Schachboxen - Den Kopf matt setzen

Erfunden in einem Comic, zieht das Schachboxen weltweit immer mehr Fans und Spitzensportler an. Wird es olympisch? Beobachtungen einer Nacht, mit Nana Mouskouri im Ohr, Schweiß in der Nase

Schachboxen ist eine Utopie. Nicht im Sinne von Morgen. Im Sinne von Jetzt / Nikita Teryoshin
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Der Schlüssel zum Kopf liegt im Körper. Der Schlüssel zum Körper ist im Kopf. Dazwischen kann er mal verloren gehen. Das ist Schachboxen – so gegensätzlich wie die Schuhe von Moderator Eric „Two Shoes“ Hanson, der da heute im Ring vor einem Schachtisch steht und verkündet: „Men will fight, Kings will fall. Gentlemen, lasst es krachen!“

Lars Rooch, 38 Jahre alt, ist Tischler, ein Schrank aus Dresden. Jemand, der zur Musik aus „Braveheart“ durch die Seile steigt. Der Berliner Festsaal Kreuzberg rammelvoll. Der Mann in der weißen Hose zieht zur Eröffnung den Königsbauern ein Feld vor. Hipsterbärte, Anwälte in Jan-Böhmermann-Anzügen, junge Frauen drängeln sich hautnah am Ring. Viele Frauen. Laut rumst eine Rummelboxbirne mit Skala von Feigling bis Mike Tyson, die ein Sponsor für seine Kunden im VIP-Bereich aufgestellt hat.

Die lausige Eröffnung hätte nicht mal ich hingekriegt. In vielen Jahren Schachboxtraining ist es mir gelungen, mein Schachlevel von Vollidiot auf Kretin anzuheben. Immerhin. Im Vergleich zu den Cracks hier im Berliner Chess Boxing Club jedenfalls, aber das sind Anfänger, Rookies, jedenfalls im Schach.

Rooch zieht schnell. Das muss er, das Reglement im Zeitschach will es so. Aber er wirft alle Bauern nach vorn und vergisst, die Leichtfiguren zu entwickeln. Die Kämpfer tragen Kopfhörer, darin Meeresrauschen. Die Zuschauer folgen den Zügen auf einer Leinwand. Andreas Dillschneider, ehemaliger Schach-Bundesligaspieler, kommentiert: „Rooch bildet Bauernketten.“

Schachboxen ist eine Philosophie / Nikita Teryoshin

Das Boxen bestimmt das Schach

Das ist freundlich ausgedrückt. Des Tischlers Gegner ist Lehrling, heißt Mazen Girke, 34-jährig, in Berlin geborener Syrer. Ein sogenannter Journeyman. Boxer, die gebucht werden, wenn ein Match wackelt. Er prescht in die Boxrunde und setzt den bärtigen Riesen unter Druck. Schnupfen, Fuß verknackst, Hosen voll: Manchmal wackelt der ganze Abend, und dann ist Iepe Rubingh, Veranstalter und Erfinder des Schachboxens, froh um Mazen. Seine Auftrittsmelodie ist „Django“.

Die Boxbirne rumst. Django ist kein Fallobst. Und Rooch alles andere als ein Anfänger, jedenfalls im Boxen. Angereiste Dresdner feuern ihn an. Ostdeutscher Meister, K1, Ultimate Fighter. Er ist hier, weil sein jüngerer Bruder Sven Weltmeister ist und im Hauptkampf gegen einen Finnen antritt.

Nicht das Schach bestimmt das Boxen, das Boxen bestimmt das Schach. Es geht um Kontrolle. Django hat das scharfe Auge des Boxers: Nur wenige Zentimeter weicht sein Kopf zurück, zur Seite. So nimmt er den Schlägen die Wucht und kann sofort kontern. Er trifft den Riesen, der wackelt und lächelt. Adrenalin schießt in den Kopf. Man muss flüchten oder angreifen, auf dem Brett wie im Ring. Die Jungen, die das Brett wieder hineintragen, sehen mit ihren Hosenträgern aus wie Alpenjodler.

Dumme Fehler, das Adrenalin

Runde drei, Schach. Rooch attackiert die Dame. Girke ist auf der Uhr bereits auf 5.36 Minuten runter. Der Trick ist: das Adrenalin beim Schach zu kontrollieren. Ich habe das in aufregenden Nahtoderfahrungen gelernt. Schachboxen ist eine Philosophie. Nicht im Sinne von Leben. Im Sinne von Überleben.

Dabei treten zwei Sportler abwechselnd im Schach und im Boxen gegeneinander an. Begonnen wird mit einer Schachrunde. Nach drei Minuten wird die Partie angehalten und aus dem Ring getragen. Es folgt die Boxrunde. Jeder hat neun Minuten auf der Schachuhr. Der Kampf geht über elf Runden und wird durch K. o., Schachmatt oder Zeitüberschreitung entschieden. Die jeweilige Schachrunde hat kaum Einfluss auf die nächste Boxrunde. Die Boxrunde hat einen sehr direkten Einfluss auf die nächste Schachrunde.

