Auf zu neuen Buletten? - Die neue Hackordnung

Fleischersatz-Burger aus pflanzlichen Zutaten bekommt man heute in jedem Supermarkt. Kommende Woche stimmt das EU-Parlament ab, ob falsches Fleisch überhaupt so genannt werden darf. Tatsächlich könnte schon bald auch echtes, kultiviertes Fleisch aus dem Labor die alte Fleischindustrie stürzen.

Wird nach pflanzlichen Fleischersatzprodukten Laborfleisch der neue Renner? / dpa
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Ferdinand Dyck schreibt über Essen und Trinken, zuhause braut er eigenes Bier

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Die ersten Berichte vom Ausbruch jener Revolution, die das globale Lebensmittelsystem auf den Kopf stellen soll, liegen erst wenige Jahre zurück. In einem Londoner Fernsehstudio setzt die Ernährungsforscherin Hanni Rützler am 6. August 2013 ihr Messer an eine braun gebrannte Scheibe, die ausschaut wie eine handelsübliche Rindfleischfrikadelle. Höchstens ein wenig feiner gewolft wirkt das Fleisch in der Internetübertragung, womöglich auch eine Spur magerer. Doch es ist Fleisch, da gibt es – optisch zumindest – kein Vertun.

Aber die Sache steht komplizierter: Die Muskelzellen in der Frikadelle stammen zwar von einem Rind. Nur geschlachtet wurde es nicht. Dem Tier wurde per Biopsie ein Stück Muskelgewebe aus der Schulter geschnitten. Aus daraus gewonnenen Stammzellen wuchsen in einem Bioreaktor in einer Nährflüssigkeit neue Muskelfasern. Diese wurden in mühevoller Handarbeit zu einem Stück Fleisch modelliert, durch den Wolf gedreht, zur Scheibe geformt und gebraten. Auch wenn man sogenanntes „kultiviertes Fleisch“ oder „In-Vitro-Fleisch“ – auch „Laborfleisch“ genannt – selbst sieben Jahre später noch nirgends kaufen kann und es bislang wohl erst ein paar Dutzend Menschen weltweit gekostet haben: Schon bald könnte es schwer werden, dem Thema noch zu entkommen.

In den nächsten zwei bis vier Jahren, so bestätigen mehrere Hersteller, sollen die ersten Produkte für Konsumenten erhältlich sein, auch in Europa. Der Plan: Kultiviertes Fleisch soll so günstig werden, dass es mit jenem von der Weide und aus den Mastställen konkurrieren kann. Neben dem Versprechen einer deutlich besseren Umweltbilanz und ethischer Unbedenklichkeit – wo kein Tier, so die Logik, da keine Probleme mit dem Tierwohl – soll dieser Preis die Verbraucher überzeugen, irgendwann hauptsächlich Fleisch aus dem Bioreaktor zu essen. 

Sturz der alten Fleisch-Ordnung?

Das mag arg ambitioniert klingen. Doch die Lebensmittelbranche nimmt die Sache ernst. Sie hat gerade erst erlebt, wie sehr sich viele Leute nach Alternativen zum konventionellen Massenfleisch zu sehnen scheinen. Nicht ohne Grund gibt es heute in fast jedem Supermarkt Burger und Würste aus pflanzlichem Fleischersatz. Dabei hatte von denen vor acht Jahren auch noch keiner gehört. Anderthalb Jahre vor der Verkostung des In-Vitro-Burgers in London, im März 2012, erscheint ein Artikel in der New York Times. „Ein Hühnchen ohne Gewissensbisse“, lautet die Überschrift. Im Text darunter schwärmt Mark Bittman, einer der einflussreichsten Food-Journalisten der USA, von einer Hühnerbrust, die keine ist. Als einer der ersten Menschen durfte Bittman damals ein Produkt verkosten, für das ein Pulver aus pflanzlichen Zutaten – unter anderem Soja, Erbsenproteinen und Karottenfasern – mit Wasser verrührt und unter Druck in einer Maschine in Form gebracht wurde. 

