Sozialdemokratie - Was die SPD von Jeremy Corbyn lernen kann

Die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn ist deutlich erfolgreicher als derzeit die deutsche SPD. Dabei könnten die Sozialdemokraten von den Briten profitieren. Zumindest, wenn nicht die nächste Euro-Krise kommt

Martin Schulz sprach 2015 mit dem Labour-Chef Jeremy Corbyn und Österreichs Ex-Bundeskanzler Werner Faymann / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Der Auftrittsapplaus und die Sprechchöre für ihn wollten einfach nicht enden. Und so spielte der britische Labour-Chef irgendwann den Zuchtmeister: „Sollen wir diese Konferenz zur Ordnung rufen?“, sagte er und lachte. Derart gut gelaunt begann Corbyn am vergangenen Mittwoch seine Abschlussrede beim diesjährigen Parteitag der britischen Arbeitspartei: „Die Atmosphäre hier ist infektiös“, rief er, „lasst uns sicherstellen, dass das ganze Land angesteckt wird!“ Parteitage sind naturgemäß selbstverliebte Veranstaltungen.

Das Ausmaß des Corbyn-Kults bei seinem dritten Parteitag im Seebad Brighton übertraf aber das Erwartbare. Der 68-jährige Altsozialist, das gilt inzwischen unbestritten, zieht einfach. Sein Slogan „For the many, not the few!“ („Für die vielen, nicht die wenigen!“) scheint Realität geworden zu sein. Bei den Wahlen 2017 gewann er dreißig Mandate für die Partei hinzu. Unter ihm ist Labour auf 570.000 Mitglieder angewachsen. Die Graswurzel-Bewegung Momentum zieht immer mehr junge Leute an.

Die Flut an Corbyn-T-Shirts, die endlosen Schlangen vor den Polittalks in ganz Brighton und die Revolutionsstimmung in den großen Hallen und kleinen Pubs – gerade nach der bitteren Wahlniederlage der SPD in Deutschland drängt sich die Frage auf: Warum ist Corbyns Labour-Partei so verdammt erfolgreich? Und warum konnte es Martin Schulz in Deutschland mit dem Slogan „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ nicht sein?

Moderate haben es bei Labour derzeit schwer

Die internationale Finanzkrise 2008, der Sieg der konservativen Tory-Partei 2010 und die darauffolgenden Jahre harter Sparpolitik hätten den Boden für die linke Erfolgswelle bereitet, sagt etwa der Labour-Abgeordnete Clive Lewis: „Jeremy Corbyn und die alte Linke präsentieren eine glaubwürdige Alternative nicht nur zu den Tories. Auch zu den blairistischen Zombies.“ Unter Corbyn-Loyalisten gilt der zentristische Kurs von New Labour unter Tony Blair – ähnlich wie in der SPD der Schröder-Kurs zur Agenda 2010 – als das größte Vergehen in der sozialistischen Geschichte.

Dies bekam die moderate Fraktion beim Parteitag zu spüren. Die meisten von ihnen durften keine Reden vom Podium des „Brighton Centre“ halten und mussten sich mit kleinen Veranstaltungen in Nebenräumen zufrieden geben. Selbst der populäre Londoner Bürgermeister, Sadiq Khan, erkämpfte sich nur unter Mühen einen Redeplatz – und das, obwohl er gerade erst dem bei Labour verhassten Fahrdienst-Vermittler Uber in London die Lizenz entzogen hatte. Solche Demütigungen der Moderaten sind nicht allein persönliche Rache. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre hat die Labour-Party eine neue Riege auf die vorderen Bänke geholt. Die Schattenministerinnen Rebecca Long-Bailey und Angela Rayner zeichnen sich durch linke Überzeugungen aus. Und durch unbedingte Loyalität zu Jeremy Corbyn. Ein Umbruch, den die SPD gerade mit Schulz teilweisem Rückzug und Nahles künftigem Fraktionsvorsitz bislang eher zaghaft versucht.

Plötzlich ist die Retro-Linke cool

Labour-Aktivisten murren zwar abseits der Mikrofone durchaus über den autoritären Führungsstil des Labour-Führungsduos Jeremy Corbyn und seines Schattenfinanzministers John MacDonnell. Offiziell aber ist die Kritik verstummt. Bei vielen überwiegt wilde Freude über die wachsende Bewegung und die inhaltliche Neupositionierung. Was bei der Kür des lebenslangen Friedensaktivisten zum Labour-Chef vor zwei Jahren noch als versponnene, altlinke Fantasterei abgetan wurde, ist heute ernstgemeinte Politik: etwa die Wieder-Verstaatlichung von Wasser, Zügen und Post. „Wir sind die Mehrheit“, formulierte Corbyn recht forsch in seiner programmatischen Rede, „das politische Zentrum hat sich nach links verlagert.“

Neben „Blairismus“ zählt „Neoliberalismus“ derzeit zu den meistgebrauchten Schimpfworten in der Partei. Was für Corbyn ein alter Reflex ist, ist für die jungen Fans der revitalisierten Retro-Linken plötzlich cool. Der Brexit hat in Großbritannien die Schleusen geöffnet, alle Probleme, die sich in den vergangenen 30 Jahren aufgestaut haben, brechen jetzt gleichzeitig auf. In Deutschland ist die Lage längst nicht so katastrophal. Die SPD muss sich aber nach der bitteren Niederlage bei der Bundestagswahl und dem Einzug der AfD ins Parlament in der Opposition wieder berappeln.

