„Vernichten“ von Michel Houellebecq - Nichts für Kinder

Michel Houellebecqs neuer Roman „Vernichten“ („Anéantir“) ging am 7. Januar in Frankreich mit 300.000 Exemplaren in die Startauflage. Die deutsche Ausgabe folgte nur wenige Tage später. Der Radio- und Fernsehmoderator Jörg Thadeusz hat sie für Cicero gelesen.

Michel Houellebecq / dpa
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Autoreninfo

Jörg Thadeusz ist Journalist, Radio- und Fernsehmoderator und schreibt Bücher. 

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Eine Freundin von mir ist sehr großzügig mit anderen. Sie kann gar nicht anders. Alle sollen im Restaurant auf ihre Kosten bestellen und zwar üppig. Die Nudeln mit irgendwelchen Pilzen sehen gar nicht schlecht aus. Für die Einladende ist das zu dürftig, viel zu pflanzlich. „Ach komm‘, nimm‘ doch bitte was Leckeres“, sagt sie. Einen Braten würde sie lecker finden. Oder auch ein Steak. Sie selbst darf das natürlich nicht nehmen. Denn ihre Teenager-Kinder bestimmen längst, was gegessen wird. Streng untergangshemmend muss jede Speise sein. Keine Rinder, die die Welt totfurzen und zuviel Ackerfläche verbrauchen. Wehe, jemand trinkt tierische Milch. Das geht nicht mehr. Der ganze „Wahnsinn“ muss beendet werden.

Niemand muss erklären, was ihn genau ausmacht. Wahnsinn eben. Wie sollen die Kinder das auch alles so genau wissen. Wir müssen nur tun, was sie sagen und werden dadurch selbst ein wenig edler. Nach all der Unterdrückung und Planetentöterei, die von uns ausging. Ein Bekannter gab bekannt, er würde jetzt auch mehr auf seine halbwüchsigen Töchter hören. Die verlangen, dass ihr Vater den Geschlechter-Doppelpunkt mitspricht. Für die Gerechtigkeit. Es ist dann leider immer wie eine Vorschau auf einen Schlaganfall, der ihm hoffentlich erspart bleibt. Dieses abrupte Stocken, mitten im Wort.  

Erwachsene, die mindestens eine Ahnung haben, wie schrecklich und gleichermaßen schrecklich lecker die Welt sein kann, sollten sich zum Einschlafen aus „Vernichten“ vorlesen. Wenn die Kinder davon nichts mitbekommen. Michel Houellebecq hat zwei dänischen Journalisten erklärt, was in einem guten Roman gelingen sollte: „Er kann dir das Gefühl geben, dass die erfundene Person direkt neben dir sitzt.“  

Empörungsgeile Twitter-Hysteriker

Paul Raison setzt sich neben uns. Er ist 49 Jahre alt, Spitzenbeamter im Wirtschaftsministerium. Lebt ein Leben, in dem seine Träume oft das deutlichste Lebenszeichen sind. Paul plaudert uns durch sein oberklassiges, aber auch tristes Dasein. Wahrscheinlich weiß Houellebecq, wie die empörungsgeilen Twitter-Hysteriker an seinen Zeilen fiebrig entlangspüren. Den Tippfinger so drohend umschlossen, wie der Hooligan seinen Baseballschläger in die Handfläche klatschen lässt. Sie wollen selbstverständlich den Rassisten Houellebecq überführen. Den islamophoben Frauenfeind, den Pornographen, von dem alle schon mal gehört haben. Dass „da mal was war“, reicht längst für eine Feme in den Netzwerken. 

Wer aber von dem Bundestagswahlkampf mit seinen konfirmandenhaften Kontrahenten und dem albernen Beschwören einer Gerechtigkeit durch Liebsein noch einen schlechten Geschmack im Mund hat, kann mit dieser Geschichte spülen. Mit Pauls unbarmherzigen Betrachtungen seiner selbst und seiner Umgebung, wie Houellebecqs durstig machender Weinbegleitung. Überall Menschen, die unzureichend sein müssen, weil sie Menschen sind. Unerträglich für Leute, die glauben, alles Menschengemachte ließe sich mit der nötigen Strenge schon gerecht hinbürsten. Paul stößt Fragen an, die für Kinder zu hoch sind. Wie gelingen Ehen? Geht das überhaupt? Brauchen die Verheirateten mindestens ein ein gemeinsames Projekt, wenn es hinhauen soll? Sind dann Kinder besser, als ein zu renovierendes altes Haus auf dem Land?

