Abschiebungen - Roter Afghane

Elias Omar ist Präsident der Deutsch-Afghanischen Gesellschaft. Er möchte die Wirtschaft in seiner alten Heimat ankurbeln. Und empfiehlt deshalb der deutschen Regierung: Schiebt die Afghanen ab

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Fußtritte für ein besseres Leben – Elias Omar besucht seine Freunde in einem Taekwondo-Studio in Essen / Anna Mutter
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Christoph Wöhrle ist freier Journalist und lebt in Hamburg.

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Wenn Beine beweisen können, wozu der Mensch imstande ist, dann sind es die Beine dieses Flüchtlings. Sie schnellen nach oben und treffen die Pratze des Trainers mit der Wucht emporgeschleuderter Zaunlatten. Taekwondo ist, mehr als andere Kampfsportarten, die Disziplin, bei der der Athlet die eignen Grenzen dehnt. Den Körper zur Waffe formt. Fußtritte für ein besseres Leben. Es macht viermal Paff, und am Ende ist man froh, dass der Trainer die Attacke des afghanischen Flüchtlings überlebt hat.

Der junge Sportler, der da tritt, hat Publikum: Elias Omar, 43 Jahre alt und Deutsch-Afghane. Schlank, Anzug, randlose Brille, wenig Haare; wirkt ein wenig älter als er ist. Omar steht in einer Turnhalle in Essen, schaut zu, würdigt den Moment mit einem Lächeln, spricht danach auf Dari mit dem 18-jährigen Athleten und dessen Trainer. Omar ist hier unter Gleichen. Endlich mal nur Afghane sein.

Das ist Omars größter Spagat, denn er pendelt zwischen den Welten. Essen im Ruhrgebiet und Kabul im Kriegsgebiet. Er hat 2016 die Deutsch-Afghanische Gesellschaft, kurz DAGeV, gegründet. Mit ihr möchte er die Wirtschaft in seiner alten Heimat wiederbeleben wie ein Notarzt den Patienten nach dem Herzstillstand. Er bringt Vertreter aus Politik und Wirtschaft beider Länder zusammen. Ist er Idealist? Goldgräber?

Sicherheitslage in Afghanistan positiv?

Für viele jedenfalls ein Provokateur. Denn Elias Omar empfiehlt der deutschen Bundesregierung, afghanische Flüchtlinge konsequent abzuschieben. Natürlich sagt er das in der Turnhalle nicht. Der junge Flüchtling will schon seit langem sein Glück in Deutschland machen. Der Sport hilft ihm zu verarbeiten, was er hinter sich ließ: ein Land in Krieg und Schutt. Armut. Perspektivlosigkeit. Omar streicht ihm über den Oberarm. Es wirkt einen Hauch zu väterlich.

Elias Omar, 43, ist Vorsitzender der Deutsch-Afghanischen Gesellschaft und will sein zerstör­tes Land wieder aufbauen

Elias Omar muss zum nächsten Termin. Er kennt diese Storys und Schicksale gut. Er war selbst jahrelang in der Flüchtlingsarbeit aktiv, vermittelte Kontakte und Jobs. Hörte zu. Ehrenamtlich. Letztens war er in seiner Funktion als Präsident der DAGeV vom Auswärtigen Amt eingeladen, die Sicherheitslage am Hindukusch zu bewerten. Im Gegensatz zu Pro Asyl oder Amnesty International, die mit am Tisch saßen, schätzt Omar die Sicherheit in seiner alten Heimat positiv ein, auch wenn Deutschland dorthin gerade nur Straftäter und islamistische Gefährder abschiebt. Bei dieser Haltung bleibt das Außenministerium, auch im neuen 30 Seiten starken Lagebericht, der Afghanistan als gefährlich einstuft – Omars Stimme zum Trotz. Der Bericht ist Anfang Juni veröffentlicht worden.

