Problemfall Sachsen - Schaut nur hin auf diese Menschen

Nach den Bundestagswahlen wurden die Ostdeutschen zum Problem erklärt. Doch weder ist es verboten, die AfD zu wählen, noch darf Demokratie zum Gunstbeweis der Regierenden werden. Ein Appell zur neuen Lage

Erschienen in Ausgabe
„Der Hass, der sich über die Sachsen ergoss, fiele eigentlich unter den Tatbestand des Rassismus“ / Christine Rösch
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Autoreninfo

Monika Maron ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ im Februar 2018.

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Nach der letzten Bundestagswahl mit den 13,2 Prozent Wählerstimmen für die AfD hallte mediale Empörung durch die Republik. Der Osten hatte die Wahl versaut, mehr als 20 Prozent hatten die AfD gewählt, im finsteren Sachsen hatte man ihr sogar zur Mehrheit verholfen. Nach 28 Jahren war also immer noch nicht zusammengewachsen, was angeblich zusammengehörte. Der Osten war demokratieunfähig, naziunterwan­dert, besonders die Männer, stand in den Zeitungen, ungebildet, arbeitslos, von den Ostfrauen verlassen, abgehängt eben.

Ich frage mich übrigens schon lange, warum die korrekten, genderbewussten Sprachverwalter, die bedenkenlos die deutsche Sprache massakrieren, um sie ihrer Vorstellung von der Welt anzupassen, warum diese Experten für sensible Sprache kein Gefühl haben für das Verächtliche und Gemeine, das dem Wort „abgehängt“ innewohnt. Während jeder illegale Einwanderer vor der Silbe „-ling“ bewahrt werden muss, weil sie ihn als irgendetwas diskriminiert, das ich nicht verstehe, und er darum als Geflüchteter oder Schutzsuchender bezeichnet werden muss, dürfen Millionen Amerikaner, Briten, Deutsche, wahrscheinlich auch Die Abgehängten im Osten also haben, wenn auch überwiegend aus Protest, die AfD gewählt und damit bewiesen, dass die Grenze immer noch verläuft, wo sie einmal stand, obwohl zwei Drittel der AfD-Stimmen aus dem Westen kamen, wo vier Fünftel aller Deutschen leben, von denen durchschnittlich auch 10 Prozent die AfD gewählt haben, aber eben nicht 20.

Hass auf die Sachsen

Der Hass, der sich tagelang über die Ostdeutschen, insbesondere die Sachsen ergoss, fiele nach den sonst üblichen Maßstäben eigentlich unter den Tatbestand des Rassismus. Jutta Ditfurth erklärte, es sei ein Fehler gewesen, Dresden wieder aufzubauen. Spiegel-Autor Hasnain Kazim twitterte: „Höre, ich solle Ostdeutsche ernst nehmen. Ihr kamt 1990 mit dem Trabi angeknattert und wählt heute AfD – wie soll ich euch ernst nehmen?“ Ansgar Mayer, Kommunikationsdirektor des Erzbistums Köln, schrieb: „Tschechien, wie wär’s: Wir nehmen euren Atommüll, ihr nehmt Sachsen?“ Die Beispiele ließen sich fortführen.

Nun ist die Frage, warum doppelt so viele Ostdeutsche eine nationalkonser­vative, an ihrem rechten Rand zum Extremismus neigende Partei wählen, ja berechtigt. Aber warum geben ausgerechnet Leute, die sonst so vehement für Vielfalt, sogar für Toleranz gegenüber mittelalterlichen religiösen Sitten und gegen Diskriminierung und Hass streiten, sich so wenig Mühe, eine Antwort zu finden, die mehr wäre als die mittlerweile inhaltslose Parole „Kampf gegen rechts“?

