Notstand in den Pflegeheimen - Der Pflegenotstand hat zu mehr Toten geführt

Zu Weihnachten werden viele Menschen ihre Verwandten in Alten- und Pflegeeinrichtungen besuchen. Ein Deutschlandfunk-Interview mit einer Vertreterin des Deutschen Pflegerats bringt jetzt ans Licht, wie schlecht die Politik die Pflegeeinrichtungen bei dieser Herausforderung unterstützt.

Pflege vor Corona / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Pflegeheime sind die neuralgischen Punkte der Pandemie. Das ist keine neue Erkenntnis, und dennoch scheint der Schutz der Alten und Schwachen auch im zwölften Monat nach dem erstmaligem Ausbruch einer Covid-19-Erkrankung in Deutschland auf beschämendem Niveau zu verlaufen. Zahlen, die etwa am Dienstag in Berlin vorgelegt wurden, belegen, dass in der deutschen Hauptstadt mehr als jeder zweite Corona-Tote ein Pflegeheim-Bewohner war. Ja schlimmer, Anfang dieses Monats verzeichnete man 224 Pflegeheim-Tote seit dem Frühjahr, mittlerweile sind es 492. Mit anderen Worten: In nur wenigen Tagen hat sich die Zahl der Toten in den Einrichtungen verdoppelt. Und in anderen Bundesländern sind die Zahlen nicht besser. Hessen etwa meldete bereits im November, dass zwei Drittel der Todesfälle Altenheime beträfen.

Mitten in all diese bedrückenden Meldungen hinein fällt nun ein Interview, das auch und gerade für die Weihnachtstage nichts Gutes hoffen lässt: Ulrike Döring, im Berufsverband Deutscher Pflegerat (DPR) zuständig für die Altenbetreuung, erklärt auf Nachfrage gegenüber dem Deutschlandfunk, dass es „überhaupt nicht vorstellbar“ sei, dass am Heiligen Abend die ohnehin überlasteten Pflegekräfte in den Alten- und Pflegeheimen Schnelltests für die Besucherinnen und Besucher durchführen könnten. Mit einem derartigen Mehraufwand für die längst am Limit arbeitenden Pflegerinnen und Pfleger könne die Bewohnerversorgung nicht mehr gesichert werden, es müsse daher dringend Lösungen von außen geben. 

Es droht ein Weihnachten der Einsamkeit

Ist also der Wunsch, den Bundeskanzlerin Angela Merkel noch am 26.11. vor dem Deutschen Bundestag geäußert hat, nachdem Weihnachten „kein Weihnachten der Einsamkeit“ werden solle, von Beginn an als fromm, keinesfalls aber als realistisch gedacht gewesen? Was Ulrike Döring in dem weiteren Verlauf des Interviews schildert, offenbart jedenfalls eine politische Trägheit, die allenfalls noch mit dem Wort „fahrlässig“ zu bezeichnen ist. Der Deutsche Pflegerat nämlich habe demnach schon länger darauf hingewiesen, dass man an Weihnachten für die nun endlich zur Verfügung stehenden Schnelltests Hilfskräfte der Bundeswehr oder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen benötige. Es müssten in dieser Angelegenheit dringend Regellungen der Bundesländer geben. Man benötige für die Einrichtungen ein Register, in dem aufgeführt sei, wo man derlei Hilfskräfte bekommen könne.

Das Wort, das Döring an diesem Morgen am häufigsten über die Lippen kommt, ist „dringend“. Schon ein Blick auf den Kalender offenbart schließlich, dass Weihnachten bereits in sechs Tagen stattfinden dürfte. Und aller Voraussicht nach hört auch nach dem Fest der Alptraum in den deutschen Pflegeeinrichtungen nicht auf. Ähnlich nämlich werde sich der Personalmangel laut Döring auch bei den nach Weihnachten anstehenden Impfungen niederschlagen. Auch hier benötige man Hilfe von außen: „Wir können nicht die Fachkräfte noch zusätzlich zum Impfen anleiten und dann auch noch selber impfen. Da müssen Impfteams kommen.“ Die Mitarbeiter seien schon jetzt am Limit, müsstn dauernd Überstunden machen und könnten sich überhaupt nicht mehr erholen. „Da kann etwas zusammenbrechen“, so Döring.