„Ich halte nichts von einem generellen Abschiebestopp. Nach einer Einzelfallprüfung sollte man Afghanen wieder zurückführen. Eine politische Verfolgung gibt es momentan nicht. Und Anschläge passieren auch in Deutschland“, sagt Omar emotionslos wie ein deutscher Technokrat. Zudem sei es das falsche Signal, wenn sich in Afghanistan herumsprechen würde: Flüchtlinge werden in Deutschland ohne Ausnahme anerkannt. Das führe zu noch mehr Flüchtlingen. „Betrachten wir, wie viele Mühen und Gefahren sie auf sich nehmen, wie viel Geld sie auf dem Weg nach Deutschland zahlen müssen, zum Beispiel an die Schlepper, ist es doch ein Dilemma: Würden sie das in Afghanistan investieren, wären wir schon zwei Schritte weiter.“ Omar reibt seine Finger aneinander, plaudert auf einmal mit einer gewinnenden Art und dunkler Stimmfarbe, als säße er in einer afghanischen Teestube. Es fällt auch der Begriff „Braindrain“, also ein Ausbluten des Landes durch abwandernde Eliten und junge Zupacker.

Von der Zeit im Ruhrgebiet geprägt

Sie müssten Afghanistan jetzt wieder aufbauen helfen, statt in Flüchtlingsheimen zu warten, findet Omar. Dabei kam Elias Omar vor 29 Jahren selbst als Flüchtling nach Deutschland. Ende 1988 wird er, damals 13 Jahre alt, von Soldaten in Kabul auf der Straße aufgegriffen und mit einem Lastwagen verschleppt. „Man wollte mich zum Militärdienst zwangsrekrutieren“, erzählt Omar. Die Sowjets verlassen gerade das Land, die Mudschaheddin übernehmen. Sein Vater, Arzt im Gesundheitsministerium, bekommt Omar mittels seiner Kontakte frei. Es ist schnell klar: Omars Familie muss das Land verlassen – wegen der Mudschaheddin. Zuerst flieht Elias Omar mit seiner Mutter nach Indien, dann fliegt er alleine nach Deutschland, irrlichtert durch Frankfurt, ehe er sich bei der Polizei meldet, die ihn in einem Kinderheim in Kronberg unterbringt; später zieht er nach Essen, wo er einen Onkel hat. Es dauert ein Jahr, bis die Eltern und sein Bruder nachkommen.

Heute ist Omar mindestens so sehr Deutscher, wie er noch Afghane ist. Die Zeit im Ruhrgebiet hat ihn geprägt. „Ich wollte mich von Anfang an hier voll integrieren. An Afghanistan habe ich bald gar nicht mehr gedacht.“ Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum IT-Systemkaufmann, heiratete mit 23, wurde Vater. War mit verschiedenen Geschäften selbstständig. Netzwerktechnik, Baufirma, Immobilien. Auch heute arbeitet er viel. Die 50-Wochenstunden-Arbeit für die DAGeV ist – noch – ehrenamtlich. Aber die Mission könnte bald etwas abwerfen.

Jede Zigarette ein kurzes Innehalten, eine Flucht aus der Welt und der Zeit

Omar sitzt im Großraumbüro der Redaktion des Essener Anzeigenmagazins Informer. Dessen Herausgeber, Ralf Schönfeldt, 49, ist Omars Geschäftspartner. Zusammen wollen die beiden die deutsche und die afghanische Wirtschaft an einen Tisch setzen, ja, ineinander verzahnen. Sie haben sich die Arbeit aufgeteilt: Omar fliegt regelmäßig nach Kabul, hält den Kontakt in sein Geburtsland, und Schönfeldt kümmert sich um die deutschen Player – Behörden, Ministerien, Unternehmen. Beide sitzen in der Küche der Redaktion. Die Kaffeemaschine röchelt, es ist Ende März, und der Frühlingsschimmer scheint durchs Fenster. Ralf Schönfeldt lässt die Unterlagen durch seine Finger gleiten wie ein Spieler seine Karten. Er könnte bald ein Monsterblatt auf der Hand halten. Den Hörer zwischen Schulter und Wange geklemmt, sitzt er da.