Diese „chicken-free strips“, die „hühnchenfreien Streifen“ von damals stammten von einer Firma namens Beyond Meat. Deren Produkte findet man nach Angaben des Unternehmens mittlerweile in knapp 60 000 Läden, Restaurants und Kantinen weltweit. Auch Dutzende weitere Hersteller bieten heute „plant based meat“ an, wie sie es nennen. Das hat nicht mehr viel zu tun mit den grauen Seitanstreifen und trockenen Grünkernfrikadellen, wie es sie schon lange im Reformhaus gibt. Die technologisch komplexen, hochverarbeiteten Konstrukte aus pflanzlichem Eiweiß, Fett und Nährstoffen kommen dem sensorischen Erlebnis, Fleisch zu essen, tatsächlich immer näher. Dem Verbraucher scheint es zu schmecken. Seit etwa zwei Jahren legen die Hersteller schwindelerregende Wachstumszahlen vor. Um 30 Prozent stieg der Absatz 2019 in den USA, in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie zogen die Verkäufe noch einmal drastisch an: um gut 260 Prozent zwischen März und Mai, schätzt das Marktforschungsunternehmen Nielsen. Im asiatisch-pazifischen Raum dürfte der Absatz im gesamten Jahr 2020 um 11 bis 17 Milliarden Dollar zulegen und sich damit ungefähr verdoppeln, so das Marktforschungsunternehmen Euromonitor International.

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Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass beides – der Siegeszug der Fleischersatzprodukte und der nahende Markteintritt des kultivierten Fleisches – den Managern großer Fleischkonzerne gerade Sorgenfalten ins Gesicht treibt. Sie bangen um ihr Billionengeschäft. Denn die Macher hinter dem neuen Fleisch haben nicht weniger als einen Sturz der alten Ordnung im Sinn. Sie wollen nicht mehr bloß die Öko- und Veganernische bedienen. Sie drängen mit ihren Produkten in die Fleischtheken der Supermärkte. Sie planen, das tote Tier als Ursprung von Steak, Schnitzel und Bratwurst abzuschaffen.

Wie Megatrends unsere Ernährung beeinflussen

Ein Donnerstagvormittag in Wien. Im Steirereck, einem Zwei-Sterne-Restaurant in einer Parkanlage am Wiental-­Kanal, ist eine Leinwand aufgebaut. Hanni Rützler referiert sich durch ihre Powerpoint-Präsentation. Jene Frau, die vor sieben Jahren als einer der ersten Menschen eine Frikadelle aus kultiviertem Fleisch verkosten durfte, gehört zu den renommiertesten Experten Europas, wenn es um die Trends menschlicher Ernährung geht.

Bei ihrem Vortrag in Wien zeichnet sie die großen Linien der Entwicklung der menschlichen Ernährung der vergangenen 20 Jahre nach. Diese Linien folgten immer der sozialen Entwicklung im Ganzen, argumentiert Rützler. Die Kurzfassung: Der Jahrtausendwechsel markierte die endgültige Abkehr großer Teile moderner Gesellschaften von tradierten Werten – und von traditionellen Ernährungsmustern. „Als ich 1995 meine erste große Ernährungsstudie publiziert habe“, sagt sie, „konnte man an der Menge und an der Art von Fleisch, die jemand gegessen hat, noch ableiten, ob es sich um einen leitenden Angestellten oder einen Arbeiter auf dem Land handelte.“ Diese starren Konsummuster hätten sich „verwirbelt“. Stattdessen bestimmten immer stärker sozioökonomische „Megatrends“ die Ernährung. „Kräfte“, so drückt es Rützler aus, „die den Wandel global über alle Branchen hinweg antreiben.“ 

14 Megatrends bilden die Grundlage ihrer „Foodreports“, etwa: die Individualisierung der Gesellschaft, die sich unter anderem in kleineren Haushaltsgrößen ausdrückt. „New Work“ habe die Rolle der Frau in Haushalt und Küche umgedeutet. Zuletzt hätten vor allem zwei Trends das menschliche Verhältnis zum Essen bestimmt: „New Nature“ – die Sehnsucht nach mehr Natürlichkeit und Nachhaltigkeit. Und „Gesundheit“. Diese Einstellungen aber lassen sich immer weniger mit dem existierenden Fleischsystem vereinbaren.