Vielleicht muss man zurückblicken auf die ersten Jahre unserer neuen deutschen Einheit, in denen sich das westdeutsche Bild vom Ostdeutschen geformt hat. Damals entstand das Bild vom Jammerossi, flankiert vom Ostdeutschen in seiner hässlichsten Gestalt, dem kahlköpfigen Neonazi. Wenn über die Ostdeutschen gesprochen oder geschrieben wurde, dann meistens über die 30 Prozent PDS-Wähler, nicht über die sonnabendlichen Autoschlangen auf allen Autobahnen von Ost nach West, wenn die Pendler zu ihren Arbeitsplätzen nach Bayern und Baden-Württemberg aufbrachen, nicht über die waghalsigen Neugründer oder die Akademikerinnen, die erst mal bei der Post die Päckchen sortierten. Statt sich mit jener Hälfte der Ostdeutschen zu verbünden, der die gewonnene Freiheit das Opfer wert war, das sie kostete, buhlte man um die hartleibigsten Anhänger und Nutznießer der Diktatur, spreizten sich Egon Krenz, Hermann Kant und Gregor Gysi in den Talkshows und forderten ihr demokratisch garantiertes Rederecht ein. Während Erich Mielke nicht für die Verbrechen als Minister für Staatssicherheit belangt werden konnte, sondern nur für einen 60 Jahre zuvor begangenen Polizistenmord, jagte man den kleinsten und erbärmlichsten Stasispitzel, der das Bild vom Ostdeutschen komplettierte: Jammerossi, Neonazi, Stasispitzel.

Die Karikatur, die der Westen vom Osten zeichnet

Im Rest sah man Opfer: Opfer der Treuhand, Opfer von Kohl, Opfer der eigenen Leichtgläubigkeit. Die Westdeutschen kamen in den Osten als Politiker, Professoren, Spekulanten, Richter, Investoren, in jedem Fall als Erwachsene. In den Ostdeutschen sahen sie Menschen, denen man helfen musste oder die man übers Ohr hauen konnte, die man belehren oder bekehren oder bestrafen musste, auf jeden Fall Unterlegene. Das war der Humus, auf dem etwas wuchs, das es vorher nicht gegeben hatte: die DDR-Identität und mit ihr die DDR-Nostalgie, die lächerlich und peinlich war, aber der erste lebendige Reflex auf die Karikatur, die der Westen vom Osten gezeichnet hatte.

Inzwischen ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Es sind noch einmal drei Millionen Ostdeutsche gen Westen gezogen, wo sie, wenn nicht ihr Dialekt sie verrät, womöglich gar nicht als solche auffallen, was nebenbei zur Frage führt, was der über Facharbeitermangel klagende Westen ohne die gut ausgebildeten Ostdeutschen gemacht hätte. Es gab in den vergangenen Jahren viele empörende Äußerungen über den Osten, zu den absurdesten gehört die Gleichsetzung der Flüchtlinge mit den Ostdeutschen, die auch in die Bundesrepublik irgendwie eingewandert seien. Als hätten nicht die Ostdeutschen 40 Jahre lang die Strafe für die gemeinsame deutsche Geschichte abgesessen, als sprächen sie nicht die gleiche Sprache und hätten nicht die gleichen Märchen gelesen, als hätten sie nicht ihr ganzes Land, ihre Häuser, Wohnungen und Berufe mitgebracht.

Hier spätestens muss von den westdeutschen Linken gesprochen werden, den leidenschaftlichsten Gegnern der deutschen Einheit. Oskar Lafontaine war sie zu teuer, andere malten das Gespenst von „Großdeutschland“ an die Wand, jeder Zweite erklärte mir damals, mit jedem Italiener oder Franzosen verbinde ihn mehr als mit diesen Ostdeutschen, was ich zuweilen sogar verstehen konnte, weil ich selbst ja gerade noch froh gewesen war, dieses miefige Land hinter mir gelassen zu haben. Und nun war sie plötzlich wieder da, die unelegante, kleinbürgerlich-proletarische Alltagswelt der DDR. Wenn die Behauptung von der Diktatur des Proletariats mehr war als ein verlogener Trost für die eingemauerte Arbeiter- und Bauernklasse, dann nur in Bezug auf den herrschenden Geschmack, die rudimentären Umgangsformen und die Verachtung der Intellektualität.

Blasiertes Bildungsbürgertum

Das Bildungsbürgertum und damit seine geschmacksbildende Funktion war zum großen Teil vor dem Mauerbau abgewandert. Auf den proletarisch geprägten Rest traf die westdeutsche polyglotte bürgerliche Elite, die immerhin genügend Anstand besaß, diesen zurückgelassenen Teil Deutschlands als Aufgabe zu begreifen. Die Linke, deren nicht geringer Teil zuvor in der DDR noch das bessere Deutschland erkannt hatte, gönnte den 17 Millionen die gewonnene Freiheit, schlug die Verwandtschaft mit diesen einheitsbesoffenen, westmarksüchtigen und fremdenfeindlichen Kleinbürgern aber aus. Vielleicht erinnerten die sie an die eigene, überwundene Vergangenheit, an die fünfziger und sechziger Jahre, als die eigenen Eltern die Italiener noch Spaghettifresser und alle Türken Ali genannt haben.