Verlockendes Potenzial in einer Postkriegszeit

Am anderen Ende der Leitung redet ein hochrangiger Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums. Omar sitzt daneben, hört zu, macht Notizen, raunt seinem Sozius Stichworte ins Ohr, die Beschwörungen gleichen. Gerade geht es um das geplante zweite deutsch-afghanische Wirtschaftsforum der DAGeV Anfang Mai und eine mögliche Unterstützung durch das Ministerium, wenn dort Vertreter beider Länder zusammenkommen.

Die Wirtschaft Afghanistans krebst derzeit vor sich hin. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei rund 20 Milliarden Dollar. Beim Human Development Index steht das Land auf dem 169. Platz von 187 erfassten Staaten. Industrieproduktion gibt es kaum. Von 34 Millionen Afghanen sind fast zwei Millionen arbeitslos. Die meisten anderen schlagen sich mit landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft durch. Und jedes Jahr schwemmen weitere 400 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt – für das Gros von ihnen gibt es aber keine Jobs.

Oben: Das zweite Deutsch-Afghanische Wirtschaftsforum; die Essener Messe als Ort des Aufbruchs für Afghanistan

In einer Postkriegszeit, wenn sie denn jemals kommt, hätte das Land ein verlockendes Potenzial, ökonomisch gesehen. Junge Bevölkerung, niedrige Produktionskosten, landwirtschaftliche Juwelen wie Safran und Granatäpfel. Und vor allem: Bodenschätze. Die Goldgräber der globalen Ökonomie haben sich schon in die Schlange eingereiht. Der deutsche Weltkonzern Siemens möchte die Energieversorgung in Afghanistan wieder aufbauen. Es geht um große Kraftwerke. Gas. Kohle. Wasser. Milliarden von Euro. Elias Omar hat auf Wunsch der afghanischen Regierung geholfen, dass mit dem Konzern Verhandlungen aufgenommen werden können. Der Deal ist fast eingestielt, erklärt er. Seine Augen strahlen. „Die werden das schon machen“, freut er sich wie ein kleiner Junge über die Bestnote in Mathe.

Roter Afghane, schwarzer Deutscher

Omar ist in seinem Geburtsland bestens vernetzt, hat Kontakte bis in die Regierung. Was die internationalen Multis aber schreckt, bleibt weiterhin die Sicherheitslage. Weder Flüchtlinge noch deutsche Ingenieure haben Lust, nach Afghanistan zu reisen. Dabei hat Deutschland ein besonderes Verhältnis zu Afghanistan. Bereits 1915 schloss das damalige Kaiserreich ein Freundschaftsabkommen mit dem zentralasiatischen Staat. Für kein anderes Land zahlte Deutschland in den vergangenen Jahren zusammengerechnet so viel Entwicklungshilfe. Omar weiß, was deutsch-afghanische Freundschaft ist. Er lebt sie jeden Tag. Damals in der Schulzeit auf der Essener Gesamtschule Bockmühle. Heute mit seinem Geschäftspartner Ralf Schönfeldt. Omar ist SPD-Mitglied, war sogar stellvertretender Vorsitzender des Ortsvereins Essen-Bergerhausen. Schönfeldt ist in der CDU.

Es funktioniert mit den beiden. Roter Afghane, schwarzer Deutscher. Besser als umgekehrt. Klappen die beiden ihre Macbooks auf, ist es für sie, als öffneten sie ein Album mit wertvollen Münzen. Sie zeigen wichtige Menschen auf verblitzten Fotos, Schaubilder, bei denen die Kurve steil nach oben ragt, und Briefe mit Siegeln von Ministerialbeamten. Sie können mit ihrem Projekt ganz nach vorne kommen. Gerade weil Afghanistan ein so mit Angst besetztes Land ist, aus dem Ausland betrachtet. Da braucht es Mittler wie Omar. Leute, die wissen, wie man so was macht.

