Bargeldverbot in Indien - Ein brutales Sozialexperiment

Warteschlangen, Hamsterkäufe, Unruhen und erste Tote: In Indien kann man dieser Tage studieren, was passiert, wenn eine Regierung im Hauruck-Verfahren Bargeld sperrt. Der „Schlag gegen die Korruption“ trifft nicht die Schwarzarbeiter, sondern die Schwächsten

Weil Geldautomaten verriegelt sind und niemand Wechselgeld hat, stehen die Menschen seit Tagen vor Banken Schlange / picture alliance
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Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Die Utopie einer Gesellschaft ohne Bargeld – sie lebt auch in Deutschland. Vor einem Jahr forderte der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, Scheine und Münzen abzuschaffen. Und vor zwei Jahren prophezeite Ex-Paypal-Chef David Marcus, dass westliche Großstädter ihren Alltag schon 2018 ohne Bargeld und Bankkarten meistern könnten.

Doch eine Regierung sollte sich davor hüten, aktiv in den Bargeldfluss einer Gesellschaft einzugreifen. Wie gefährlich das sein kann, zeigt sich derzeit in Indien. Dort hat die Regierung ihr Land einem unfreiwilligen Sozialexperiment unterzogen: Wie lange kann eine Bevölkerung ohne Bargeld auskommen?

Radikalste Finanzmarktmaßnahme in 70 Jahren

Am Dienstag vor einer Woche hatte Premierminister Narendra Modi überraschend die wichtigsten indischen Banknoten für ungültig erklärt. Scheine im Wert von 500 (6,82 Euro) und 1000 Rupien (13,63 Euro) dürfen seitdem nicht mehr verwendet werden. Sie können gegen neue Geldscheine umgetauscht werden, darunter erstmals auch eine 2000-Rupien-Note. Das soll Bestechung eindämmen, Schwarzarbeit bekämpfen und den Umlauf von Falschgeld stoppen. „Ein Element der Überraschung war notwendig, weil sie sonst ihre Vorkehrungen getroffen hätten“, sagte Modi, der nach einem hindunationalistisch geführten Wahlkampf an die Macht kam, in einer Fernsehansprache mit Blick auf die Kriminellen.

Die radikalste Finanzmarktmaßnahme, die Indien in 70 Jahren gesehen hat, wird in diplomatischen Kreisen bejubelt. Korruption ist in Indien akut – das Land belegt Platz 76 auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. Sie zu bekämpfen, war Modis wichtigstes Wahlversprechen.

Doch er wird sein Ziel verfehlen.

Wirkliche Korruption kann so nicht bekämpft werden

Zum Beispiel beim Falschgeld: Wie leicht es ist, die neuen 2000-Rupien-Scheine nachzuahmen, zeigte sich am vergangenen Wochenende im Bundesstaat Karnataka im Süden des Landes. Dort konnten Betrüger einem Gemüsehändler eine Farbkopie der Banknote unterjubeln. Der Mann merkte das erst, als er am Tagesende sein Geld zählte.

Damit ist das Argument entlarvt, eine Bargeldreform könne den Terrorismus austrocknen: Die indischen Blüten, die derzeit in Pakistan im Umlauf sind, werden dann eben durch neue ersetzt. Da der Nennwert des neuen Scheins höher ist als alle bisherigen Noten, wird der Falschgelddruck sogar noch leichter.

Schwarzarbeit und Terrorismusfinanzierung zu bekämpfen war auch für die EZB ein wichtiges Argument, als sie im Frühjahr die Abschaffung der 500-Euro-Scheine ankündigte. Ab 2018 werden die Noten aus dem Verkehr gezogen.

Die wirkliche Korruption aber wird weder in Indien noch in Europa mit einer Banknotensperre bekämpft: Denn die meisten unversteuerten Vermögen lagern ohnehin in Steueroasen in Übersee. In den Panama Papers fanden sich nach Angaben des Indian Express 297 Namen von Indern mit Offshore-Konten.

Schließlich hat die indische Regierung auch den Stimmenkauf im Blick: Immer wieder sichern sich Kandidaten gegen Bargeldbündel ganze Wählergruppen. Zwischen März und Mai wählen fünf indische Bundesstaaten. Das Problem: Bis dahin ist der Geldumtausch längst abgeschlossen. Stichtag für die Annahme alter Banknoten ist der 31. Dezember 2016. Wer also Wähler bestechen will, kann das dann noch immer tun.