Fleisch wurde zum Entwicklungstreiber

Fleisch ist heute globale Massenware: billig, überall verfügbar und scheinbar perfekt auf die Bedürfnisse des modernen Menschen abgestimmt. Hackfleisch in 250-Gramm-Paketen für den Single-­Kühlschrank und im XXL-Familien-Kilopack. Auf der Verpackung vielleicht das Comicbild eines lächelnden Schweinchens oder eines alten Bauernhofs. Dabei haben sich Zucht und Mast der Nutztiere seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer weiter verlagert: von überall sichtbarer, kleinteiliger Landwirtschaft hin zu industriell betriebenen Anlagen in großen Hallen hinter Stacheldraht. Neue Hühner, Puten und Schweinerassen wurden gezüchtet, die sich deutlich schneller auf Schlachtgewicht füttern lassen als die alten Landrassen, die meist noch auf ein Leben unter freiem Himmel ausgerichtet waren. Moderne Masthühner können mitunter nach wenigen Wochen nicht mehr laufen, weil das Gewicht ihrer Brüste dann zu schwer wiegt. Den bekannten pinkfarbenen Hybridschweinen wachsen zwar zwei Rippen – und somit Koteletts – mehr als ihren gestreiften oder gepunkteten Vorfahren, dafür leiden sie häufig unter Gelenkentzündungen.

Für viele Menschen hingegen war das massenhaft verfügbare Fleisch zunächst ein Segen. Wurden 1961 weltweit noch gut 70 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt, waren es 2018 mehr als 340 Millionen Tonnen, davon jeweils deutlich über ein Drittel Geflügel- und Schweinefleisch und gut 20 Prozent Rindfleisch. Während die Menschheit sich in derselben Zeit von etwa 3,1 Milliarden auf 7,6 Milliarden mehr als verdoppelte, wuchs die Fleischproduktion also fast um ein Fünffaches. 

Für große Teile der Weltbevölkerung wurde Fleisch zum Entwicklungstreiber. Statt im Garten selber Hühner oder Schweine zu halten, zogen die Mitglieder aufstrebender Gesellschaftsschichten in die Stadt, kauften Fleisch im Supermarkt und bemühten sich um Bildung und bessere Jobs – erst in Europa und den USA, später auch in Asien und Lateinamerika.

Ein potenzieller Massenmarkt

Doch Hitzewellen, Trockenheit und die fast täglichen Berichte über schmelzende Gletscher und den steigenden Meeres­spiegel haben die Menschen aufgerüttelt. Die Deutschen etwa sehen im Umwelt- und Klimaschutz laut Studien nun das drängendste politische Thema überhaupt. Das könnte den Fleischfirmen gefährlich werden. Die Wirkung ihrer Steaks und Schnitzel auf Klima und Umwelt ist erwiesenermaßen katastrophal: Zucht und Mast von Nutztieren sind für 15 Prozent aller vom Menschen gemachten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Fleischproduktion verbraucht mehr Wasser als die Erzeugung jedes anderen Lebensmittels. Soja, das auch deutsche Schweine fressen, wird dort angebaut, wo in Brasilien und Indonesien einst Regenwald wuchs. Unter anderem die Gülle aus den riesigen Mastställen Norddeutschlands hat das ökologische Gleichgewicht der Ostsee derart ruiniert, dass dort gerade die Dorsch- und Heringsbestände zusammenbrechen.

Der Wunsch nach Fleischalternativen ist statistisch nicht mehr zu übersehen. In einer im Mai 2020 veröffentlichten Studie des Marktforschungsunternehmens Forsa gaben 55 Prozent der Befragten in Deutschland an, gelegentlich bewusst auf Fleisch zu verzichten. Der entscheidende Punkt: Die Zahl jener Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, wächst kaum. Insgesamt sind es deutlich unter 10 Prozent. Stattdessen zeigen sich die Befragten offen gegenüber Fleischalternativen, die dem Fleischerlebnis nahekommen: 50 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal pflanzlichen Fleischersatz gekauft zu haben. 

Hinter den Zahlen verbirgt sich ein potenzieller Massenmarkt. Und den haben nun auch jene weltweit etwa 50 jungen Unternehmen im Visier, die sich gerade ein Rennen darum liefern, als Erste ein überzeugendes, bezahlbares Produkt aus kultiviertem Fleisch auf den Markt zu bringen – 70 Jahre, nachdem die ersten Visionäre und Tüftler die Idee in die Welt brachten.

