Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche - „Manche Priester denken, sie tun den Kindern noch was Gutes“

Bischöfe aus aller Welt befassen sich ab heute im Vatikan mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern in der Katholischen Kirche. Der Psychotherapeut Wunibald Müller war der erste, der die Motive der Täter aufgezeigt hat. Was muss sich ändern?

Papst Franciskus leitet eine Messe im Zayed Sports City Stadion / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Wunibald Müller ist katholischer Theologe, Buchautor („Liebe und Zölibat“)  und Psychotherapeut. Er hat bis 2016 das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach geleitet, das Priester in Krisensituationen berät. 

Herr Müller, was macht es mit Männern, wenn sie ihre Sexualität im Dienste der Kirche unterdrücken müssen?
Es ist auf alle Fälle ein großer Verzicht, keine Sexualität mit einem Partner ausleben zu dürfen. Manchen gelingt es, damit zu leben, anderen nicht.

Was haben Sie Priestern geraten, wie sie diesen Konflikt lösen können? 
Der Zölibat bedeutet nicht, dass sie nicht auch in einer innigen Beziehung mit jemandem leben können. Verzichten müssen sie auf das Ausleben ihrer Sexualität. 

Was heißt „nur“? Ist das nicht ein ziemlich hoher Preis?
Doch, viele brauchen ihr ganzes Leben lang, um damit zurechtzukommen. Dahinter steckt ja nicht der lüsterne Satan, sondern die Schöpfermacht Gottes. Das ist doch eine ganz wichtige Kraft in uns. Darauf zu verzichten, das ist ein hartes Stück Arbeit. 

Wie schafft man das?
Wenn ich meine Sexualität nicht ausleben darf, muss ich trotzdem um meine Sexualität wissen. Ich muss wissen, ob ich heterosexuell, schwul oder bisexuell bin. Was immer das ist, muss ich als einen Teil von mir annehmen. Nur so kann ich meine Sexualität gestalten. Nur so kann ich verhindern, dass die Sexualität etwas mit mir macht, was ich nicht möchte. 

Sie unterstellen einigen Priestern, dass sie sich ihrer Sexualität gar nicht bewusst sind?
Ja, die gibt es tatsächlich. Es sind Männer, die sich mit diesem Thema gar nicht auseinandersetzen. Sie denken, wenn sie sowieso zölibatär leben müssten, sei das nicht erforderlich. Die machen sich natürlich etwas vor. Das zeigen ja die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch.

Wie meinen Sie das?
Die Täter sind gar nicht in Berührung mit ihrer Sexualität. Teilweise wissen sie nicht einmal, wie ihre sexuelle Orientierung aussieht. 

Das klingt ja fast so, als seien sie in ihrer sexuellen Entwicklung nicht viel weiter als die Kinder, die sie missbrauchen?
Genau. Sie mögen intellektuelle Überflieger oder tolle Priester sein, aber sexuell sind sie unterentwickelt – wie das Negativ eines Fotos. Dementsprechend verhalten sie sich. 

Sie haben kein Schuldbewusstsein?
Ja, typisch für diese Täter ist ein Mangel an Einfühlungsvermögen. Viele wissen nicht: Was tu ich den Kindern damit an? Ich bin Priestern begegnet, die der Meinung waren, sie hätten den Kindern noch etwas Gutes getan. 

Nein.  
Doch, da kommen zwei Dinge zusammen: Der Mangel an Einfühlungsvermögen – und eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur. 

Achtzig Prozent der Opfer sind männlich. Woran liegt das?
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Bis 1992 waren nur Jungs als Ministranten zugelassen. Dazu kommt, dass 30 Prozent der Priester homosexuell sind. Viele von denen haben keine Probleme damit, zölibatär zu leben, jedenfalls nicht mehr als heterosexuelle Priester. Es gibt unter diesen homosexuellen Priestern aber auch eine ganze Reihe, die in ihrer sexuellen Entwicklung stehengeblieben sind, weil sie nicht zu ihrer Orientierung stehen. Sie leben ihre Homosexualität nur im Dunkeln aus. Das aber macht sie anfällig für missbräuchliches sexuelles Verhalten. Die Tatsache, dass die Kirche Homosexualität tabuisiert und offiziell untersagt, dass jemand, der schwul ist, zum Priester geweiht werden darf, fördert ein solches Verhalten. 