Immerhin, anstatt in einer Großen Koalition tut sie das fortan in der von der Basis lange ersehnten Oppositionsrolle. Was bei der SPD bislang nicht geklappt hat: In Großbritannien beherrscht der Diskurs um Ungleichheit in der Gesellschaft, der Klassenkampf, nicht mehr nur die Politik, sondern erfasst die ganze Gesellschaft. So bezeichnete die Gewerkschafts-Aktivistin Ewa Jasiewicz die Brandtragödie vom Juni 2017 schlicht als „sozialen Mord“. Der soziale Wohnblock Grenfell Tower war nach einer Billigrenovierung im reichsten Londonder Bezirk Kensington abgebrannt, mindestens 80 Menschen starben.

Weiterhin das Ziel: die Machtübernahme

Zumindest im Kopf haben die Labour-Mitglieder Downing Street Number 10 schon erobert. Auch manche Umfragen wie jene des YouGov-Instituts sehen das so: 43 Prozent der Briten würden heute Labour wählen und nur 39 Prozent die regierenden Tories. Kein Wunder, dass Jeremy Corbyn einfach im Wahlkampfmodus geblieben ist und den Sommer über weiter Wahlkreise abklappert hat, in denen die Tories nur eine dünne Mehrheit haben. Sollte Theresa Mays Regierung kippen, will Labour bereit sein – eine Taktik, die sich die SPD für den Fall einer zerstrittenen Jamaika-Koalition zumindest abgucken könnte.

John McDonnell erläuterte in Brighton gemeinsam mit Gewerkschaftschef Len McCluskey unter Standing Ovations die Übernahme der Macht im Land: „Wir müssen uns gut vorbereiten, denn sie werden alles versuchen, um uns zu erledigen!“ Die revolutionäre Euphorie regt zum Mitmachen an. Auf der Agenda stehen soziale Wärme, Solidarität und die Abschaffung der Gier. Das berührt die Alten und die Jungen und könnte auch die verschiedenen Flügel der Partei auf Dauer wieder näher zusammenbringen.

Eine Abkehr vom Brexit bleibt Tabuthema

Merkwürdig schweigsam wirken Corbyn und seine Partei hingegen beim Thema Brexit. Es wurde auf Druck der Momentum-Bewegung sogar von der offiziellen Tagesordnung der Parteikonferenz gestrichen. Warum? „Die Konferenz wollte sich vielleicht einen Streit ersparen“, sagt Owen Jones, Corbyn-Aktivist und journalistisches Sprachrohr der neuen Linken.

„Der Brexit ist die wichtigste Entscheidung für Britannien seit dem Zweiten Weltkrieg“, beharrt Keir Starmer, Corbyns Brexit-Schattenminister. Doch Starmer konnte diese gewichtigen Worte nur im Hinterzimmer des Grand-Hotels vor ein paar eingeschworenen EU-Freunden loswerden. Sein eigener Parteichef kann sich nach wie vor nicht dazu durchringen, den Brexit zu verurteilen. Das liegt nicht allein an dessen eigener EU-Skepsis. Weite Teile der Wählerschaft, vor allem im deindustrialisierten Norden und im landwirtschaftlich orientierten Osten des Landes, haben für den Austritt aus der EU gestimmt.

Die traditionelle EU-Skepsis der Briten verbindet sich mit dem Grundgefühl der radikalen Linken, bei der EU handle es sich um ein Eliten-Projekt. Und für die alten Eliten hat die jetzige Labour-Partei keine Sympathien. Auch der SPD könnte eine ausgeprägte EU-Skepsis bei der eigenen Wählerklientel zu schaffen machen. Martin Schulz als überzeugter Europäer musste mit ansehen, wie Hunderttausende SPD-Wähler zur AfD abgewandert sind. Immerhin: „Großbritannien soll zumindest während der Übergangsphase bis 2021 im europäischen Binnenmarkt bleiben“, sagte Corbyn am Ende seiner Parteitags-Rede. Den Brexit aber will er durchziehen. Theresa May hat dies bei ihrer Florenz-Rede am 21. September sehr ähnlich ausgedrückt.

Die SPD müsste sich bei einer erneuten Euro-Krise unterscheiden

Die SPD hat es als Oppositionspartei in Europa-Fragen mit der CDU schwer: Beide Parteispitzen sind eingefleischte Proeuropäer. Da ist es nicht leicht, sinnvolle Oppositionspolitik zu betreiben. Außer, es käme zu einer neuen Euro-Krise. Da könnte die SPD eine andere Haltung als die Kanzlerin einnehmen und sich weniger bankenfreundlich zeigen.

Konkrete Antworten auf die quälenden Europa-Fragen gibt Jeremy Corbyn ungern. Lieber kämpft er auf den Straßen um die Macht. Wer seinen Kurs nicht loyal mitträgt, wird schnell aus dem inneren Kreis verbannt. Bis zum Januar 2017 wurde Clive Lewis etwa als möglicher Nachfolger von Jeremy Corbyn gehandelt. Der 46-jährige Parteilinke, dessen Vater von der karibischen Insel Grenada stammt, war gegen den Brexit. Als der Labour-Chef die Fraktion zwang, gemeinsam mit der Regierung im Parlament für die Auslösung des Artikel 50 zu stimmen und damit den Brexit parlamentarisch zu legitimisieren, hatte Lewis genug. Er verließ aus Protest gegen die Zwangsabstimmung das Schattenkabinett. Seinen Platz nahm Rebecca Long-Bailey ein. Eine solch harsche Personalpolitik aber könnte Corbyn auf Dauer schaden. In dieser Hinsicht sollte sich die SPD-Führung wohl lieber kein Beispiel nehmen.

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