Laborfleisch aus dem All

Winston Churchill etwa schrieb bereits 1932, es sei „eine Absurdität“, ein ganzes Huhn aufzuziehen, um dann bloß die Brüste oder Flügel zu essen. Stattdessen solle man diese Teile „getrennt voneinander in einer Nährflüssigkeit“ wachsen lassen. 1948 beobachtete ein Medizinstudent namens Willem van ­Eelen in den Niederlanden in einem Universitätslabor, wie eine Gruppe Wissenschaftler versuchte, ein Stück tierisches Gewebe am Leben zu halten. Sie wollten menschliche Organe im Labor wachsen lassen, um sie kranken Menschen zu implantieren. Van Eelen soll sich sofort gefragt haben: „Können wir Fleisch wachsen lassen, wie wir Gewebe wachsen lassen?“ So beschreibt es Chase Purdy in seinem Buch „Billion Dollar Burger“. 1997 meldete van Eelen das erste Patent auf einen Herstellungsprozess für kultiviertes Fleisch an. 2002 kultivierte ein Wissenschaftler in New York erfolgreich ein Stück Goldfisch­muskelgewebe. Er würzte es, briet es in Olivenöl an und setzte es einer Reihe von Testern vor, die es für „essbar“ befanden. Unter anderem hatte die Nasa die Forschung finanziert – die US-Raumfahrtbehörde hatte herausfinden wollen, ob es möglich sei, Fleisch zur Ernährung ihrer Astronauten im All wachsen zu lassen. 2003 präsentierten Forscher der Universität Harvard im französischen Nantes ein Mini-­„Steak“ aus Froschzellen. Auf Bildern sah das aber noch nach einer ziemlich glitschigen Angelegenheit aus.

2013 schließlich stellte Mark Post, Professor für Gefäßphysiologie an der Universität Maastricht und Weggefährte van Eelens, den ersten In-Vitro-Burger per bereits erwähntem Livestream aus London vor. Die New York Times titelte damals: „Wie man einen 325 000-Dollar-Burger baut“. So viel kostete es damals noch, rund 20 000 Muskelfaserstreifchen für die Frikadelle im Labor wachsen zu lassen und so Hackfleisch zu produzieren.

Doch dann verschwand das Thema wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Stattdessen setzte eine Handvoll US-amerikanischer Start-ups auf eine andere Idee mit globaler Durchschlagskraft: Wenn alle Stoffe, aus denen sich tierisches Gewebe zusammensetzt, ohnehin aus Pflanzen stammen, so fragten sie: Warum schaffen wir unsere Nutztiere dann nicht gleich ganz ab?

Hähnchenfreie Hähnchenstreifen

Die Idee, tierisches Fleisch aus pflanzlichen Stoffen täuschend echt nachzubauen, reicht wohl in die achtziger Jahre zurück. Ein Lebensmittelwissenschaftler namens Fu-hung Hsieh richtete damals an der Universität von Missouri ein Programm für „Food Engineering“ ein. Er schaffte einen Extruder an – eine Maschine, die feste oder dickflüssige Massen unter Druck oder Hitze aus Düsen pressen und dadurch deren Form und Konsistenz entscheidend verändern kann – und arbeitete fortan daran, Muskelfasern aus Pflanzenstoffen nachzubauen. 

Ethan Brown, ein veganer Umweltaktivist, wurde auf Hsiehs Arbeit aufmerksam. Die beiden arbeiteten fortan gemeinsam an der perfekten Faser, 2009 ließ Brown sich das Verfahren patentieren und gründete Beyond Meat. „Es gibt nichts Geheimnisvolles an Fleisch“, sagte Brown, der selbst von einem Milchbauernhof stammt, einmal. „Es besteht aus Aminosäuren, Lipiden, Spurenelementen und Wasser. Und wenn man diese vier Dinge in derselben Architektur wie Muskeln zusammenbauen kann – warum sollte man das Ergebnis nicht Fleisch nennen dürfen?“ 2012 kam das erste Produkt der Firma in den Handel. Die „chicken-free strips“ wurden zum Verkaufshit.

Die Burger, Würste und Hähnchenstreifen von Beyond Meat und Impossible Foods, dem wichtigsten Konkurrenten, bekommt man in den USA heute an jeder Ecke. Die großen Fastfood-Ketten wie McDonalds, Burger King, KFC und White Castle etwa bieten nun allesamt Fleischersatzprodukte an. Einige kommen dem Geschmack von Fleisch schon ziemlich nahe – vor allem, wenn sie mit ordentlich Ketchup oder Sauce serviert werden. Währenddessen arbeiten die Entwicklungsabteilungen an noch überzeugenderen Fleischkopien.

