Digitalisierung - „Ignoranz können wir uns nicht mehr leisten“

Die Revolution, in der wir uns bereits befinden, ist nicht nur digital – sie ist eine „sozialdigitale Revolution“, schreibt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel in seinem neuen Buch. Sie führt zu neuen ethischen Fragen, die wir diskutieren müssen. Ein Buchauszug

Welche Aufgaben sollen Roboter in Zukunft übernehmen dürfen? / picture alliance
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Thorsten Schäfer-Gümbel ist stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, Vorsitzender der SPD in Hessen und der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag. Er beschäftigt sich bereits seit dem Studium mit dem technischen Wandel und beteiligt sich mit seinem aktuellen Buch an der wichtigen politischen Debatte zur Digitalisierung. Foto: Pietro Sutera

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Wenn wir vom Wandel durch die sozialdigitale Revolution sprechen, denken wir häufig zuerst an Themen wie Arbeit, Bildung und Demokratie. Was dabei jedoch oft zu kurz kommt, sind die ethischen Fragen, die sich stellen und bei denen es zudem nicht immer leicht ist, eindeutige Antworten zu finden. Dafür krempelt die Digitalisierung zu vieles um, hinterfragt das Menschenbild eines jeden und macht sich daran, unser Selbstverständnis neu zu definieren. Umso fataler wäre es allerdings, zurückzuschrecken und sich gar nicht erst an Antworten zu versuchen. Agieren und nicht reagieren, darum muss es uns gehen, vor allem wenn die Pendel der Argumente in den Debatten weit in die Extreme ausschlagen.

Die Zukunft der Pflege ist auch so ein kontroverses Thema. „Es ist unwürdig, Menschen von Robotern pflegen zu lassen“, sagen die einen – „Wir sind auf die Maschinen angewiesen“, halten die anderen dagegen. Ich glaube, dass beides richtig ist, warne aber davor, auch hier den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen. Zunächst brauchen wir einen Fahrplan, um den dramatischen Fachkräftemangel zu verringern. 270 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in den kommenden 15 Jahren in der Pflege fehlen, um die Bedarfe unserer Gesellschaft zu decken. Wir müssen diesen Sektor dringend ideell und materiell aufwerten. Im gleichen Zuge, wie Industriearbeit an Wert verliert, muss es attraktiver und lukrativer werden, für andere Menschen zu sorgen.

Zwischen Alltagshelfer und Zuwendungsroboter

Ist diese immens große Aufgabe auf den Weg gebracht und der Weg in die Zukunft klarer umrissen, wird deutlich, wie und was Maschinen in der Pflege beitragen können. Die bisher existierenden Prototypen, die Namen wie „Help Mate“, „Robear“, „Care-O-Bot“ oder „Hobbit“ tragen, bringen Medikamente, helfen beim Umbetten und Aufrichten und verfügen zum Teil über natürlichsprachliche Fähigkeiten, um Patienten zu unterhalten. Es gibt teilautonome Pflegewagen, die Utensilien bereithalten, den Verbrauch dokumentieren und – als Butler umfunktioniert – Snacks, Getränke, Zeitschriften und mehr direkt ans Bett liefern. Solche ergänzenden, unterstützenden Tätigkeiten kann ich mir gut in der breiten Anwendung in privaten Wohnungen und Seniorenheimen vorstellen, ganz ähnlich, wie sich viele Familien andere digitale Helfer wie Rasenmäher- oder Saugroboter ins Haus holen, denen sie dann nicht selten einen Namen geben. Die technische Umsetzung halte ich bei diesen Anwendungen wie auch beim autonomen Fahren für unbedenklich – vorausgesetzt, es gelten die höchsten Maßstäbe.

Dass autonome Roboter einmal die Pflege ganz übernehmen, halte ich bestenfalls für einen Teil eines Science-Fiction-Romans. Therapeutische, emotionale Maschinen wie das Modell „Paro“ sehe ich kritisch: Es stammt aus Japan und wurde einer Robbe nachempfunden, mit antibakteriellem Fell und kindlichen Kulleraugen – vor allem demente Menschen soll es trösten und beruhigen, „Paro“ zu streicheln und in den Arm zu nehmen. Bei solchen sogenannten „Zuwendungsrobotern“, denen womöglich noch ein Charakter programmiert wurde, ist für mich die Grenze erreicht. Maschinen sollten keine menschlichen Züge tragen, sondern als künstlich erkennbar bleiben. Andererseits kann ich die Vorteile nachvollziehen, die Roboter Menschen bieten, die bei der Körper- und Intimpflege Scham vor fremden Pflegerinnen und Pflegern empfinden. Sollte es gelingen, Maschinen mit den nötigen Fertigkeiten auszustatten, hielte ich das zumindest für abwägenswert. Fakt ist ja: Nicht selten hetzt das gestresste Personal im Minutentakt von einem Zimmer zum nächsten, um Patienten zu versorgen, zu reinigen und zu duschen.

Darf ein Roboter mich pflegen?