Rooch röchelt. Nach drei Minuten im Ring sind die Muskeln übersäuert. Das Gehirn hat Erschütterungen mit einer Gewalt zwischen 150 und 320 Kilogramm oder der Geschwindigkeit eines Tornados der Stufe drei ausgehalten. Das kann es. Aber es fällt schwer, sich in diesem Zustand auf etwas von der Größe eines Krippenjesus auf einem irritierenden Muster zu konzentrieren. Runde fünf, Schach. Girke macht Fehler. Dumme Fehler, das Adrenalin.

In der siebten Runde hat ihn Tischler Rooch auf dem Brett fast geschlagen. Mazen Girke muss nun beim Boxen den Knock-out suchen. Schnelle Hände krachen an Roochs Schläfen, allein Django fehlt die Schlaghärte. In Runde neun läuft Girkes Zeit ab. Bing, bing, bing!

Diese Kämpfe sind nicht immer höchst anspruchsvoll. Aber ehrlich

Es ist der zehnte Intellectual Fight Club. Noch auf dem Klo hört man die Kampfanalyse von Meinsportradio.de. Im Unterschied zu den Turnieren in Moskau, Kalkutta oder der Berliner Columbiahalle ist dieser Amateur-Level offen für alle, die es versuchen wollen. Nach Jahren des Trainings oder nur sechs Monaten. Selber schuld.

Der Aktionskünstler Iepe Rubingh /
Nikita Teryoshin

So kommen interessante Paarungen zustande: Russischer Atomphysikstudent im Klitschko-Format gegen Flüchtling und Boxmeister aus dem Iran. 50-jähriger Lehrer aus Stockholm und Verlierer einer Wette mit seinen Schülern gegen jungen Fitnesstrainer aus Paris. Diese Kämpfe sind nicht immer höchst anspruchsvoll. Aber ehrlich.

2003 bestritt der holländische Aktionskünstler Iepe Rubingh in einer Amsterdamer Kirche den ersten Schachboxkampf mit eigens aufgestelltem Regelwerk. Die halbe Weltpresse kam. „Iepe the Joker“ und „Louis the Law­yer“ lieferten sich einen Fight, der zur Legende wurde. In der wirklich letzten Sekunde der letzten Runde gewann Rubingh im Schach. Aus der Kunstaktion wurde ein Sport. Rubingh sperrte einst als Clown die verkehrsreichste Kreuzung Tokios – und wanderte dafür in den Knast. Er ließ einen Baum regnen und bohrte im Berliner Mauerpark nach Öl. Er ist ein Vertreter des Social Sculpting, das Kunst in die Gesellschaft tragen will. Jetzt promotet er das Schachboxen.

Ich selbst kam 2005 in den Berliner Club. Für eine Geschichte forderte ich den Polizisten und damaligen Weltmeister Frank Stoldt, Kampfname „Anti-Terror-Frank“, heraus: Mehr im Spaß sollte er mir in einem Kampf die Sportart erklären. Nach elf quälenden Runden ließ er mich gnädig mit Schachmatt vom Kanthaken.

Eine letztlich faschistische Idee

Es ist eine Sportart, die so einzigartig wie logisch ist. Als ich den Berlin-Roman „Gehwegschäden“ schrieb, machte ich die Hauptfigur Thomas Frantz zum Schachboxer. Weil es die perfekte Beschäftigung der neuen Mitte schien, die ich beschreiben wollte: eine Generation, die, gut ausgebildet wie ebenso prekär, lernt, sich intelligent durchzuschlagen. Schachboxen ist eine Kommunikation. Nicht im Sinne von Du. Im Sinne von Ich.

Der zweite Kampf ist vollkommen anders. „He is hot at the chessboard“, kündigt Two Shoes den Amateurweltmeister Daniil Soloviev an. Der 22-jährige Russe ist 1,90 Meter groß, 80 Kilo schwer und trainiert täglich im Chess Boxing Club Moscow. Gegner Lukasz Zambrzycki, zehn Jahre älter, gehört zum polnischen Olympiakader der Boxer. Sein Kampfname ist „The Frog“.

„Sofort steht das Brett in Flammen, die hauen raus, als würden sie ne Bulette dabei essen“, kommentiert Ex-Bundesligaspieler Dillschneider. Gesucht wird: „The smartest, toughest man on earth“. So lautet das Logo der Wettkämpfe. Es ist eine letztlich faschistische Idee, einen größtmöglichen Geist in einem möglichst starken Körper zu erreichen. Sie entspricht einer Zeit des brutalstmöglichen Kapitalismus, und sie wandert um den Globus. In Indien wird Rubingh empfangen wie ein Guru und mit Blumen beworfen. Die Kinder Neu-Delhis treten zu Tausenden gegeneinander an. In London wirbt ein Plakat jeden Monat: „Chessboxing, cold Beer: 2 £“. Die Russen haben Schach wie Boxen mit der Muttermilch aufgesogen.