Wenig zimperliche Rückzugsgefechte der Rinderbarone

Auch die Lenker der alten US-Fleischbranche können den Fleischersatz nicht länger ignorieren. Einige von ihnen holen gerade zum konzertierten Gegenschlag aus: Das Center for Consumer Freedom (CCF) ist eine Organisation, wie man sie in Washington DC häufiger findet: eine wenig zimperliche Lobby-Agentur. Gegründet in den Neunzigern, um für Philip Morris Stimmung gegen das Rauchverbot zu machen, engagiert sie sich heute auch für die Interessen der Alkohol- und Fleischwirtschaft. 2019 schaltete das CCF eine ganzseitige Anzeige in der New York Times: Beim Fleischersatz handle es sich um „fake meat“, um „falsches Fleisch“, war darin zu lesen, nur mit „echten Chemikalien“. 

Zur Live-Übertragung des Super Bowls ließ man im Februar 2020 einen Werbespot ausstrahlen. Zu sehen waren Kinder, die bei einem Buchstabierwettbewerb daran scheitern, Fleischersatz-Zusatzstoffe wie „Methylcellulose“ und „Propylenglykol“ zu buchstabieren. Hinter der Kampagne steckten ziemlich sicher Verbände von Rinderzüchtern. Sie wollen das neue Fleisch von den Supermarkt-Kühltheken fernhalten, in denen ihre Produkte bislang konkurrenzlos lagen: Es wirkt wie ein verzweifeltes Rückzugsgefecht. Einem Rinderbaron bleiben wenig Alternativen, wenn die Leute aufhören, seine Rinder zu essen.

Die Aufholjagd der großen Konzerne

Die großen, global agierenden Lebensmittelkonzerne dagegen haben immer Alternativen – und sie setzen fast alle aufs neue Fleisch: Tyson Foods, der weltweit größte Vermarkter von Geflügel-, Schweine- und Rindfleisch, beteiligte sich schon 2009 als Kapitalgeber an der Gründung von Beyond Meat und legte zehn Jahre später seine eigene Fleischersatzsparte auf. Nestlé, der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt, tritt in Europa mit veganen Burgern, „vegetarischen Wiener Schnitzeln“ und „gegrillten Filets, Hähnchen-Art“ an, in den USA mit pflanzlichem „Bacon“ und veganen Burritos. 

Unilever, einer der weltweit größten Mischkonzerne für Verbrauchsgüter, kaufte 2019 das niederländische Start-up Vegetarian Butcher, dessen Produkte heute auch in deutschen Supermärkten liegen. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Allein der Umsatz mit pflanzlichen Fleischersatzprodukten könnte bis 2030 auf 140 Milliarden Dollar wachsen, prophezeite 2019 etwa die Investitionsbank Barclays. Das wären dann bereits rund 10 Prozent des gegenwärtigen Weltfleischmarkt-Volumens.

Noch ist kultiviertes Fleisch zu teuer

Und obwohl die Entwicklung beim kultivierten Fleisch noch nicht so weit ist, gibt es Indizien, dass die Branche den Erfolg kopieren könnte. Wie bei den Anfängen der Fleischersatzfirmen engagieren sich schon eine Reihe ernst zu nehmender Risikokapitalgeber an Start-ups, die etwa in den USA, Israel und Europa am kultivierten Fleisch forschen. Seit 2015 dürften mehrere Hundert Millionen Dollar investiert worden sein. Finanziert werden damit so unterschiedliche Ansätze wie das Kultivieren von Blau­flossen-Thunfisch-Gewebe oder das Herstellen von Geflügelstopfleber, Chicken Nuggets und Steaks – auch wenn alles, das auf eine komplexere Struktur als Hackfleisch zielt, wohl noch einige Jahre Entwicklung mehr benötigen wird.

„Beim Burger planen wir aber definitiv eine Markteinführung in den kommenden Jahren“, so eine Sprecherin von Mosa Meat, einem Unternehmen, das Mark Post, der niederländische Professor, 2015 mit einem Partner gründete. Die meisten wissenschaftlichen und technologischen Hürden seien genommen. Inzwischen sei es etwa möglich, Fettzellen zu kultivieren. Die Frikadelle aus dem Labor in Maastricht dürfte, wenn sie wie geplant zunächst in Restaurants in Europa serviert werden wird, sich auf der Zunge also wesentlich saftiger anfühlen als der Pilot-Burger vor sieben Jahren in London. „Jetzt geht es vor allem darum, die Herstellungskosten weiter zu senken“, so die Sprecherin, „damit wir in naher Zukunft mit dem Preis von Fleisch aus Tierzucht konkurrieren können.“ Die Nährflüssigkeit zum Wachsen der Muskelfasern etwa mache noch einen Großteil der Kosten aus.

