieser Position ein Weltklassespieler. Diesen Weg habe ich offensichtlich nicht verhindert

Wo lauern die Fallstricke für den von Ihnen angestrebten Maximalerfolg?
Es ist heute fast unanständig, Leistung zu fordern. Leistung wird nur dann geschätzt, wenn es Leistungen zu verteilen gibt. Um Leistung erbringen zu können, braucht es Risikobereitschaft und Entscheidungsfreude. Unsere ganze Gesellschaft will am liebsten im Schongang zum Erfolg, ohne Risiken einzugehen. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Ich selbst will zwar auch keine Fehler machen, aber ich habe keine Angst vor ihnen. Und nur wer keine Angst vor Fehlern hat, kann frei entscheiden. Im Fußball gibt es wie in der Gesellschaft eine Kultur der organisierten Entscheidungs­scheu. Dem Spieler werden die Entscheidungen systematisch abgenommen, durch Berater, durch Eltern, durch Freunde, durch den Verein, manchmal auch durch die Playstation, die ihm sagt, wie er zu spielen habe. Weil es uns so gut geht, sind wir übervorsichtig. Wir wollen das Erreichte nicht riskieren.

Ein Risiko stellt auch das Trainerleben dar: Man weiß nie, wann man entlassen wird. Wie gehen Sie damit um?
Meine erste Entlassung 1997 beim HSV war richtig bitter und hat mich lange stark beschäftigt. Getroffen hat mich auch die Entlassung 2001 in Frankfurt. Dort hatte ich zuvor, in einer schwierigen Situation, sehr viel investiert. In Stuttgart bin ich 2004 selbst gegangen, und das Ende beim FC Bayern im Januar 2007 hat mich überhaupt nicht berührt. Ich bin nach München mit einem Dreijahresvertrag gegangen und im festen Bewusstsein, dass jedes Jahr, das ich überlebe, ein Gewinn ist. Nach zweieinhalb Jahren war ich völlig mit mir und der Situation im Reinen. Schlechte Ergebnisse kann man immer leicht dem Trainer in die Schuhe schieben.

Länger halten sich Bundestrainer auf ihrem Posten. Könnte Sie das reizen?
Jogi Löw ist jung, der kann es noch 30 Jahre machen.

Was unterscheidet die Aufgaben von National- und Vereinstrainer?
Als Bundestrainer ist immer Sonntag: Man ist mit den Spielern in positiven Ausnahmesituationen zusammen und muss sie eigentlich nur bei Laune halten. In der Vereinsmannschaft erleben sie die Spieler im Alltag. Jedes Problem zu Hause, jeder Ärger mit der Freundin zum Beispiel, wirkt sich sofort auf die Leistung aus. Wenn der Kopf nicht frei ist, spielt der beste Fußballer nicht gut. Der Nationaltrainer bekommt sozusagen die Leistung der Spieler ohne deren Probleme. Das ist eine komfortable Situation.

Wo war Ihre schönste Zeit als Trainer?
Das waren die dreieinhalb Jahre in Stuttgart. Ich wurde dort Ende 2002 zusätzlich Manager. Diese Personal­union kannte man nur aus England. In Deutschland war sie unerwünscht, weil man Verantwortung aus Absicherungsgründen gerne auf mehrere Schultern verteilt.

Sie hatten in Deutschland große Erfolge, lernten aber auch das Scheitern kennen.
Die Meisterschaft 2009 mit dem VfL Wolfsburg war ein Traum, ein schöner, überraschender Traum. Als ich nach meiner Rückkehr eine neue Mann­schaft aufbauen musste, weil man innerhalb von eineinhalb Jahren die Meistermannschaft abgewirtschaftet hatte, warf man mir vor, zu viele Spieler einzusetzen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass jeder Spieler seine Chance bekommt. Die Kritiker hat dieser Aspekt nie interessiert. Jedem eine echte Chance zu geben, gehört für mich zum professionellen Arbeiten.

Ihre Rückkehr nach Wolfsburg im März 2011 gestaltete sich wenig schön. Zwei Tage nach Ihrer Entlassung beim FC Schalke unterschrieben Sie dort erneut.
In meiner zweiten Schalker Spielzeit wurde von Anfang an Stimmung gegen mich gemacht. Diese Monate haben mich Jahre gekostet. Vielleicht – ich kann da nur spekulieren – war der Kern all meiner Probleme, dass ich unseren Torwart Manuel Neuer nicht verkaufen wollte. Nach den 20 Monaten auf Schalke war ich geschlaucht, brauchte Urlaub, ließ mich aber vom damaligen VW-Chef Martin Winterkorn in die Pflicht nehmen.

