Wiedereröffnung von Bühnen - Warten auf Erlösung

Seit einem Jahr findet auf deutschen Theaterbühnen so gut wie kein Programm statt. Jetzt gibt es erste Chancen auf Wiedereröffnung. Warum das höchste Zeit ist, darüber schreiben in einer kleinen „Cicero“-Serie namhafte Bühnenkünstler und Intendanten. Den Auftakt macht Sasha Waltz

In C. Sasha Waltz & Guests, Terry Riley Ensemble / Jo Glinka
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Autoreninfo

Sasha Waltz ist Choreografin und Gründerin der Compagnie Sasha Waltz & Guests.

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Die ohnehin nervösen Künstlernerven liegen blank. Seit nun über einem Jahr tun Bühnenkünstler und wir anderen nicht mehr, was zum Leben selbstverständlich dazu zu gehören schien: zusammenkommen in einem Saal, zeigend und verführend dort, staunend und jubelnd hier. Wie gern würde man sich für die Rückkehr dieser Selbstverständlichkeit sogar wieder über den Sitznachbarn ärgern, der immer zu glauben scheint, die Armlehne gehöre ausschließlich zu seinem Sessel.

Aber die „Öffnungsperspektive“ von Anfang März, ohnehin an komplizierte Bedingungen geknüpft, hat noch nicht den erleichterten Schwung des Wiederbeginns in die deutschen Bühnenhäuser getragen. Die wieder steigenden Infektionszahlen erhöhen die Unsicherheit. Nur zaghaft und vereinzelt, und flankiert von Arrangements für tagesaktuelle Schnelltests, werden in den nächsten Wochen Türen geöffnet werden. Und das, obwohl man längst weiß, wie vergleichsweise gering das Infektionsrisiko bei kulturellen Veranstaltungen mit Hygienekonzepten ist.

Cicero beginnt in dieser fragilen Lage heute eine kleine Reihe mit persönlichen Bemerkungen von Bühnenkünstlern und Intendanten zur Lage ihrer Kunst in diesen Tagen. Wie sie dieses vergangene Jahr erlebt haben. Was mit ihrer Kunst geschehen ist. Was ihnen und uns fehlt, wenn das gemeinsame Erlebnis im Raum fehlt. Dass die Vorhänge jetzt wieder aufgehen müssen. Es beginnt heute Sasha Waltz, die große Choreographin, Tänzerin und Regisseurin, die mit ihrer Anfang der 90er Jahre in Berlin gegründeten Compagnie jetzt seit fast drei Jahrzehnten den internationalen Tanz mit prägt.

 

Endzeit und Erlösung

„Aber wo sind sie? Wo blühn die Bekannten, die Kronen des Festes? […] Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?“ Das schreibt Hölderlin in Stuttgart um 1800. In der nächsten Zeile spricht er vom Erscheinen Christus‘, dann auch von Dionysos, dem Gott des Weines. Diese Verbindung von Messias und Dionysos scheint mir interessant, denn bei beiden Figuren aus Religion und Mythologie geht es darum, über die Entgrenzung Erlösung zu erfahren.

Seit fast einem Jahr nun beherrscht die Corona-Pandemie unser Leben. Vor einem Jahr begann der erste Lockdown, auch für die Kultur: Die Theater schlossen am 13. März 2020. An das Warten auf den Messias knüpft sich oft der Gedanke der Endzeit, aber auch die Erlösung. Damit verbindet sich meist nicht einfach der Anfang des Neuen, sondern Umsturz und Aufbruch. So erleben viele momentan die radikale Neuerfindung ihres Lebensalltags – allerdings nicht die Menschen, die in sorgenden Berufen arbeiten und in Berufen, die unsere täglichen Bedürfnisse bedienen: Sie erleben eine ganz andere Grenzerfahrung, arbeiten über ihre Kräfte und oft am Rande des Burnouts.

Erster Lockdown: Zeit für Neues

Als Künstler stehen wir regelmäßig in unbestimmten neuen Perspektiven, müssen uns zu Problemen verhalten, die wir uns selbst stellen oder die Teil des prozesshaften Arbeitens sind, müssen sie lösen, integrieren, transformieren, annehmen. Die erste Periode der Pandemie habe ich daher als Aufatmen empfunden und als eine merkwürdig befreiende Zeit wahrgenommen, in krassem Gegensatz dazu, wie wir uns eigentlich als Gesellschaft fühlten, mit all den Einschränkungen und Verboten. Ich habe diese Notwendigkeit als Spielanleitung aufgefasst, neu mit unserem Leben umzugehen. Ich habe die Zeit genutzt für spontane Projekte, habe sie genutzt, die eigene Arbeit zu hinterfragen, neue choreographische Wege zu gehen unter Berücksichtigung der geltenden Abstandsregeln, Projekte zu erdenken, die es mir erlaubten, vor (wenig) Publikum zu tanzen: Aufführungen unter freiem Himmel, Hybride zwischen Innen und Außen; aber auch Filme auf ARTE Concert und YouTube.

Diese neue, kurzfristigere, suchende Form des Arbeitens hatte auch unerwartet positive Effekte: Es ergaben sich spontane, unerwartete Begegnungen mit Künstlern, die sonst viel zu verplant waren für gemeinsame Projekte. Und durch Livestreams erreichten wir plötzlich nicht mehr ‚nur‘ 500 Menschen, die sich entschieden haben für ein Ticket zu unserem Stück, sondern über 1000 in der ganzen Welt verstreut zwischen Mexico City und Maputo.