„Das macht einem fast Angst“

So zeigt Daniil die gute alte russische Schule. Beinarbeit vom Feinsten. Ein Feuerwerk im Ring wie auf dem Brett. Figur um Figur räumt er ab, landet schwere Treffer. Zweimal wird The Frog angezählt. In Runde sechs signalisiert der seiner Ecke: Werft das Handtuch. Er ist Profi genug zu wissen, dass er in keiner Disziplin mehr eine Chance hat.

Rubingh übernimmt das Mikro und kündigt vor dem Hauptkampf eine Überraschung an. Heute ist der französische Zeichner, Regisseur und Autor Enki Bilal im Publikum. Er sieht zum ersten Mal live, was er angezettelt hat. Denn das Schachboxen geht zurück in die Zukunft. 1992 brachte Bilal den letzten Band seiner dystopischen Graphic Novel „Ale­xander Nikopol“ heraus.

In „Äquatorkälte“ muss Nikopol in der Diktatur einer Eisstadt in Ostafrika einen Schachboxkampf bestreiten – auf Leben und Tod: „Ich wollte eine Gesellschaft karikieren, die den Menschen zu perfektionieren sucht. Was lag näher als eine Sportart, in der man zugleich intelligent und stark, strategisch wie kaltblütig sein muss? Schachboxen erschien mir wie eine Spitzenleistung der Menschheit, purer Geist im nackten Körper. Wie eine Statue des Nazi-Bildhauers Arno Breker. Das macht einem fast Angst.“

Bilal stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sein Vater war Partisan und Boxer unter Tito. Bilal studierte Kunst in Paris und wurde ein Star. Sein neuer Science-Fiction-Thriller „Bug“ steht in Frankreich seit Monaten auf der Bestsellerliste und erschien mittlerweile in Deutschland bei Carlsen. Die nächsten Bände plus TV-Serie sind bereits unterwegs. Auf Auktionen erlösen seine Bilder, großformatige Comic-Kunst, sechsstellige Summen.

Das Finale / Nikita Teryoshin

Schachboxen ist eine Utopie

Rubingh erzählt dem Publikum, wie er als Junge den Comic las und Enki Bilal 20 Jahre später anrief. „Wer hat’s also erfunden? Ich weiß es nicht“, sagt Rubingh und zieht Bilal in den Ring. Frenetischer Applaus. Und dann singt, nein brüllt Nana Mouskouri aus den Lautsprechern: „Guten Morgen, Sonnenschein!“

Mit dieser Melodie einzulaufen ist eine Kampfansage. Der finnische Lehrer Sakari Lähderinne, 28 Jahre alt, hat mehr als 100 Amateur- und Profikämpfe auf dem Konto. Weltmeister Sven Rooch, nur zwei Jahre älter, ist Feuerwehrmann in Berlin. Kluge Eröffnungen, schnelle Rochaden. Im Boxen ist Sven flink auf den langen Beinen, Sakari schlägt härter. Dann öffnet Sven den Königsflügel, wird angreifbar. Sakari gewinnt die nächste Boxrunde. Beide atmen schwer. Das Mittelspiel ist erreicht. Sakari vergisst, die Uhr zu schlagen und verliert Zeit. Schach gleich, Boxrunde gleich.

Sakari beißt zu wie eine Kobra. Sein Freibauer droht zur zweiten Dame zu werden. Plötzlich dreht sich das Spiel. Sven gewinnt einen Turm, bietet Schach. In der siebten Runde geht der Freibauer durch, aber die neue Dame fällt, gefolgt von einer Springergabel. Der Finne muss alles auf den K. o. setzen. Das Publikum fiebert am Ring, kann die Boxerstiefel fast berühren. Kopfstoß Sakari. Die Finnen sind hart, in der Ecke steht Wodka. Aber es ist nicht leicht, jemanden K. o. zu schlagen. Wenn man es krampfhaft versucht, klappt es fast nie. Sven weiß das, Sakaris letzte Sekunden laufen in der neunten Runde ab. Der Dresdner bleibt Champ.

„Das war’s Leute, die Party geht weiter“, sagt Two Shoes. Die Meute zieht an die Bar. Enki Bilal ist überzeugt: „Schachboxen wird olympisch. Es entspricht der griechischen Ur-Idee, einer Welt, die nicht virtuell ist. Eleganz. Gewalt. Konzentration. Und die Frauen sind da. Das ändert alles.“ Schachboxen ist eine Utopie. Nicht im Sinne von Morgen. Im Sinne von Jetzt.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie ab morgen am Kiosk oder heute schon in unserem Onlineshop erhalten.

 

 

 

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