Vielleicht dachten sie auch daran, wie sie, ehe sie ihren Marsch durch die Institutionen antraten, als junge Marxisten, Maoisten oder Trotzkisten morgens vor den Werktoren ihre Flugblätter an die revolutionsunwilligen Arbeiter verteilt und bestenfalls ein abfälliges Lächeln geerntet haben. 1990 hatten sie den Marsch durch die Institutionen hinter sich. Sie waren Professoren, Lehrer, Minister, Journalisten, Lektoren, Intendanten, sie hatten eine ganze Generation in ihrem Sinne erzogen. In den unerzogenen Ostdeutschen mögen sie ihr altes Feindbild wiedererkannt haben, die feige, vom Nationalsozialismus entwürdigte Elterngeneration, auferstanden in den ebenso feigen, von der sozialistischen Diktatur entwürdigten Ostdeutschen. So ließe sich die immer wieder aufflammende, von keiner Selbstkritik gebändigte Verachtung erklären, die sich in den Medien über „den Ostdeutschen“ ergießt, sobald im Osten etwas geschieht, was sich der meinungsführende Westen nicht erklären kann.

Im Herbst 2014, als die Flüchtlingskrise sich schon andeutete und die AfD ein Jahr alt war, begannen in Dresden die Pegida-Demonstrationen gegen die Islamisierung Europas. Ehe überhaupt klar war, wer wogegen jeden Montag auf die Straße ging, woher der Unmut und die Wut kamen, die sich in den Parolen „Lügenpresse! Lügenpresse“ und „Wir sind das Volk“ entluden, war sich die mediale Öffentlichkeit einig, dass es sich nur um einen Abschaum aus Rassisten, Fremdenfeinden, wahrscheinlich Nazis handeln konnte. Ich bin dann einmal nach Dresden gefahren. Eine sympathische Veranstaltung war es nicht, auch weil grölende Menschenmassen nie sympathisch sind. Es war aber auch keine Naziversammlung, eher der Querschnitt durch die nichtakademische Bevölkerung, die im Schutz der Masse ihren Protest behauptete, wozu der Einzelne vielleicht den Mut nicht fand.

Die Ostdeutschen spüren die Meinungsmacht

Die Ostdeutschen hatten bis 1989 mit der Demokratie eine einzige Erfahrung gemacht: Man konnte eine Regierung verjagen, indem man auf die Straße ging. Sie waren ungeübt in der öffentlichen Rede, hatten keine Erfahrung in dem, was man im Westen demokratische Basisarbeit nennt. Aber sie waren 1989 auf die Straße gegangen, riefen „wir sind das Volk“, und die Geschichte gab ihnen recht. Die Ignoranz gegenüber der Stimmung, die sich in der Pegida-Bewegung laut und auch grob Luft verschaffte, die arrogante Diffamierung, mit der die Unzufriedenheit zurückgewiesen wurde, trieb der Pegida die Anhänger zu und trug zur Radikalisierung bei.

Die Ostdeutschen waren froh, von der peinlichen Bezeichnung „DDR-Bürger“ erlöst und endlich einfach Deutsche in Deutschland zu sein. Auch das unterschied sie von den westdeutschen Linken, die eher Sympathie für Sprüche wie „Deutschland verrecke!“ oder „Nie wieder Deutschland“ aufbrachten als für deutsche Heimatliebe; die offenbar eine größere Nähe zu Hunderttausenden von einer frauenverachtenden, antisemitischen Religion geprägten jungen Männern empfanden als zu ihren ungehobelten, atheistischen Landsleuten, die durch diese anschwellende und fordernde Religion bedroht sahen, was sie gerade gewonnen hatten.