Auch beim kalifornischen Start-up Just arbeiteten sie gerade vor allem an der Skalierbarkeit, so ein Sprecher. Ein einziges Chicken Nugget des Unternehmens kostet in der Herstellung momentan rund 50 Dollar – vor sechs Jahren waren es noch etwa 60 000 Dollar. Jetzt brauche es vor allem größere Bioreaktoren und möglichst viele davon, um die Stückkosten zu senken. Bei Just hält man es für am wahrscheinlichsten, dass kultiviertes Fleisch als Erstes in High-End-Restaurants in Asien serviert wird. Man arbeite „mit Behörden und Interessenvertretern“ daran, dort „in der nahen Zukunft“ ein Produkt auf den Markt zu bringen.

Europa kommt am neuen Fleisch nicht vorbei

Hanni Rützler, die österreichische Ernährungsforscherin, würde das nicht überraschen. „Im deutschsprachigen Kulturraum setzen wir uns sehr wenig mit Innovationen der Lebensmitteltechnologie auseinander“, sagt sie. Beim Thema kultiviertes Fleisch dominiere noch die „Angst vor dem Exotischen“. In China etwa sei das anders. „Ernährungspolitik wird dort mit ganz anderen Hebeln durchgesetzt“, sagt sie. Auch die Notwendigkeit für Veränderungen sei größer. Fleischskandale seien fast an der Tagesordnung. Seit die Afrikanische Schweinepest in China wütet, hat sich der Preis für Schweinefleisch fast verdoppelt. Wohl nicht ganz zufällig verkündeten Forscher einer Universität der östlichen Provinz Jiangsu Ende 2019, es sei ihnen erstmals in China gelungen, Muskelfasern aus tierischen Stammzellen zu kultivieren – genauer: aus Schweine­stammzellen. Unternehmen, die pflanzlichen Fleischersatz herstellen, etwa Langusten-„Fleisch“ und „Schweinefilet“, gibt es dort schon länger.

Auch Europa aber werde am neuen Fleisch nicht vorbeikommen, glaubt Rützler. „Die Landwirtschaft ist in weiten Bereichen nicht zukunftsfit, weder was den Klimawandel noch was die Ansprüche der Menschen an ihre Lebensmittel angeht“, sagt sie. Im Moment drücke sich das noch in einer Sehnsucht nach Ursprünglichkeit aus. Danach, Essen wieder mit Methoden aus vorindustrieller Zeit zu produzieren. „Aber man macht es sich zu einfach, wenn man meint, man könne mit dem Blick zurück die Zukunft gestalten“, sagt Rützler.

Wird der In-Vitro-Burger auch schmecken?

Dass Verbraucherromantik und Realität nicht immer Hand in Hand gehen, zeigt die Rechnung eines wissenschaftlichen Datenprojekts der Universität Oxford: Ein Kilogramm Fleisch von Rindern aus Mutterkuhhaltung – aus einer Herde, die im Familienverbund unter ziemlich natürlichen Bedingungen, oft unter freiem Himmel aufwachsen darf – verursacht demnach etwa dreimal so viel Treibhausgase wie Fleisch von Rindern aus industrieller Milchviehhaltung. Nur: Auch jenes Fleisch, das quasi als Abfallprodukt bei der Milcherzeugung anfällt, ist immer noch rund 20-mal so klimaschädlich wie der Anbau von Getreide oder Gemüse. Weder vermeintliche Idylle alter bäuerlicher Ordnung noch industrielle Fleischproduktion sind geeignet, die wachsende Zahl von Menschen zu ernähren. Jedenfalls nicht ohne so die Erde zu zerstören.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Die Menschen essen viel weniger Fleisch – bisher gibt es aber keine Anzeichen, dass sie dazu bereit sind. Oder man erzeugt das Fleisch künftig weitgehend, ohne Tiere dafür zu halten. Ein bekannter Burger aus pflanzlichem Fleischersatz erzeugt laut einer vom Hersteller beauftragten Studie etwa 90 Prozent weniger Treibhausgase und verbraucht knapp 50 Prozent weniger Energie als eine entsprechende Menge Rindfleisch. Das kultivierte Fleisch aus dem Bioreaktor könnte einer Studie der Universität Oxford zufolge im Idealfall ähnlich umweltfreundlich produziert werden. Ob der In-Vitro-Burger geschmacklich ähnlich überzeugen kann, wird sich nun wohl schon in wenigen Jahren zeigen.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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