Ein Blick auf die Schattenseiten der Gesellschaft

Wer diesem fast apokalyptischen Warnruf lauscht, der will es kaum glauben: Corona legt schonungslos offen, wo seit Jahren bereits die Schatten und Toten Winkel unserer Gesellschaft liegen: Im Sommer blickten wir auf das Inferno in den Schlachthöfen, auf Billigfleisch und die erbärmlichen Bedingungen, unter denen besonders ausländische Leiharbeiter hierzulande leben und arbeiten. Jetzt sind es, wie schon im Frühjahr, erneut die Alten und Schwächsten.  

Dabei ist der Zustand in den Pflegeheimen seit Jahren bekannt. 2019 etwa meldete die Kaufmännische Krankenkasse in Mecklenburg-Vorpommern, dass Personalmangel und Überstunden in Verbindung mit geringer Vergütung massive gesundheitliche und psychische Folgen für die Pflegekräfte haben. Ein Fünftel aller Krankschreibungen in dem nördlichen Bundesland erfolgte damals bei Arbeitnehmern in Pflegeberufen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die Techniker Krankenkasse: Der Tenor beider Versicherungen: Pflegekräfte sind häufiger und länger krank als andere Berufsgruppen, die Belastungen in den Pflegeberufen gehen besonders auf die Psyche.

Mehr Tote durch zu wenig Pfleger 

Pflegenotstand ist somit kein Begriff, an den sich die Gesellschaft erst im Corona-Jahr 2020 gewöhnen musste. Fast scheint er zu einer Art traurigen Brauchtumspflege im deutschen Gesundheitswesen geworden zu sein. „Wir haben eine vollkommen unzureichende Stellenbemessung, mithin zu wenig besetzte Stellen“, so Ulrike Döring, die gegenüber dem Deutschlandfunk bestätigt, dass Corona in eine ohnehin überlastete Situation hineingebrochen sei.

Und dann offenbart Ulrike Döring das eigentliche Dilemma: Auf die Frage nämlich, ob durch eine bessere personelle Ausstattung der Pflegeheime Corona-Tote hätten verhindert werden können, folgt zunächst nur eine kurze Pause. Man kann regelrecht hören, wie die Verbandsvertreterin der Pflegeberufe ihren ganzen Mut zusammennimmt. Und dann sagt sie ein einziges Wort: „Ja“.

Die Zahlen schockieren

Es folgt wieder eine längere Pause. Eine Pause, in der Zeit ist, sich zu sortieren: Man denkt plötzlich an die 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung, die laut Gesundheitsminister Jens Spahn zur Corona-Risikogruppe gehörten. Eine Zahl, die es der Bundesregierung angeblich unmöglich gemacht habe, ausreichend Schutzmaßnahmen während der Sommermonate zu treffen. Man denkt an die "lediglich" sechsstellige Zahl derjenigen Deutschen, die in Pflegeheimen untergebracht sind und die mehr als 50 Prozent der Corona-Toten stellen. Zum Glück unterbricht Döring irgendwann das beklemmende Schweigen. Der Personalmangel, sagt sie jetzt mit fast bedauerndem Unterton, habe dazu geführt, dass man besonders am Anfang oft gar nicht mitbekommen habe, wenn Menschen infiziert waren.

Vielleicht, so die Hoffnung, wird man nach der Pandemie einmal darüber reden, wie viel Leid auf das Konto des Schicksals und wie viel auf das einer jahrelang zusammengesparten Nachlässigkeit geht. Bis dahin sollten wir darüber nachdenken, wie wir besonders die Alten und Schwachen auch weiterhin nicht in Gefahr bringen.

Das Interview können Sie hier nachhören.

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