Grundsätzliche Vorschriften darüber, ob „Paro“ oder vergleichbare Maschinen in der deutschen Pflege eingesetzt werden sollten, maße ich mir deshalb an dieser Stelle nicht an. Für ratsam hielte ich es, wenn alle Menschen ihre persönlichen Präferenzen vorab – und vielleicht begleitet durch die jeweilige Krankenkasse – schriftlich festhalten. Was darf ein algorithmisch gesteuertes oder assistierendes Pflegesystem, und was geht zu weit? Meine Frau und ich haben vor ein paar Jahren in einer Sterbeverfügung präzise festgelegt, welche lebenserhaltenden Maßnahmen wir in welchem Fall wünschen und wann die Ärzte und Ärztinnen die Geräte abschalten sollen. Wir haben das gemacht, um für den Ernstfall gewappnet zu sein und um unsere Angehörigen von diesen zum Teil sehr schwierigen Fragen zu erlösen, die zu massiven Spannungen und Herausforderungen in einer Familie führen können. Ähnlich könnte man in der digitalen Pflege verfahren, um ein Höchstmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen.

Pflegeroboter sind erst am Anfang ihrer Entwicklung. Vorschnelle Urteile zu ihrem Einsatz verbieten sich deshalb. Was wir brauchen, sind weitere Untersuchungen zur Akzeptanz der fortschreitenden Entgrenzung von Mensch und Maschine sowie Zwischenschritte im Forschungslabor und bei Diskussionsrunden. Parallel dazu sollten die Vorreiter der digitalen Pflege flächendeckend eingesetzt werden: der Notrufknopf an der Klospülung; die mit Sensoren bestückten Fußmatten, die im Dunkeln automatisch ein Licht einschalten, sobald jemand nachts aufsteht; die seniorengerechte Haustechnik, die per zentralem Touchscreen die Rollläden hoch- und runterfährt und das Licht oder – bei Besuch – die Kamera vor der Haustür einschaltet. Kommt es darüber hinaus durch die weitere Digitalisierung zu einem Zeitgewinn und einer Humanisierung der Arbeit, muss man das begrüßen. Zu groß sind momentan die Kranken- und Fehlzeiten des Personals, die Fluktuation und die körperlichen Schäden, die die Pflegerinnen und Pfleger durch das täglich dutzendfache Heben, Lagern und Umbetten von Bettlägerigen davontragen.

Es braucht eine öffentliche Debatte

Fürs autonome Fahren gilt die schrittweise Annäherung genauso. Es ist zweckdienlicher, die Möglichkeiten moderner Fahrassistenzsysteme auszureizen, bevor wir weiter – womöglich illusorische – Bilder von Autos zeichnen, die einem sämtliche Aufgaben abnehmen und selbst von Kindern bedient werden können. Es gibt noch zahlreiche vielversprechende Lösungen, die in der Lage sind, eine Brücke zu schlagen: etwa Sensoren, die verhindern, dass man zu dicht auffährt. Gerade nach schweren Lkw- und Busunfällen ist das immer wieder ein Thema in der Öffentlichkeit. Solche Systeme sollten gesetzlich zur Vorschrift gemacht werden, um weitere Unfälle zu verhindern. Das betriebswirtschaftliche Argument der zu hohen Kosten, das in dem Zusammenhang genannt wird, kann ich nicht nachvollziehen. In Neuwagen könnten solche Systeme längst zur Standardausstattung gehören.

Und während wir so daran arbeiten, die Zahl der Menschen zu reduzieren, die durch unsere Mobilität krank werden, sich verletzen oder sterben – wozu im Übrigen ganz erheblich auch Lärm, Feinstaub und Abgase beitragen –, sollten wir parallel dazu beginnen, Wünsche an die bevorstehende Verkehrswende zu formulieren. Der Ethikrat der Bundesregierung hat im Sommer 2017 eine erste Stellungnahme zum autonomen Fahren veröffentlicht. Darin wird unter anderem festgehalten, dass das automatisierte und vernetzte Fahren ethisch geboten ist, wenn die Systeme weniger Unfälle verursachen als menschliche Fahrer, es also eine positive Risikobilanz gibt. Eine weitere Aussage des Berichts lautet, dass Sachschaden vor Personenschaden geht und in Gefahrensituationen der Schutz menschlichen Lebens immer höchste Priorität hat. Die Resonanz auf den Bericht in der Öffentlichkeit war gering. Eine Debatte über den Zusammenhang von Rechenmaschinen, menschlichen Fehlern, Humanität, Rechtsstaatlichkeit und unserem Schicksal gab es nicht. Unwissenheit – oder gar Ignoranz – können wir uns aber nicht mehr leisten. Deshalb benötigen wir viele und prominente Orte, an denen diese Debatte stattfinden kann, wie zum Beispiel Parlamente, öffentlich-rechtliche Medien, Unternehmen, Verbände, Institutionen, Organisationen bis hin zu Parteien – und nicht zuletzt auch in den Familien.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus Thorsten Schäfer-Gümbels Buch „Die sozialdigitale Revolution – Wie die SPD Deutschlands Zukunft gestalten kann“, das am 11. April im Murmann Verlag erscheint. 200 Seiten, 20 Euro.

 

 

 

 

 

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