Panikkäufe, lange Schlangen und Tote

Folgenlos bleibt Modis Reform trotzdem nicht. Noch in der ersten Nacht kam es zu Panikkäufen bei Juwelieren, Goldhändlern und Tankstellen. Im Osten der Hauptstadt Neu-Delhi verteuerten sich die Salzpreise um das Zwanzigfache. Hintergrund waren Gerüchte, dass Händler kein Wechselgeld mehr ausgeben.

Weil Geldautomaten verriegelt sind Wechselgeld kaum vorhanden ist, stehen die Menschen seit Tagen vor den Banken Schlange. Und sie sind wütend: In einer Bankfiliale in Neu-Delhi mussten sich die Angestellten auf der Toilette vor dem Mob verstecken.

Die brutale Reform hat bereits 16 Menschenleben gefordert. Mehrere ältere Menschen erlitten einen Herzinfarkt, als sie in Warteschlangen standen, ein Mann fiel aus dem zweiten Stock eines Bankgebäudes. In Jaipur starb ein Säugling, weil der Rettungswagen keine alten Banknoten annehmen wollte. Krankenhäuser lehnen Patienten ab, die kein Bargeld mitbringen. Dabei waren Notdienste und Apotheken eigentlich angewiesen, die alten Scheine weiterhin zu akzeptieren.

Am vergangenen Sonntag wandte sich Modi mit Tränen in den Augen an die Bevölkerung und bat sie, noch weitere 50 Tage auszuhalten. Am Montag erhöhte er die tägliche Höchst-Abhebesumme an Automaten auf 2500 und am Bankschalter auf 4500 Rupien. Ändern wird das trotzdem nichts.

Modis Maßnahme sei „unvergleichbar in der Geschichte Indiens“, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Prabhat Patnaik beim Onlineportal The Citizen. „Selbst die Kolonialregierung hat mehr Sensibilität für die Bedürfnisse der Menschen gezeigt.“ Die beiden jetzt ungültigen Scheine machen 80 Prozent der umlaufenden Währung aus.

Der Ökonom bezweifelt auch, ob die Regierung ihr zentrales Ziel erreicht – Schwarzgeld aufzuspüren, da die Bargeldreserven von Bankkunden mit deren deklarierten Steuern abgeglichen werden sollen. „Wer unversteuertes Bargeld in Millionenhöhe hat, wird das sicher nicht so zur Bank schicken, sondern über Mittelsmänner, in jeweils kleineren Beträgen“, schreibt Patnaik.

CNN-Reportern gelang genau das. Sie konnten bei Schmugglern ihr altes Bargeld gegen einen Aufpreis loswerden. Angesichts der Massen vor den Geldinstituten ist es ohnehin utopisch, dass sich die Bankangestellten die Zeit nehmen, die Steuererklärungen ihrer Kunden zu prüfen.

Bürger zu Bankkunden machen

Bleibt noch die Vermutung, dass die indische Regierung mit ihrem „chirurgischen Schlag gegen die Korruption“ Bürger in Bankkunden verwandeln möchte: Knapp die Hälfte der Inder hat laut einer Weltbank-Studie von 2014 kein Konto. Sie horten ihre Vermögen zu Hause – in Gold und Bargeld. Würden sie es zur Bank bringen, könnte die Regierung nicht nur leichter Steuern einnehmen. Bislang zahlt nicht einmal jeder hundertste Inder Abgaben. Der Finanzmarkt hätte dann auch wieder Liquidität, um in Unternehmen zu investieren.  

Doch auch Wirtschaftswachstum ist von der Maßnahme nicht zu erwarten. Der Mittelstand leidet massiv unter dem Bargeldmangel. Spediteure können nicht ausliefern, weil die Transaktionen in bar ablaufen. Die Konsumenten halten sich zurück – und sparen ihre Barreserven. Der Unternehmensberater Deepak Kanakaraju erwartet daher eine Deflation, die bis zu ein Jahr andauern könnte. Ein positiver Effekt wäre zwar, dass die Immobilienpreise in den aufstrebenden Städten sinken: Bislang wird beim Hauskauf rund die Hälfte des Preises in bar – und damit am Fiskus vorbei – bezahlt. Ähnlich ist es bei Mietzahlungen. Eine Deflation bedeutet aber auch, dass die Arbeitslosigkeit steigen würde. Das wiederum würgt die Wirtschaft ab.

So bekämpft man keine Korruption. So setzt man höchstens Menschenleben aufs Spiel.

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