Minderheitsregierung - Mach's mal mit ohne

Die Zeit ist reif für eine Minderheitsregierung. Das beste Argument, es jetzt zu probieren, ist Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin wäre die ideale Person für ein historisches Novum

Angela Merkel bräuchte Mut zur Minderheitsregierung / picture alliance
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Jöran Klatt ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er hat am Göttinger Institut für Demokratieforschung gearbeitet und ist Mitglied der Redaktion von INDES-Zeitschrift für Politik und Gesellschaft.

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Schon nach dem Wahlabend im Jahr 2013 galt es zunächst, die Große Koalition zu vermeiden. Die Union sondierte zunächst mit den Grünen. Doch auch damals stand bereits die weitere Option im Raum: Warum sollten CDU und CSU überhaupt eine Koalition mit einer weiteren Partei eingehen? Immerhin erreichten die Unionsparteien bei den Wahlen 2013 ein hervorragendes Ergebnis. Zwischenzeitlich pendelten die Hochrechnungen am Wahlabend sogar soweit in ihre Richtung, dass mancher auf eine absolute Mehrheit hoffte.

Vor allem eines sprach vor vier Jahren aber gegen eine Minderheitsregierung: Die sollten idealerweise nur dann gebildet werden, wenn es keine einigungsfähige Opposition gegen sie gibt. 2013 stand aber gegen die Union eine Mehrheit aus SPD, Grünen und den Linken. Eine Minderheitsregierung hätte also für Angela Merkel bedeutet, dass dieses Lager sich annähern und irgendwann ein gemeinsames Bündnis gegen die Kanzlerin hätte schmieden können.

Rot-Rot-Grün ist keine Gefahr

Doch jetzt ist die Situation eine andere. Zunächst gibt es zwar auch heute gute Gründe, die gegen eine Minderheitsregierung sprechen. Da ist etwa die AfD. Die Befürchtung ist gerechtfertigt, dass bei der Suche nach wechselnden Mehrheiten irgendwann auch die Rechtspopulisten einem Gesetzesentwurf zustimmen könnten. Könnte, so die Sorge, die AfD auf diese Weise nach und nach hoffähig werden? Die Parteien werden sich überlegen müssen, wie sie hierzu stehen und ob eine stabile Regierung das einzige Mittel ist, diese Herausforderung anzugehen.

Paradoxerweise wären bei einer Minderheitsregierung vor allem die Oppositionsparteien gefragt. Ihre Aufgabe bestünde darin, den schmalen Grat zwischen Blockieren und Mittragen geschickter zu gehen, als die AfD. Eine Allianz gegen Angela Merkel, bestehend aus Sozialdemokraten, Linken, der AfD und wahlweise Grünen oder FDP (je nachdem, welchen Koalitionspartner sie in eine Minderheitsregierung einbinden würde) wäre in dieser Legislaturperiode unwahrscheinlich.

Weiter haftet Minderheitsregierungen der Ruf an, nur eine Notlösung zu sein. Bisher gab es sie in Deutschland im Bund und auf Länderebene überwiegend nur als geschäftsführende Regierungen bis zu Neuwahlen. Seltener konnten sich, wie im Falle der von Reinhard Höppner geführten SPD-Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt, dem sogenannten Magdeburger Modell von 1994-2002, derartige Konstellationen eine ganze Wahlperiode halten.

Parteien gewöhnen sich an neue Verhältnisse

Hinzu kommt, dass noch immer das Modell zweier großer Volksparteien an der Spitze und mehrheitsbeschaffender Kleinparteien in lose gekoppelter Folgsamkeit als der anzustrebende Normalzustand gilt. Obwohl schon mit dem Aufkommen der Linkspartei das Vierparteien-System gründlich durcheinander geriet. Erst nach und nach lernen die Parteien, die neue Situation zu antizipieren. Insbesondere die SPD schien sich hiermit in jüngerer Vergangenheit schwer zu tun.

Die jüngsten Jamaika-Sondierungen sind ein Beispiel hierfür: Wenn auch keine Regierung aus ihnen hervorgegangen ist, zeugen sie doch davon, dass die Parteien mit Anspruch auf das Kanzleramt erkannt haben, dass sie über neue Modelle und Alternativen nachdenken müssen. Und auch die Medienöffentlichkeit hat über Jamaika, dessen Zustandekommen nicht weniger als eine Sensation gewesen wäre, spürbar erwartungsvoll berichtet. Eine gewisse Enttäuschung über das Scheitern ist kaum zu übersehen. Und unter die aktuelle Stimmung mischt sich nun sogar vermehrt die Angst vor „Weimarer Verhältnissen“. Was wird, wenn nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen keine Koalition zustande kommen sollte?

