Russische Präsidentschaftswahlen - Ein Land dürstet nach Reformen

Die russischen Präsidentschaftswahlen waren nur Formsache für Wladimir Putin. Dabei ächzt das Land unter fehlenden Reformen, Sanktionen und ängstlichen Investoren. Sehr viele Russen haben längst keinen Grund mehr zum Jubeln

Auch nach den Wahlen sind von Wladimir Putin keine Wirtschaftsreformen zu erwarten / picture alliance
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Julius von Freytag-Loringhoven leitet seit 2012 das Moskauer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ist stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der Boris-Nemzow-Stiftung.

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Wer der russischen Wirtschaft vor drei Jahren den Kollaps vorausgesagt hat, muss heute einen Irrtum eingestehen. Barack Obama hatte in seiner Rede zur Lage der Nation 2015 noch gesagt, Russland sei „isoliert, mit seiner Wirtschaft in Fetzen.“ Im Vorjahr hatte in Russland nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine eine Wirtschaftskrise begonnen, die bis 2017 dauerte, aber im vergangenen Jahr wieder ein mildes Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent verzeichnete.

Zum Zeitpunkt der russischen Präsidentschaftswahlen sieht es dennoch nicht rosig aus für die russische Wirtschaft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert in den kommenden zwölf Jahren nur ein Wachstum des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens um 0,7 Prozent, weit unter OECD Durchschnitt und noch weiter hinter dem Versprechen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner „Rede an die Nation“ am 1. März, das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 um 50 Prozent zu steigern.

Kaum noch Proteste zu erwarten

In den wirtschaftlich viel erfolgreicheren Jahren 2011 und 2012 waren es Mitglieder der Mittelklasse und darunter auffällig viele Unternehmer, die gegen Wahlfälschungen und Korruption auf die Straße zogen. Vergleichbare Proteste scheinen nach der diesjährigen Präsidentschaftswahl unwahrscheinlich. Zu stark wurde seitdem mit einer Reihe von repressiven Gesetzen und Behördenentscheidungen dafür gesorgt, dass Protest eingeschüchtert und im Keim erstickt werden kann. Vor den Wahlen wurden eine große Anzahl an Politikern der überwiegend liberalen Opposition unter unterschiedlichen Gründen angeklagt oder eingesperrt.

Das deutet darauf hin, dass auch nach der Wahl keine relevanten Reformen zu erwarten sind. Kommunizierte Härte im Konflikt mit dem  Westen und der Opposition hilft Wladimir Putin weite Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, die wegen der wirtschaftlichen Lage keinen Grund mehr zum Jubeln hat.

Bis 2012 klang der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag zwischen Putin und der Bevölkerung etwa so: „Ich garantiere Euch wachsenden Lebensstandard und Ihr drückt die Augen etwas zu, was Eure politischen Freiheiten betrifft“. Die Proteste seit 2011 änderten den einen Teil der unausgesprochenen Abmachung und die sinkenden Ölpreise ab 2008 und dramatischer ab 2014 schnell den anderen.

Wettstreit zwischen Fernseher und Kühlschrank

Seit es der Wirtschaft wegen niedrigem Ölpreis und vor allem wegen verpasster Strukturreformen schlechter ging, tobt der Wettstreit „zwischen Fernseher und Kühlschrank“, wie ihn der russische Soziologe Lew Gudkow, Leiter des unabhängigen Umfrageinstituts Levada-Zentrum, nennt. Der Kampf zwischen den positiven Durchhalteparolen im staatlich kontrollierten Fernsehen und dem tatsächlichen Essen im Kühlschrank. Denn trotz des Wachstums der 2000er-Jahre leben bis heute mehr als zwei Drittel der russischen Bevölkerung von unter dem deutschen Hartz-IV-Satz, mehr als die Hälfte davon hat nur weniger als die Hälfte des Satzes zur Verfügung

Seit der ersten Amtszeit von Wladimir Putin im Jahr 2000 hat sich die Staatsquote in der Wirtschaft von knapp über 30 Prozent auf mehr als 70 Prozent verdoppelt. Allein in den vergangenen beiden Jahren ist der Staatsanteil im Bankensektor Russlands auf fast 70 Prozent gestiegen. Die politische und administrative Zentralisierung in der von Putin proklamierten „Vertikale der Macht“ bietet nicht ausreichend Freiraum und Rechtssicherheit, die so wichtig für Innovation, Modernisierung und Fortschritt sind.

Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine sind im Jahr 2014 die ausländischen Direktinvestitionen um 80 Prozent zurückgegangen und kehren nur langsam zurück. Der psychologische Effekt „Angst in Russland zu investieren“, ist sogar bedeutender geblieben als der direkte Effekt der von EU, den USA und anderen verhängten Wirtschaftssanktionen. Für viele deutsche Firmen aber bleibt Russland trotz allem ein attraktiver Markt, wie die fast 6.000 in Russland vertretenen deutschen Unternehmen zeigen, deren Investitionen seit 2017 wieder steigen. Aber auch Subventionsmaßnahmen und „Sonderinvestitionsverträge“ (SPIK), die besonders günstige Konditionen für Großinvestoren versprechen, reichen soweit nicht für eine Trendwende.

Der Kreml setzt keine Reformen um

Die OECD-Prognose nennt klare Kriterien, wie Russland bis 2060 eine Steigerung des BIP pro Kopf von 20 bis 40 Prozent doch erreichen könnte. Sie entsprechen genau dem, was der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin seit Jahren fordert: radikale Strukturreformen der „Vertikale der Macht“ um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wieder auf einen liberaleren Kurs zu bringen. Auch Kudrins neue, für den Präsidenten entwickelte, Strategie fordert für die kommenden Jahre diese Radikalreform, die politischen Wettbewerb wieder möglich machen soll, sowie strukturelle Bekämpfung der Korruption und eine grundlegende Reform der Strafverfolgung sowie der Herstellung echter Unabhängigkeit der Gerichte von der Exekutivgewalt. Doch leider ist die Bilanz der russischen Regierung zur tatsächlichen Umsetzung solcher Strukturreformen schlecht.

Die Präsidentschaftskandidaten Grigory Jawlinski der Partei Jabloko, die wie die FDP Mitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa ist, und Xenia Sobtschak, die für die liberale Partei „Bürgerinitiative“ kandidiert, fordern solche Reformen mit ähnlich wenig Aussicht auf Umsetzung. Sobtschak, Tochter des ehemaligen Petersburger Bürgermeisters und Mentors von Putin undvielen Russen vor allem als Fernsehmoderation und IT-Girl bekannt, tritt mit dem Slogan „gegen alle“ an und hofft so, die Stimmen der unzufriedenen Mittelklasse zu bündeln. Der selbsterklärte dritte liberale Kandidat Boris Titov, der eigentlich Putin als Präsidenten unterstützt, will mit seiner Kandidatur für ähnliche Wirtschaftsreformen sowie für eine Konjunkturspritze zum Ankoppeln des Wirtschaftswachstums werben.

Wege aus der Verstaatlichung

Die übrigen vier Kandidaten fordern einen noch ausgeprägteren nationalen Alleingang im Kampf gegen den Westen, eine Abschottung der Wirtschaft, Rückabwicklung von Privatisierungen und andere Rezepte aus der Mottenkiste der Sowjetunion. Der kommunistische Kandidat Pawel Grudinin erreichte kurzzeitig 15 Prozent Zustimmung in Umfragen, wurde dann mit einer Verleumdungskampagne im Staatsfernsehen bekämpft, liegt jetzt aber dennoch mit knapp 10 Prozent an der Spitze der Oppositionskandidaten.

In seiner Rede an die Nation hatte Putin selbst am 1. März verkündet, dass es in der Wirtschaft mehr Freiheit geben und die Staatsquote verringert werden soll, aber ohne konkrete Reformansätze. Stattdessen konzentrierte er sich im zweiten Teil seiner Rede auf die Vorstellung neuer „weltweit einzigartiger“ Superwaffen. Die Hoffnung eines Aufschwungs, der vor allem auch zu einer Öffnung von Politik und Gesellschaft für Wettbewerb und Freiheit beitragen könnte, hat damit einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Das ist schade, denn Russland hat Reformen bitter nötig um wirtschaftlich und sozial auf Augenhöhe mit dem Westen zu gelangen.

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