Zum Tod von Roman Herzog - Unbekümmert, unangepasst, unermüdlich

Altbundespräsident Roman Herzog ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Den Deutschen bleibt er vor allem durch seine „Ruck“-Rede in Erinnerung. Der unbequeme Mahner wird fehlen, schreibt Hartmut Palmer in seinem Nachruf

Gegen Bürokraten und Bedenkenträger zog Roman Herzog gern zu Felde / picture alliance
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Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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Er hatte schon einen großen Namen lange bevor er 1994 Bundespräsident wurde. Roman Herzog war Mit-Herausgeber des Grundgesetz-Kommentars und damit über Jahrzehnte und bis heute einer der einflussreichsten Rechtsgelehrten der Republik. Sein Lehrmeister Theodor Maunz, bis dahin mit Günter Dürig Herausgeber dieser – immer noch tonangebenden – Bibel des deutschen Staatsrechts, hatte sich früh die Mitarbeit des aufstrebenden Juristen gesichert.

Herzogs Interpretationen des Grundgesetzes – unter anderem kommentierte er den Artikel 68, der die Vertrauensfrage und die vorzeitige Auflösung des Bundestages zum Gegenstand hat – haben Generationen von Jura-Studenten geprägt. Sie sind als „herrschende Meinung“ auch heute noch für die Rechtssprechung verbindlich.

Als liberaler Staatsrechtler und präzise formulierender Jurist – elf Jahre war er Richter beim Bundesverfassungsgericht, davon sieben (von 1987 bis 1994) als dessen Präsident – hinterließ Herzog tiefere und nachhaltigere Spuren, denn als Staatsmann und Politiker. Unter seiner Führung stärkten die Karlsruher Richter das Demonstrationsrecht, erhöhten den „Trümmerfrauen“ die Renten und verwarfen nach Mauerfall und deutscher Vereinigung eine Totalrevision des Grundgesetzes.

Die „Ruck“-Rede

Der Bundespräsident Herzog blieb den Deutschen vor allem durch eine berühmte Gardinenpredigt in Erinnerung: Es müsse ein „Ruck“ durch Deutschland gehen, mahnte er im April 1997. Er beklagte fehlenden Reformwillen, „Mutlosigkeit“ „Erstarrung“ und „Depression“ und appellierte an Wirtschaftsführer, Politiker und Gewerkschafter, alle sozialen Besitzstände auf den Prüfstand zu stellen.

Die „Ruck“-Rede war ein Event und erregte das beabsichtigte Aufsehen. Aber sie verhallte folgenlos. Herzog redete „von uns allen“ und damit, wie die Süddeutsche Zeitung später spottete, „auch an allen vorbei“. Der damals noch amtierende CDU-Kanzler Helmut Kohl fühlte sich nicht angesprochen. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, der ein Jahr später an die Regierung kam, teilte zwar den Befund, zog aber erst 2003 mit seiner Agenda 2010 erste Konsequenzen.

Der Latein-Liebhaber

Herzog war ein Hochbegabter. Alles schien ihm mühelos zuzufliegen. 1934 in Landshut geboren, glänzte er schon im Gymnasium als Klassenprimus. Der Schulbetrieb langweilte ihn. Trotzdem bestand er das Abitur mit „sehr gut“ in allen Fächern.

Latein war seine Leidenschaft. Sein Vater, Angestellter einer Schnupftabakfabrik, beschloss eines Tages, sich durch ein Zusatzstudium zum Archivar umschulen zu lassen. Er schaffte tatsächlich den Aufstieg und wurde später Museumsdirektor in seiner Heimatstadt. Dies aber nur, weil der Sohn ihm Lateinunterricht gegeben hatte.

Viele Jahre später wurde in Baden-Württemberg über das Fach Latein gestritten. Einige wollten es abschaffen. Herzog, damals Kultusminister in Stuttgart, war dagegen. Um die Unverzichtbarkeit dieser Kultursprache zu demonstrieren, beteiligte er sich sogar anonym (und mit exzellenten Noten) am Latein-Zentralabitur.