Im Gespräch bleiben –  Elias Omar mit der Geschäftsführung der Essener Bildungseinrichtung

„Eine Aufgabe von uns ist es, das schlechte Ansehen Afghanistans in Deutschland zurechtzurücken. Wenn ich in Kabul, Masar-e Scharif, Herat, Dschalalabad oder Kandahar bin, habe ich keine Angst“, sagt Omar und zeigt wieder sein Lächeln. Ein Lächeln, das von innen herauskommt. Das niemals künstlich wirkt wie das einer Schaufensterpuppe oder verschlagen wie das eines Gebrauchtwagenhändlers. Es wird ein stolzes Lächeln, spricht man mit ihm über das anstehende Wirtschaftsforum. Schönfeldt und Omar sind am Planen und Organisieren. Fast 70 Anmeldungen von afghanischer Seite gibt es schon, erzählt Omar zufrieden. Ort der Veranstaltung wird das Kongresszentrum in Essen sein. Das wurde gerade renoviert; die schmucke, sonnendurchflutete Vorderseite ist fertig.

Bei Omar kann nicht sein, was nicht sein darf

Omar will diesen Ort zeigen, steht im Presseraum mit Blick auf die Ausstellungsfläche und das Foyer. Er kratzt sich an der kahlen Stirn, zupft am weißen Hemd, redet mit dem Messechef, tauscht Scherze und Nettigkeiten aus. Omar hat die Gabe, mit jedem Gegenüber dezent zu flirten. Er gibt einem das Gefühl, wichtig zu sein. So gewinnt er die Menschen. Danach eine Zigarette auf dem Vorplatz.

Omar raucht viel. So entspannt er immer wirken will, lastet ein unheimlicher Druck auf dem Mann. Er lebt gerade von seinem Ersparten, wohnt wieder bei den Eltern. Es muss klappen mit seiner Mission. Kein Taliban soll ihm dabei in die Quere kommen. Und auch nicht die Bedenken der deutschen NGOs. Aber als Omar an der Zigarette zieht, hat es den Anschein, als sei das alles für einen Moment weit weg. Es gibt Menschen, die rauchen hektisch. Deckeln damit die Gier nach dem Nikotin. Für Omar ist jede Zigarette ein kurzes Innehalten, eine Flucht aus der Welt und der Zeit. Er hat an diesem Abend noch einen Termin mit Siemens-Vertretern. Sein dickster Fisch bislang. Journalisten sind bei dem Treffen nicht willkommen. Danach wird er nach Hause fahren. Es wird ein guter Tag gewesen sein.

„Die Gefahr, bei einem Anschlag ums Leben zu kommen, ist da. Das gilt auf der ganzen Welt. In Afghanistan ist sie höher als anderswo. Aber immer noch sehr gering“, sagt Omar am nächsten Tag etwas gereizt, tippt dabei mit der Zunge an die große Lücke, die zwischen seinen oberen Schneidezähnen liegt. Bei Omar kann nicht sein, was nicht sein darf. Ein unsicheres Afghanistan passt nicht zu seinen Plänen. Beim Global Terrorism Index 2017 des Londoner Institute for Economics and Peace steht Afghanistan nach dem Irak auf Platz zwei der gefährlichsten Staaten. In ganz Europa zusammen fielen dem Terrorismus 2016 genau 826 Menschen zum Opfer. In Afghanistan waren es mehr als zehnmal so viele im selben Zeitraum.

Grenzgänger zwischen den Ländern

Sind Abschiebungen vor dem Hintergrund ein Himmelfahrtskommando? Eine Verrücktheit? Oder hat die Welt wirklich ein völlig falsches Bild? So wie Omar sagt? Er findet, er will das Beste für Afghanistan, wenn er die Manager beider Länder zusammenbringt und verbündet. Oder die Flüchtlinge zurückkehren lassen will. Wenn er für Abschiebungen plädiert. Ihn befremdet die Haltung vieler Experten.