Wie klingt ein Leben gut aus, fragt sich Paul, wenn er seinen Schwiegervater sieht, der durch eine Panoramascheibe nur noch auf das Meer sieht und nichts mehr sagt. Ab welchem Lebensalter ist der eigene Vater nicht mehr „Papa“? Oder wird er das doch wieder, wie bei Paul, als ein Hirninfarkt seinen geheimnisvollen Alten ins Koma schickt? Paul hat eine wichtige Position im politischen System. Ist mit dem Aktenfresser und Minister Bruno auf so schnöde wie verlässliche Weise befreundet. Bruno könnte Präsident werden. Auch er kann aber Pauls Schwester Cecile nicht wirklich überstrahlen, „einfach ein menschliches Wesen von höherer Qualität“, wie Paul, also Houellebecq, sie beschreibt. Wenn uns die Idiotie zu sehr umzingelt, können wir irgendwohin fliehen und uns damit unserer Zeit entziehen? Wahrscheinlich nicht, antwortet sich Paul selbst. Wie immer ohne den so zeitgenössischen Rigorismus.  

Manches Leben scheitert, weil es nicht zum Gelingen gebaut ist

Paul muss sich um seinen kranken Vater kümmern und fährt immer wieder in seine berühmte und wunderschöne Heimat, die Beaujolais-Region. Da ist nirgendwo Bullerbü, wie es sich eine Berliner Spitzengrüne mit übergriffiger Drolligkeit herbeisehnte. Die berückende Landschaft ist die Kulisse für das ungelenke Miteinander in Pauls Familie. Das Personal in diesem Buch durchläuft keinen Filter, der alles ins Makellose verfälscht, wie es in jeder S-Bahn geschieht, wenn eine Möbelhausverkäuferin ihr Selfie-Gesicht mit den Funktionen ihres Mobiltelefons kosmetisch operiert.

Houellebecqs Figuren vergessen andere Leute, sogar ihre eigenen Söhne. Aus Blasiertheit, oder auch nur aus Überforderung. Sie sprechen sich nicht aus, weil sie es sich nicht trauen. Manches Leben scheitert, weil es nicht zum Gelingen gebaut ist. Frauen werden vorzeitig hässlich und immer egoistischer. An in die Jahre gekommenen Männern baumeln blasse Geschlechtsteile. Dafür bleibt in allen Dialogen der Sirup der nicht gemeinten Empathie erspart. Wie in der viel zu oft gehörten Sprachstanze „Ich bin da ganz bei dir“.

Es ist ein Houellebecq und damit wieder der Sex das französische Hoheitszeichen dieses Romans. Der ist mal schlecht, mal mittelmäßig, oder die Frauen können sogar verrückte Sachen mit ihrem Geschlecht. Paul sitzt neben uns, und das wird schmerzhaft, wenn sich die Geschichte ausgeplaudert hat und in ihren tragischen Teil übergeht. Wenn Paul zuerst nicht weiß, wie ihm geschieht, und dann mit der sirrenden Feinnervigkeit seines Erschaffers Houellebecq auf eine durchrüttelnde Zielgerade geschickt wird. Es grantelt dann nichts mehr in „Vernichten“.

Wer sich traut, das Buch bis zum Ende zu lesen, dem können große Zweifel kommen. An der plumpen Art, in der wir die Gefahr einer schlimmstenfalls tödlichen Erkrankung in den vielen vergangenen Monaten besprochen haben. Mit der klammen Enge im Geist, in den weit auseinander stehenden Sesseln der Fernsehhalbkreise. Der kindischen Aufgebrachtheit über den Skandal, den das Ende des Lebens bedeutet.  Houellebecq lässt neben dem panischen Festkrallen im Hier und Jetzt auch Würde als Alternative aufscheinen. Auf der gesamten Strecke des Romans lässt Houellebecq seinen Paul den lieben Gott umtanzen. Mit dem Selbstvorwurf: Ich kann nicht glauben, dass ich vielleicht an Dich glaube. Michel Houellebecq stellt das Denken über das wohlfeile Meinen. Wer mitfühlen will, kann es versuchen. Verknüpft mit der Warnung, dass das alles andere als einfach, also nichts für Kinder ist.  

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