Warum eigentlich?
Weil jene, die schwul sind, aber Priester werden wollen, ihre Homosexualität verbergen. Damit laufen sie aber Gefahr, sich nicht wirklich mit ihrem Schwulsein auseinandersetzen und sexuell unreif bleiben – und sich entsprechend unreif zu verhalten. 

Nach einer Ende 2018 veröffentlichten Studie der Katholischen Kirche sind seit 1946 3677 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen aktenkundig geworden. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dieser Statistik und den Nöten der Priester, die Sie therapiert haben?
Ja. Zwischen der Priesterweihe und dem ersten Übergriff vergehen in der Regel zehn bis fünfzehn Jahre. Man kann sagen, dass die Einsamkeit und der Mangel an Intimität diese Priester in besonderer Weise anfällig machen für sexuelle Übergriffe. 

Das heißt, der Zölibat ist die Hauptursache?
Nein, der Zölibat zieht aber einen bestimmten Typ an. Oft sind es Männer, die unfähig sind, eine intime Beziehung einzugehen. Die müssen sich dann nicht mehr dafür entschuldigen. Ihre Unfähigkeit zu innigen Beziehungen zu Erwachsenen wird durch das Zölibat sogar heiliggesprochen. Das gilt übrigens für homo- oder heterosexuelle Männer gleichermaßen.Nur 25 Prozent der Männer, die Kinder sexuell missbrauchen, sind pädophil. Das heißt, sie fühlen sich tatsächlich sexuell von Kindern angezogen, die dreizehn Jahre alt sind oder jünger.  

Wie begründet die Katholische Kirche den Zölibat? 
Die Priester sollen verfügbarer sein. Ich finde dieses Argument ziemlich weltfremd. Die Kraft, die sie eigentlich für ihr Amt zur Verfügung haben sollen, wird von der Kraft aufgebraucht, die sie dafür benötigen, mit ihrem zölibatären Leben zurechtzukommen. 

Müsste die Kirche nicht genauer hinzuschauen, wen sie als überhaupt Priester zulässt? 
Ja, sie ist aber auf den Zölibat als Ideal fixiert und übersieht die Schattenseiten, die das mit sich bringen kann. Dieser ganze Bereich der Sexualität und Beziehungsfähigkeit ist in der Vergangenheit in der Priesterausbildung oft außen vor geblieben. 

Auch heute noch?
An einigen Priesterseminaren wird das schon thematisiert. Es hängt aber immer von der Person des Bischofs ab, ob er diesen Themen Raum gibt. Durch diese Missbrauchskrise schaut man jetzt allerdings nochmal genauer hin: Was sind das für Leute? 

Wunibald Müller 

Sie kennen die Anwärter aus Ihrer langjährigen Arbeit. Was ist Ihr Eindruck? 
Nach meiner Erfahrung sind nur sehr wenige Priester geeignet, zölibatär zu leben. Der Anspruch an diese Männer ist riesig. Es ist falsch, zu denken, wer auf das Ausleben seiner Sexualität verzichten muss, muss sich nicht länger mit seiner Sexualität auseinandersetzen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Wer auf seine Sexualität verzichten muss, muss sich noch viel mehr mit dem Thema auseinandergesetzt haben als jene, die ihre Sexualität leben können, um verantwortungsvoll damit umzugehen. 

Was raten Sie der Kirche?
Sie könnte zum Beispiel den Passus in ihren Richtlinien streichen, nach dem Schwule nicht zum Priester geweiht werden dürfen.  