Omar ist im Gegensatz zu vielen von ihnen regelmäßig in Afghanistan. In Kabul hat die DAGeV ein eigenes Büro, wo Omar auch schläft, wenn er im Lande ist. Vor kurzem hat der Verein eine Dependance in Masar-e Scharif eröffnet, wo die Bundeswehr ein Feldlager betreibt. Die Großstadt strebt eine Städtekooperation mit Essen an. Omar vermittelt dabei. Mal wieder. Wenn Omar aus Afghanistan zurückreist, fragen ihn die Deutschen immer: Wie war’s in der Heimat? „Dabei ist doch Essen mein Zuhause!“, sagt Omar. Er erwägt gerade sogar, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Aber für die Deutschen reicht das nicht. Für manche ist Omar vielleicht selbst der Flüchtling, der hier nicht hingehört. Es ist nicht leicht als Grenzgänger. Abends im Büro ordnet Omar seine Belange, verschiebt Papiere von einem Stapel auf den anderen. Ein geordneter Schreibtisch bringt Ordnung ins Leben.

In Deutschland gut ausgebildete, junge afghanische Flüchtlinge will Omar am liebsten zurückholen

Omar ist ein wenig gefrustet. Jetzt ist er wieder ein Schuljunge, der Klassenprimus, der eine Klausur – diesmal – versemmelt hat. Einige der afghanischen Besucher der Wirtschaftskonferenz im Mai haben den Teilnehmerbetrag von 1300 Euro nicht überwiesen. Er muss sie von der Liste streichen. Andere können nicht teilnehmen, da sie kein Visum bekommen haben. Weil die deutsche Botschaft in Kabul nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 immer noch geschlossen ist, müssen die Interessierten nach Teheran, Islamabad oder Dubai fliegen, um ein Reisepapier zu ergattern. Omar geht immer wieder die Listen durch. Schwarzstift. Rotstift. Wer ist noch dabei? Wen muss er tilgen? Morgen meldet sich das Auswärtige Amt. Es wird alles gut werden. Es muss. Man sollte duldsam sein bei Rückschlägen. Aber wenn man etwas unbedingt will, kann man es manchmal erzwingen. Jenes Mantra passt so gut zu Omar, wie es auch zu den Afghanen passt, die, geht es nach ihm, abgeschoben gehören. Omar weiß, wie man Klinken putzt.

Afghanistan ein „failed state“?

Bei einem seiner vielen Termine in diesen Tagen trifft er den Geschäftsführer der Bfz-Essen GmbH, Hartmut Kütemann-Busch. Dort lernen junge Menschen vor allem handwerkliche Berufe. Bei einem Rundgang sieht man hämmernde, schweißende, fräsende Azubis. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise waren hier mehr als 100 Asylsuchende dauerhaft untergebracht. Omars Vision: Junge afghanische Flüchtlinge könnten in solchen Einrichtungen beruflich fit gemacht werden für eine Rückkehr in ihre alte Heimat. „Man muss mit den jungen Leuten was machen“, sagt auch Kütemann-Busch nachdenklich. Jeder Einzelne solle nicht als „der gleiche Mensch“ zurückkehren. Ich-AG auf Afghanisch. Allerdings ist Kütemann-Busch nicht sicher, ob es in Afghanistan derzeit sicher genug ist, um Flüchtlinge zurückzuschicken.