Dann kam der Sommer 2015, und Deutschland wurde vom Willkommenswahn befallen. In jenem Jahr saß ich an einem Spätsommerabend mit Freunden unter dem vorpommerschen Himmel und gestand, dass ich zum ersten Mal seit dem Mauerfall von einem Gefühl heimgesucht wurde, wie ich es nur aus meinem Leben in der DDR in Erinnerung hatte, eine wütende Ohnmacht gegenüber einer diktatorischen Meinungsmacht, die jedem Widerspruch die Feindschaft erklärte. Mit dem Gefühl war ich an diesem Abend und auch später nicht allein. Den Ostdeutschen mag es an demokratischer Erfahrung mangeln, an Erfahrung mit einer Diktatur aber nicht.

Sie sind empfindlich, wenn ihnen wieder Sprachregelungen vorgeschrieben werden, wenn Meinungen nicht verboten sind, aber als unaussprechlich gelten, wenn man sich wieder vorsichtig des anderen vergewissert, ehe man offen spricht. Wenn sie lesen, dass einer zugelassenen Partei die Versammlungsräume verweigert werden, ihren Funktionären die Autos abgefackelt und sie selbst zusammengeschlagen werden, schrillen die angerosteten Alarmglocken. Und wenn sie sehen, dass die Parteien einander zum Verwechseln ähnlich werden, die Opposition im Bundestag als Verstärker der regierenden Mehrheit dient, wenn die Abgeordneten wie in der Volkskammer die Arme heben statt zu debattieren, dann fällt ihnen das Wort Einheitspartei wieder ein. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten zwei Jahren gestöhnt habe: Mein Gott, hier geht’s ja zu wie im Osten.

Misstrauen gegenüber ideologischer Bevormundung

Die letzte Wahl war eine Zumutung für jeden, der nicht noch einmal vier Merkel-Jahre erleben wollte, denn egal welche Partei man wählte, am Ende würde man Merkel gewählt haben. Merkel aber stand für eine kastrierte CDU, die in den wichtigsten Themen, Einwanderung, Energie, Euro, dem links-grünen Mainstream keinen Widerstand bot, sondern sich in Gestalt ihrer Vorsitzenden an dessen Spitze gestellt hatte. Wer gegen diese von den Parteien verschuldete Alternativlosigkeit protestieren wollte und sich von den extremistischen Parolen mancher ihrer Mitglieder nicht abschrecken ließ, wählte die AfD, die einzige Partei, mit der die CDU nicht koalieren würde. Der Protest galt der unkontrollierten Immigration, dem rücksichtslosen Windrad­ausbau, der Verödung ländlicher Gegenden, vor allem aber der Ignoranz und Verachtung gegenüber denen, die man „die Abgehängten“ nennt, die nur zu blöd sind, um die Folgen der Globalisierung zu verstehen, deren Nutznießer sie nicht sind, weil sie die Sesshaften sind, gebunden an ihre Berufe und Familien, von denen aber alle, auch die polyglotten Eliten leben, von den Handwerkern, Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Eisenbahnern, Landwirten.

Dass im Osten doppelt so viele Menschen die AfD gewählt haben, liegt auch an der proletarischen Vergangenheit und einem alten Misstrauen gegenüber ideologischer Bevormundung. Vielleicht sind die Ostdeutschen allmählich abgestumpft gegen den Vorwurf des Rechtsradikalismus und der Fremdenfeindlichkeit, weil ganz Sachsen oder sogar der ganze Osten in Haftung genommen wird, sobald wirkliche Neonazis ein Flüchtlingsheim angezündet oder pöbelnde Mengen die Kanzlerin niedergebrüllt haben.

Selbst Angela Merkels diktatorischer, rhinozeroshäutiger Regierungsstil wird ihrer DDR-Herkunft zugeschrieben, als hätte die CDU sie nicht über ein Jahrzehnt wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Sind deren Mitglieder alle aus dem Osten? Was ist mit den Bayern und den grün-schwarz regierten Baden-Württembergern, die trotz ihres Wohlstands mit über 12 Prozent AfD gewählt haben? Was mit den Millionen Überläufern von CDU, SPD und Linken zur AfD? Alles Nazis, alles Fremdenfeinde?

Wer die Ursachen für die versaute Wahl nur im Osten sucht, wird die richtige Antwort nicht finden; und auf Jamaika, so ist zu befürchten, auch nicht.

Dies ist ein Artikel aus der Dezemberausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.










 

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