Kathartische Momente der Gemeinschaft

Im zweiten Lockdown und ein Jahr später geht die Situation aber zunehmend an die Substanz. Viele Menschen arbeiten ohne Pause, ohne Abgrenzung, ein Zoom-Meeting jagt das nächste. Es gibt keine Trennung mehr von Arbeits- und Privatraum. Es gibt keine langfristige Perspektive. Wir hoffen, dass uns die Impfkampagne Stück für Stück unsere Freiheit zurückgeben wird. Aber wir wissen es nicht. Und wo bleiben Freundschaft, neue Begegnungen, Feste feiern, das Leben spüren? Wir kommen als Kollektiv nicht mehr zusammen, es fehlen kathartische Momente der Gemeinschaft, wie sie im Theater möglich sind.

Viele Freunde, die als Künstler oder im Einzelhandel erfolgreich waren, sind heute existenziell bedroht, obwohl es in Deutschland noch großzügige Unterstützung gibt. Auch wir als Compagnie spüren natürlich die Folgen der Pandemie: 2020 wurden Gastspielreisen und Vorstellungen bis auf wenige abgesagt und wir wissen nicht, ob wir jemals wieder wie früher reisen können. Wir halten uns über Wasser mit Kurzarbeit und Livestreams. Wir arbeiten mit einem strengen Hygienekonzept weiter. Wir fangen neu an, mit reduzierten Mitteln. Wir finden kreative Lösungen, uns auch über Grenzen hinweg virtuell zu begegnen und gemeinsam zu arbeiten.

Geringe Ansteckungsgefahr

Für meine neue Performance „In C“ auf der musikalischen Grundlage von Terry Rileys bahnbrechender Komposition von 1964 habe ich eine Tänzerin via Zoom aus ihrem Studio in Italien zu mir ins Studio in Berlin geholt, um gemeinsam zu proben. Wir haben „In C“ mitten in der aktuellen Situation Anfang März via Livestream zur online-Premiere gebracht. Es ist ein farbenfrohes Stück voller positiver Energie, Lebensfreude und Leichtigkeit – etwas, das wir gerade besonders brauchen. Das Stück lässt den Tänzern und Musikern in seiner Struktur viel Freiräume, über denen das Ganze aber nicht aus dem Blick verloren werden darf. Es geht darum auszuloten, wie viel Freiräume ich mir als Individuum nehmen kann, ohne die Gruppe zu gefährden. Damit ist es indirekt auch ein Stück über unsere aktuelle Situation. Nur: Wann können wir unsere Arbeit wieder LIVE mit der Öffentlichkeit teilen?

Das ist auch ein Dilemma für uns Künstler: Ja, wir wollen wieder vor Publikum spielen, mit Menschen in einem Theater-Raum ein kultisches Fest feiern. Aber natürlich wollen wir damit niemanden gefährden. Dürfen wir Künstler uns so wichtig nehmen, dass wir eine Öffnung von Kunst- und Kultureinrichtungen fordern? Studien belegen inzwischen, dass das Infektionsgeschehen im Theater oder Konzertsaal, falls es eine gute Belüftungsanlage gibt, bei 0,5 liegt – weniger Ansteckungsgefahr als im Supermarkt oder im öffentlichen Nahverkehr. Letztlich fehlt Kunst- und Kultur für die Forderung einer Öffnungsperspektive auch eine Lobby, es wird in der öffentlichen Debatte um Wege aus dem Lockdown eigentlich nicht mehr über uns gesprochen.

Gemeinsames Atmen im Theater

Kunst und Kultur werden der Freizeit zugeordnet, gelten als nicht systemrelevant. Dabei sind sie ein tragendes Element, ein wichtiges Bindeglied in unserer Gesellschaft. Im Theater, Konzert oder Tanz ist die Erfahrung von Gemeinschaft möglich. Theater sind öffentliche Räume, die für das Kollektiv von großer Bedeutung sind. Ebenso wie Gottesdienste. Waren die ersten kultischen Tänze nicht auch Gottesdienste? Das gemeinschaftliche Erleben erhöhte sich um eine transzendente Erfahrung, dort nahm das Theater den Anfang. Wo sind diese Erfahrungen jetzt? Der erhebende Moment des gemeinsamen Atmens in einem Theater, das damit verbundene kollektive und bewusste Erleben des Augenblicks, hat sich verkehrt in die Wahrnehmung einer Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit. Wir sind zurückgeworfen ins Private, das bedeutet für viele auch in totale Einsamkeit.

Ich unterstütze den Lockdown und möchte durch meine Kunst kein Menschenleben gefährden. Aber vielleicht gibt es eine Lösung zwischen kompletter Schließung und totaler Öffnung. Wir brauchen etwas Mut trotz Vorsicht, ein bisschen mehr Flexibilität, leichte Bewegung, eine Perspektive. Wir müssen den Blick vorsichtig und verantwortlich in die Zukunft richten. Sonst halten wir gemeinsam den Atem an, erstarren nicht nur als Künstler, sondern als Gesellschaft, und verharren vereinzelt im Warten auf die Erlösung.

„In C“ ist auf der Homepage von Sasha Waltz & Guests noch bis zum 5. April abrufbar.

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