Der Berliner Migrationsforscher Marcus Engler geht noch weiter. Er hält Afghanistan für einen „failed state“ – einen gescheiterten Staat. „Derzeit Menschen dorthin abzuschieben, ist unverantwortlich. Die Sicherheitslage ist verheerend und Reintegration äußerst schwierig. Es wäre mehr Humanität angebracht.“ Was bei der Recherche auffällt: Es gibt auch in politischen Stiftungen und NGOs Menschen, die Abschiebungen nach Afghanistan befürworten. Zitieren lassen möchte sich aber keiner mit solch einer Position. „Das ist mir zu heiß“, sagt etwa ein Stiftungsmitarbeiter. „Aber wenn man Afghanistan anschaut, gibt es durchaus Regionen, in denen überhaupt keine Gefahr droht.“ Einzig konservative Politiker oder Rechtspopulisten fordern derzeit Abschiebungen an den Hindukusch. Afghanistan-Experten wie Thomas Ruttig lehnen sie aber derzeit als inhuman ab. Omar kennt diese Haltung. Sie schlägt ihm oft entgegen.

Die Idee eines neuen Afghanistan lebt weiter

Er fährt im Mercedes seines Partners Schönfeldt zu einem Essener Nobelhotel. Ein eigenes Auto hat er nicht mehr. Das kommt alles wieder, wenn die Multis, die an Afghanistan reich werden wollen, auch ihm ein Stück vom ausgegrabenen Goldnugget abgeben. Der antike Konferenzraum im Hotel ist hell erleuchtet. Das Holz der Gründerzeitmöbel scheint matt, der Boden ist geölt. Es riecht nach Politur. Hier trifft sich der Thinktank der ­DAGeV, Menschen, die Schönfeldt und Omar für ihr Thema begeistern konnten. „Das Potenzial dieses Landes ist enorm. Die junge Generation will das Land voranbringen. Es wäre töricht, die Wirtschaft nicht zu pushen“, sagt etwa Richard Kiessler, ehemaliger Spiegel-Korrespondent, der in Essen lebt. Hochschulprofessor Stefan Heinemann glaubt an den Erfolg der bevorstehenden Konferenz. „Elias und Ralf wissen, an welchen Schrauben man drehen muss.“ Omar genießt die Anerkennung und lächelt.

Dann ist alles vorbei. Am 17. April stirbt Ralf Schönfeldt, Omars Partner. Ein Herzinfarkt. Er hinterlässt nicht nur seinen Verlag, er reißt auch eine Lücke in Omars Planungen. „Ich habe meinen Freund verloren“, sagt er am Telefon und klingt, als weine er. Nach der Beerdigung entscheidet sich Omar, das Wirtschaftsforum nicht abzusagen. Er muss improvisieren, die Kontakte und Gedanken seines Sozius’ fehlen. Schönfeldt ist tot, die Idee eines neuen Afghanistan lebt weiter.

Am Morgen des 4. Mai füllt sich der Ruhr-Saal der Essener Messe nur langsam. Angemeldet zum Wirtschaftsforum waren 92 afghanische Firmen, nur etwa 16 haben Visa bekommen. Bei manchem Teilnehmer wirkt der Anzug wie ein Kostüm. Doch alle wollen Big Business machen. Ralf Schönfeldts Bild steht auf der Bühne, darunter Blumenbouquets. Er fehlt an allen Ecken. Omars Vater und sein 15-jähriger Sohn Nathan sind gekommen. Sie wissen, wie wichtig dieser Termin für ihn ist.

Er denkt immer auch an die Schwachen in einer Gesellschaft

Auch wenn Omar seinen Partner nicht ersetzen kann, läuft es gerade prächtig. Ismail Ghazanfar ist auf dem Forum erschienen, afghanischer Unternehmer, macht alles von Transport über Radiosender bis zum Bergbau und der Energiewirtschaft, milliardenschwer, wie es heißt. Er hält Vorträge über das Potenzial Afghanistans. Ein hochrangiger Mitarbeiter des afghanischen Finanzministeriums predigt vom Rednerpult, die Sicherheitslage sei im Griff und das Ziel 9 Prozent Wirtschaftswachstum. Der Staatshaushalt soll in vier Jahren auf acht Milliarden Dollar anwachsen, in drei Jahren wolle man Waren im Wert von zwei Milliarden Dollar exportieren. Später beim Essen, es gibt afghanische Kost vom Caterer, erzählt er, noch nie mit einem gepanzerten Wagen in Kabul unterwegs gewesen zu sein. Auch er plädiert dafür, Afghanen abzuschieben. „Die Generation unserer Eltern musste vor politischer Verfolgung fliehen. Aber das gibt es nicht mehr. Wir brauchen die Landsleute zurück. Nur mit ihnen werden wir wachsen können.“