Ist das mehrheitsfähig?
Es gibt inzwischen Bischöfe – unter ihnen die Bischöfe von Würzburg, Paderborn und Münster – die bereit sind, Homosexuelle zu Priestern zu weihen. Tatsache ist, dass das auch in vielen anderen Diözesen schon praktiziert wird. Daher sollte man auch dazu stehen und darauf hinwirken, dass Homosexuelle selbstverständlich zu Priestern geweiht werden können und nicht auf der einen Seite es verbieten, in Wirklichkeit aber sich dann nicht daran halten. Meint es die Kirche ernst mit der Prävention sexualisierter Gewalt, müsste sie hier ein klares Ja zu ihren homosexuellen Priestern sagen und den erwähnten Passus streichen. Soweit ist sie wohl noch nicht, aber hier beginnt der Fels zu bröckeln.

Sie waren einer der ersten, der den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen thematisiert hat. Wie hat die Katholischen Kirche darauf reagiert? 
Sehr zögerlich. Sie hat das Problem nicht ernst nehmen wollen, hat nicht wahrhaben wollen, dass es sich hier nicht nur um Einzelfälle handelt. Es hat mich einige Arbeit gekostet, sie davon zu überzeugen, entsprechende Leitlinien zu verabschieden, die für alle Diözesen verbindlich sind. 

Was für Leitlinien meinen Sie?
Die hat die Bischofskonferenz 2010 verabschiedet. Aus denen geht hervor, wie mit den Tätern und wie mit den Opfern im Fall eines sexuellen Missbrauchs umgegangen werden soll. Diese Leitlinien markieren einen wichtigen Einschnitt. Bis dahin ging es der Kirche immer nur darum, dass ihr Ansehen nicht beschädigt wird. Täter wurden einfach versetzt. Seither gilt die erste Priorität dem Opfer… 

... theoretisch. Praktisch berichten aber viele Opfer, dass ihre Anzeigen von der Kirche sogar dann abgewimmelt wurden, wenn die beschuldigten Täter geständig waren. 
Dass viele Opfer nicht gehört und nicht ernstgenommen wurden, war vor den Leitlinien die gängige Praxis. Seitdem hat sich diese Praxis aber auf alle Fälle geändert, was nicht ausschloss und ausschließt, dass man auch immer wieder in alte Muster zurückfiel. 

Was macht es mit den Opfern, wenn die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden? 
Oft glauben ihnen nicht mal die eigenen Eltern. So etwas lässt ein Kind einsam und verzweifelt zurück. Auch seine ganze religiöse Welt, sein Vertrauen zu Gott geraten ins Wanken. Denn in seinen Augen ist der Priester ja der Vertreter Gottes. Deshalb hat er ja so viel Macht. Das Kind versteht nicht, warum er nicht bestraft wird. Es denkt: Vielleicht bin ich selbst schuld.

Jetzt hat sogar der Papst das Problem erkannt und Bischöfe aus der ganzen Welt zu einer Tagung zum Thema Kindesmissbrauch eingeladen. Was versprechen Sie sich von diesem Treffen? 
In Sachen Aufklärung ist Deutschland mit seinen Richtlinen und der Präventionsordnung Vorreiter. Das Thema Missbrauch betrifft aber die ganze Welt. Dagegen ist in Ländern wie Polen oder Afrika bislang noch wenig aufgearbeitet. Das Ziel der Tagung muss sein, Bischöfe auf der ganzen Welt sensibler zu machen für dieses Thema. Andere Länder sollten sich entsprechend ihrer Situation, was Aufklärung und Prävention betrifft, das Niveau erreichen, wie es inzwischen in unseren Leitlinien erreicht worden ist. 

Reicht das aus?
Nein, die Kirche muss noch weitergehen. Sie muss anerkennen, dass der Zölibat zwar kein Grund für sexuellen Missbrauch ist, aber ein Risikofaktor. Der Zölibat muss fallen. 

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