Als Lückenbüßer ins Bundespräsidialamt

Die Karriere verlief glatt und stürmisch: Mit 23 Jahren legte er das erste juristische Staatsexamen ab, mit 24 war er Doktor, mit 27 Assessor und mit 30 Professor.

Helmut Kohl, damals Ministerpräsident in Mainz, entdeckte das aufstrebende Talent Anfang der siebziger Jahre. Von 1973 bis 1978 vertrat Herzog die Mainzer Regierung als Bevollmächtigter in Bonn, im Mai 1978 wurde er Kultusminister, im März 1980 Landtagsabgeordneter und Innenminister in Stuttgart. Drei Jahre später wurde er zunächst Vizepräsident und 1987 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Ins Bundespräsidialamt ist er eher zufällig und als Lückenbüßer geraten, nachdem der ursprünglich von Kanzler Kohl favorisierte, weitgehend unbekannte sächsische Justizminister Steffen Heitmann wegen erwiesener Unbedarftheit vorzeitig aus dem Verkehr gezogen werden musste.

Herzog passte ins Macht-Kalkül der damals mit den Liberalen regierenden Konservativen: Er kam aus Bayern, weswegen ihn die CSU als ihren Kandidaten vorschlug. Er war evangelisch, womit auch die Protestanten in der Union zufrieden waren. Und seine Wahl wurde zur Machtprobe: Mit Herzog triumphierte die christlich-liberale Koalition noch einmal über die SPD, die damals schon Johannes Rau zum Präsidenten küren wollte.

Niederbayer mit Witz und Selbstironie

Kohls Präsident mochte er dennoch nicht sein. Er werde „keinen Vollzugsgehilfen abgeben“, sondern habe vor, „unbequem“ zu sein, hatte Herzog schon vor seiner Wahl öffentlich gewarnt. „Mit aufgeklapptem Visier“ wolle er „entlang der Wirklichkeit argumentieren“ und den Regierenden „auch mal’n Klotz hinhauen“.

Der robuste Niederbayer, mit Witz und Selbstironie gesegnet, von barocker Gestalt und unprätentiöser Amtsauffassung, kam gut an beim Volk. Respektlos im Umgang mit Autoritäten, unbekümmert in der Wortwahl und unangepasst im Denken – so sah er sich selbst und so wollte er wahrgenommen werden. Gegen Bürokraten und Bedenkenträger zog er gern zu Felde. Auch die eigenen Parteifreunde verschonte er nicht. Bald schon stand Herzog auf der Treppe der Populären ganz oben.

Länger als fünf Jahre indes mochte er nicht Präsident sein. Zur Ruhe setzen konnte sich der Pensionär allerdings auch nicht. Unermüdlich war er in verschiedenen Gremien tätig, er leitete eine von CDU-Chefin Angela Merkel berufene Kommission zur Gesundheitsreform, die der späteren Kanzlerin  die „Kopfpauschale“ empfahl. Außerdem hatte er im Bayerischen Rundfunk eine eigene Talk-Show.

Letzte Jahre

Aufsehen erregte er im Jahr 2008 mit einem Interview, in dem er drastisch die möglichen Folgen des demografischen Wandels beschwor: „Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentnerdemokratie: Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern.“

Nachdem seine Frau Christiane im Juni 2000 an Krebs gestorben war, heiratete der 67-Jährige im September 2001 deren langjährige Freundin Alexandra Freifrau von Berlichingen, eine späte, angeheiratete Nachfahrin des legendären Ritters mit der eisernen Hand, Götz von Berlichingen.

Dessen berühmtesten, von Johann Wolfgang von Goethe zitierten Ausspruch, „Er kann mich im Arsche lecken“, hat Herzog einmal in einem seiner letzten politischen Interviews bemüht: „Ich wünsche mir unsere Politiker manchmal selbstbewusster, man könnte die Forderungen von Einzelgruppen und Bürokraten auch mal auf diese Weise beantworten.“

Roman Herzog starb am 10. Januar in Jena.

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