Immer unterwegs, um zu überzeugen: Elias Omar vor dem BfZ in Essen

Ghazanfar, der reiche Afghane, ist nach dem Mittagessen noch nicht ganz von der Veranstaltung überzeugt. Zwar wanzen sich einige deutsche Wirtschaftsvertreter an ihn heran, es gibt ein Matchmaking nach dem anderen, aber er sagt, dass er nur 70 Prozent der Leute traf, die er gehofft habe zu treffen. Am Ende bahnt sich aber auch ein Deal an, erzählt Omar später.

Ein paar Wochen nach dem Forum reist er nach Berlin, um seine DAGeV voranzubringen. Eigentlich war der Plan, mit Schönfeldt zu fahren. Auf dem Weg zu einem Termin bleibt der Fahrstuhl plötzlich stecken. Fünf Menschen in einer engen Kabine. Es wird sofort heiß und stickig. Kein Wasser. Alle schwitzen. Der technische Dienst lässt wissen, dass es eine Weile dauern könne, bis Hilfe kommt, ist dann gar nicht mehr zu erreichen. Es ist die Hölle. Omar lächelt wieder. Er fragt die anderen Festsitzenden regelmäßig, wie es ihnen gehe. Jetzt ist er wieder Omar, der Kümmerer und Menschenflüsterer. Wäre nicht diese Hitze, könnte einen die Wärme dieses Mannes rühren. Ihm selbst kann die Extremlage im Aufzug offenbar nichts anhaben. Er schwitzt nicht mal richtig. Vielleicht, weil er Kabul gewöhnt ist. Vielleicht, weil er ganz roter Af­ghane ist: Er denkt in seinem Tun, das spürt man, auch immer an die Schwachen in einer Gesellschaft. Sei es im afghanischen Hinterland oder sei es im Aufzug.

Idealist oder Goldgräber?

„Alles wird gut sein“, sagt er. Und behält recht: Nach ein paar Minuten schaffen es die Insassen, die Türen des Fahrstuhls von innen aufzuhebeln. Sie steigen keuchend hinaus. „Berlin war ein Erfolg“, sagt Omar nach zwei Tagen Terminschwemme. Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium, Entwicklungsministerium. Er hat hochrangige Beamte getroffen, die in den Ministerien für Afghanistan zuständig sind. Er hat alles ohne Schönfeldt überstanden. Er funktioniert jetzt wieder. Nach den letzten Wochen, die ihm zeigten, wozu der Mensch imstande ist. Was er erdulden kann. Wer durch die Hölle geht, sei es, weil er den Verlust eines Freundes verkraften muss, sei es, weil er es in einer Nussschale über das Mittelmeer geschafft hat, der blickt gestärkt in die Zukunft.

Am 3. Juli hat Omars ­DAGeV den Deutsch-Afghanischen Wirtschaftsrat (DAWR) mit Sitz in Kabul gegründet. Ihm gehören als Gründungsmitglieder rund 70 Vertreter von afghanischen und deutschen Wirtschaftsorganisationen an. Der DAWR wird offiziell als NGO beim afghanischen Wirtschaftsministerium eingetragen. Eine Hoffnung: öffentliche Fördergelder, die dann nicht irgendwo in mafiöse Strukturen und Korruption fließen.

Bei der Verabschiedung wirkt Omar fast ein bisschen entrückt. Aber auch sehr höflich. Demütig. Ist er der Idealist? Oder doch der Goldgräber? Wahrscheinlich ist er auf wundersame Weise beides. Der Grenzgänger Omar hat auch die  Grenzen in sich selbst verschoben.

Fotos: Anna Mutter

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.















 

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