Doch man darf wohl guten Mutes sein, denn einerseits zeugt der Umstand, dass Weimar im öffentlichen Diskurs so schnell auftaucht, von einem vitalen Geschichtsbewusstsein in der Zivilgesellschaft. Andererseits sind die Erfahrungen der Weimarer Republik ein zentraler Ausgangspunkt für die Formulierungen des Grundgesetzes gewesen. Auch der 19. Deutsche Bundestag ist handlungsfähig und generell sind die demokratischen Institutionen auf Verhältnisse wie jetzt bestens vorbereitet. Neuwahlen sind nur die letzte Option.

Merkel als Hauptargument

Ein wesentlicher Punkt, der indes für eine Minderheitsregierung spricht, ist die Kanzlerin selbst. Nicht von ungefähr gilt sie als wenig ideologisch, geradezu technokratisch. Angela Merkel hat mehrfach bewiesen, Verhandlungen führen zu können. Sie könnte nun eine ihrer Kernkompetenzen bei der Suche nach wechselnden Mehrheiten auch in den politischen Alltag einbringen. Andererseits ist Merkel in den vergangenen Jahren auch nicht als bedeutende Parlamentarierin aufgefallen. Für sie persönlich würde eine große Herausforderung darin bestehen, den Bundestag stärker auch zu ihrem eigenen Terrain machen zu müssen. Denn sie wäre auf ihn angewiesen.

Gleichwohl müsste die Kanzlerin nicht völlig bodenlos operieren. Eine mögliche Kanzlerwahl in einer Minderheitsregierung kann an Absprachen und Bindungen jenseits von Koalitionsverträgen gekoppelt sein. Auch Tolerierungen können mit Verträgen gebunden sein, die vielleicht nicht so weit gingen wie Koalitionsverträge, aber in wichtigen Fragen, wie etwa dem Haushalt, natürlich notwendig wären. Sicherlich: eine Herausforderung, aber wohl eine lösbare. Und sie erfordert Mut.

Vitalisierende Wirkung

Des Weiteren moniert ein Großteil politikwissenschaftlicher und demokratietheoretischer Analysen der vergangenen Jahrzehnte, dass dem politischen Diskurs mehr und mehr der spürbare und belebende Antagonismus abginge. Es wird beklagt, dass die Parteien kaum noch unterscheidbar wären und dass von Anfang an alles auf Konsens ausgerichtet sei. Auch hierbei könnte eine Minderheitsregierung vitalisierend wirken. Bei dieser stünde die unangenehme Konsenssuche im Zentrum des politischen Alltags.

Zwar gibt es die Befürchtung, dass dies das ohnehin erschütterte Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen weiter erodieren lassen könnte. Doch das Gegenteil könnte sich als richtig erweisen: Ein medial begleitetes permanentes Ringen um Themen ist vielleicht das beste Mittel gegen Politik(er)verdrossenheit.

Die Kanzlerin könnte Scheitern nicht mehr delegieren

Die Sehnsucht der Politiker,  insbesondere der geschäftsführenden Bundeskanzlerin, nach stabilen Mehrheiten ist indes nur verständlich. Koalitionsverträge bieten Sicherheit, garantieren Machbarkeit der besprochenen Ziele und schützen vor dem Scheitern. Bisher hat Angela Merkel für das Scheitern von Projekten gerne die Verantwortlichkeiten delegiert. An der Spitze einer Minderheitsregierung würde sie dies nicht mehr ohne Weiteres können.

Und dennoch: Mit ihrer vielleicht letzten Regierung könnte Angela Merkel beweisen, dass das ihr zugeschriebene inhaltliche Nomadentum zugleich ihre größte Stärke ist. Zweifellos ist die aktuelle politische Krise eine große Herausforderung für die parlamentarische Demokratie und die Parteien mit Mitgestaltungsinteresse. Eine Krise der gesamten Demokratie ist sie aber nicht. Es geht auch ohne absolute Mehrheiten, sogar ohne Koalitionen. Auf jeden Fall theoretisch, vielleicht auch praktisch. 

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