Ein Fehler?
Das würde ich nicht sagen. Ich stehe zu meinen Entscheidungen. Selbstkritisch muss ich aber anmerken, dass ich mich bei meiner Rückkehr nach Wolfsburg für Siegfried hielt, für unverwundbar. Nachdem ich auf Schalke mit Spielern aus der Jugend- und Amateurmannschaft die Vizemeisterschaft erringen konnte, dachte ich, ich bekomme jeden Spieler hin.

Trägt zu diesen Fehlern die mediale Dauerbeobachtung bei?
Natürlich. Wenn man permanent in der Öffentlichkeit steht, glaubt man irgendwann selbst, man wäre so wichtig, wie die Öffentlichkeit einen nimmt. Wie gesagt, ich hielt mich damals für Siegfried.

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage des Fußballs ein?
Durch die Nachwuchsleistungszent­ren der Profivereine gestaltet sich die Ausbildung überall ähnlich: mehr Taktik, weniger Individualität. Darum sehen wir in der Bundesliga zunehmend ähnlichen Fußball. Ich vermisse Spannung, Emotion, überraschende Einzelaktio­nen. Gibt es noch Dribblings? Ein junger Spieler muss auffallen wollen, muss mehr machen wollen als andere und nicht nur clever sein. Diesen Mut gibt es immer weniger. So werden wir mittelfristig Probleme bekommen, mit unseren Vereinen internationale Erfolge zu erringen. Auch habe ich die Unterscheidung in Jugend- und Erwachsenentrainer immer für elementar gehalten. Es gibt sie nicht mehr. Der U-23-Trainer ist mittlerweile der natürliche Anwärter auf den Cheftrainerposten im Profibereich.

Die Bundesliga boomt dennoch.
Sie wird auf jeden Fall fantastisch ver­kauft, richtig modern, so gut wie noch nie.

Sehen Sie weitere Trends neben der Tendenz zur Uniformität?
Ich beobachte den Trend zum körperlosen Spiel und, damit einhergehend, zur Schauspielerei. Weil für die Spieler derart viel Geld ausgegeben werden muss, werden Zweikämpfe als Angriffe auf das Vereinskapital dargestellt. Nach jedem Zweikampf eilen die Betreuer und Therapeuten auf den Platz, der Spieler wälzt sich und bleibt lange liegen, Eis wird in rauen Mengen gesprüht; es fehlen eigentlich nur noch die Geier mit der Bahre aus dem „Fußballspiel der Tiere“ von Walt Disney. Ich plädiere eher für Aufstehen und Weitermachen.

Sie gelten als harter Hund. Hier in Jinan haben Sie die Spieler den traditio­nellen Aufstieg vor Saisonbeginn auf den Taishan zu Fuß absolvieren lassen. Die Treppe zum Gipfel umfasst 6293 Stufen.
Wer seinen Beruf ernst nimmt und das Maximum erreichen will, darf es sich nicht bequem machen. Ich habe immer großen Wert auf Fitness, Disziplin und Ordnung gelegt. Es geht nicht darum, Spieler zu quälen, sondern sie besser zu machen.

Wie anstrengend hat es ein Profi?
Bei mir gibt es wöchentlich sieben Trainingseinheiten von je 75 bis 90 Minuten. In der zweiten Saisonhälfte reduziert sich das Pensum erst auf sechs, dann auf fünf Einheiten pro Woche. An Tagen, an denen nur ein Training stattfindet, haben die Spieler ab 12 Uhr mittags frei. Da kann man von hochbezahlten Angestellten erwarten, dass sie sich auch danach professionell verhalten, auf Ernährung und Regeneration achten und nicht jede freie Minute zum Flug in eine europäische Metropole oder für einen PR-Termin nutzen. Ich war in Deutschland bei einigen Spielern unbeliebt, weil ich keine Trainingspläne für die ganze Woche herausgab, sondern immer nur von einem Tag auf den nächsten. Das hat so manche Freizeitgestaltung verhagelt.

Haben Sie in Jinan einen neuen Blick auf sich selbst gewonnen?
Vor langer Zeit sagte jemand zu mir, ich sei immer dagegen. Mir leuchtete das damals nicht ein. Heute glaube ich, das stimmt. Ich akzeptiere nicht automatisch, was gängige Meinung ist. Lieber mache ich mir selbst ein Bild.

 

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