Zwischen den Jahren - Warum der Bekenntniszwang unserer Demokratie schadet

Auch zwischen den Jahren wirkt die Gesellschaft polarisiert. Statt miteinander zu diskutieren, bekämpfen wir einander und fordern eindeutige Standpunkte voneinander ein. Doch Demokratie braucht mehr als ein Entweder-Oder

Sei deine eigene Partei / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Nun sind sie da, die seltsamsten Tage des Jahres. Sie umfassen nicht einmal eine ganze Woche, diese Tage vom 27. bis 31. Dezember, doch man gab ihnen einen besonderen Namen. „Zwischen den Jahren“ heißt diese Episode, und das stimmt und stimmt zugleich nicht. Das alte Jahr ist nicht vergangen, das neue nicht angebrochen. Der Kalender kennt keine solche Zeit dazwischen, für ihn gibt es immer nur ein Entweder-Oder, ein 2019 oder ein 2020, ein Jetzt oder ein Künftig. Jeder Kalender ist humorlos, phantasielos, unrettbar analog. Diese seltsamen Tage sprechen uns einen antikalendarischen Mut zu, wie er vielleicht nie nötiger war. Sie sagen uns: Wage es, nicht sofort Partei zu ergreifen. Gönne dir den Luxus des zweiten Gedankens. Vielleicht sogar des dritten, vierten, fünften. Sei deine eigene Partei.

Dazwischen steht der Unentschlossene, und Unentschiedenheit ist verpönt. Bei allen Debatten, die uns momentan umtreiben, gilt der alte DDR-Slogan, „Sag mir, wo du stehst.“ Gefragt ist das Sofortbekenntnis, das Einreihen in die richtige Kohorte an der Meinungsfront. Wir debattieren nicht, wir fragen Standpunkte ab. Wir streiten nicht, wir zeigen uns unsere weltanschaulichen Vereinsabzeichen. Wir widersprechen nicht, wir verdammen. Wir argumentieren nicht, wir preisen uns. Wer nur Interesse zeigt, sich also im Wortsinn dazwischen befindet, gilt als unsicherer Kantonist. Wer fragen will, bevor er einer Antwort zustimmt, muss sich den Vorwurf des Defätismus gefallen lassen. Optimismus ist zur Bürgerpflicht geworden und meint Einverstandensein mit der Regierungslinie. Oder einer anderen politischen Großerzählung.

Dogmatisierung statt Differenzierung

Nehmen wir die beiden Megathemen Migration und Klima. Handtuchschmal ist da der argumentative Zwischenraum geworden. Dieselbe Epoche, die im Namen der Differenz antrat und in der Dogmatisierung von Vielfalt zu enden droht, diese westliche Moderne, schätzt theoretisch, was sie praktisch ablehnt: das Abwägen, das Zögern, die Eigensinnigkeit. Wer in der Flüchtlingspolitik auf einem nationalstaatlichen Vorbehalt beharrt, wer das Gemeinwohl aufruft und nach sozialen Folgekosten fragt, der wird mit dem Vorwurf konfrontiert, er wolle Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Wer vom Leid fremder Menschen berührt wird und auf praktische Anteilnahme drängt, der kann in den Ruch geraten, das Land islamisieren und einen „Bevölkerungsaustausch“ vorantreiben zu wollen. Auf beiden Pfaden verdummen wir intellektuell und verrohen wir seelisch.

Noch unredlicher verläuft das Ping-Pong-Spiel von Stolz und Vorurteil in der Klimadebatte, die deshalb nur in Ausnahmefällen eine Debatte ist. Die einen sagen, die Welt sterbe, der Planet Erde brenne, es sei eigentlich alles schon zu spät, weshalb drastischste Sofortmaßnahmen alternativlos seien. Der „Jugendrat der Generationenstiftung“ fordert ein sofortiges „Verbot von Inlandsflügen und Kurzstreckenflügen bis 1000 km“ und ein Tempolimit von 30 km/h in allen Städten. Wer diesen oder vergleichbaren Forderungen nicht zustimmt, habe die Erde auf dem Gewissen, sei also böse, ein Mörder. Von der klimapolitisch gegenüberliegenden Seite heißt es, der Mensch habe keinen oder einen derart geringen Einfluss auf das Klima, dass wir an unserem Umgang mit den natürlichen Ressourcen gar nichts ändern müssten. Auch hier gilt: Ein Königreich für eine Atempause, ein Ausscheren, ein Nachdenken.

Die Kunst des Eigensinns

Natürlich: Sich einen schlanken Fuß machen, wenn Entscheidungen gefragt sind, kann feige sein und dumm. Das endlose Räsonieren, die ewige Ironie taugen nicht zum Ideal. Wer nie Position bezieht, schenkt der Unvernunft billige Triumphe. Aber genauso wahr ist: In Reih und Glied stirbt alle Freiheit. In den Zwischenräumen wächst das Leben, in Brüchen gedeiht Kunst, im Unverfugten und darum Unverfügbaren keimt Erkenntnis.

Wer mag, kann diesen Zusammenhang mit den Worten Jorge Luis Borges' ins Metaphysische wenden: „Die Zukunft ist unvermeidlich, präzise; aber es mag sein, dass sie nicht zustande kommt. Gott lauert in den Intervallen.“ Wir sollten die Kunst des Eigensinns und der Nachdenklichkeit wieder erlernen – nicht nur zwischen den Jahren.

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