Roman - Jedes Wollen ist verkleidetes Müssen

Der Autor und Regisseur Oskar Roehler überzeugt als behutsamer Chronist der sechziger Jahre. Seine Roman "Der Mangel" erzählt die Geschichte einer Kindheit in der Provinz und liefert lebenskluge Einsichten.

Mangel, Dreck und menschliche Schwäche sind die Zutaten von Oskar Roehlers alternativer Nachkriegshistorie / Christine Roesch
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Drei Jahre sind seit dem letzten Roman Oskar Roehlers verstrichen. Es handelte sich, wie oft auch beim filmischen Werk des Regisseurs Roehler, um eine grelle Groteske vor autobiografischem Hintergrund: In „Selbstverfickung“ stolperte 2017 ein egomaner Regisseur durch Berlin, scheiterte an seiner Entscheidungsunfähigkeit, räsonierte bitter über kriecherische Künstler und „schrieb endlich den seit drei Jahrzehnten aufgeschobenen Roman seiner Kindheit und begriff, dass die Filmerei nur eine Zwischenstation gewesen war“. Nun liegt der damals in fiktionalem Rahmen angekündigte Kindheitsroman tatsächlich vor. Er spielt in der fränkischen Provinz der Jahre 1962 bis 1966, heißt „Der Mangel“ und ist eine sehr faszinierende Lektüre.

Vor den Kindern sterben die Eltern, meistens jedenfalls. Deshalb ist „Der Mangel“ zunächst die Geschichte einer Mutter, eines Vaters, eines Lehrers, einer Vätergeneration. Oskar Roehler erzählt aus der Perspektive von Außenseitern, die nicht dazugehörten, weil sie erst dazustießen. Eltern und Großeltern waren Vertriebene. Der Krieg hatte sie nach Franken geweht, ins neue Westdeutschland. Niemand hatte auf sie gewartet, auf „die Sudetendeutschen, die Zuwanderer aus Ostpreußen, aus Pommern und Schlesien (…). Ihr Land lag hinter einem etwa 25 Kilometer entfernten Grenzzaun aus Stacheldraht, bewacht von sowjetischen Panzern.“

Paradox und lebensklug

Und kein Franke war erpicht auf seine neuen Brüder und Schwestern, auf neue Teilhaber am Wirtschaftswunder. Dessen Zutaten sind hier alle präsent: Der Opel Rekord, der Anzug aus Trevira, die Gelbwurst auf dem Teller, die Pomade von Schwarzkopf, das Porzellan von Hutschenreuther, das Hattric-Rasierwasser, die Salamander-Schuhe. Man war glatt rasiert, man rauchte, man trug Zweireiher oder Kleider, man riss sich zusammen, man alterte und schwieg nebeneinander. Man lebte in Neubausiedlungen.

So mussten sie auf der Hut, immer auf der Hut sein, die Mütter, die den Mangel verwalteten, und die Väter, diese weichen Einzelgänger, zaudernden Melancholiker, kein Mannsbild, keins. Was nach einem Kalauer klingt, ist die denkbar sinnigste Verschränkung von Geografie und Mentalität. Hut heißt nämlich der Hügel oberhalb und außerhalb von Forchheim, auf dem die Siedlung entstand, „eine Ansammlung kleiner, neuer Häuser (…), nach dem Reißbrett entworfen“, Glasbausteine inklusive. Dort wächst der Ich-Erzähler auf; sagen wir ruhig, obwohl der Name nie fällt: der kleine Oskar. Dort lernt das drei- bis siebenjährige Kind Freiheit aus Zwang und Kunst aus Not kennen. Dabei sollte es ein ganzes Leben bleiben. Schönheit gedeiht, weil nirgends sonst Trost ist, und Freiheit ist der Lohn, wenn man auf Wahl verzichtet. Jedes Wollen ist ein verkleidetes Müssen. So paradox diese Erkenntnis anmutet, so lebensklug ist sie – wie dieses Buch.

Sich den Abgründen stellen

Die Kinder der Hut müssen auf vieles verzichten. Einzeln zählt die Mutter die Kartoffeln ab. Nur am Wochenende ist der Vater zu Hause. Montag bis Freitag fährt er als Handelsvertreter für Märklin durch die fränkischen Lande, was dem introvertierten Sudetendeutschen schwerfällt. Die Mutter geht derweil putzen und einkaufen, arbeitet halbtags als Buchhalterin. Söhne und Töchter spielen draußen, graben mit den Händen im Lehm einer Baugrube, treiben das Loch in die Erde oder lauschen dem sonderbaren Nachbarn, Herrn Arendt. Durch ihn wird beim kleinen Oskar das Lesen zur einzigen Pflicht, der er gehorcht, weil er es muss. Sonst hielte er es nicht aus mit seinen Albträumen, seiner Schlaflosigkeit, nicht aus in Vorschule und Grundschule. Dort wird er von der Lehrerin gedemütigt, weil er Linkshänder ist.

Schwachen Vätern, strauchelnden Mitläufern des Wirtschaftswunders, setzt Roehler ein Denkmal. Dem Vater des Erzählers, 1928 geboren, „Kindersoldat“ im Dritten Reich, von dem es später heißt, er sei nicht der biologische Vater. Rückblickend nennt der Erzähler die vier Jahre auf der Hut glücklich und beglaubigt die Formulierung aus dem Vorgängerroman, „er wünschte sich zurück in die schützenden Arme der Vergangenheit“. Die Kräfte, welche die Kindheit später entfalten sollten, waren jedoch schlammgeboren. Der Gang der Kinder zum Lehm bildet das künstlerische Vorgehen ab und zeigt, mit welch erzählerischer Raffinesse „Der Mangel“ gestrickt ist. Sich den Abgründen stellen, sie vertiefen muss, wer sie beherrschen will. 

Chronist einer alternativen Historie

Sind es nicht die erfahrenen, die im Leib erlittenen Dämonen, sind es jene der Dichter. Dass auch gute Geister wohnen in Büchern, war die Lehre des Herrn Arendt von nebenan, des Vaters der Spielkameraden Thomas und Andreas. Der „Steinerschüler“ hielt abendlich ein Propädeutikum im Vorgarten ab. „Er bediente den Freiheitswillen unserer Körper“, indem er den kindlichen Seelen Nahrung gab. Die Texte von Wordsworth und Keats und Beckett, die Arendt ihnen vorsetzte und die sie nachsprachen, verstanden die Knaben und Mädchen nicht. Sie wurden gezielt überfordert. Die „Magie der Sprache“ ergriff sie aber. Ihr setzten sie sich aus, wuchsen am Zu-Großen empor. Ein Plädoyer gegen pädagogischen Egalitarismus ist „Der Mangel“. 

Die Heimkehr in die Kindheit markiert zugleich eine Verwandlung des Erzählers. Gregor Samsa hieß der egomane Regisseur, der seine „Selbstverfickung“, die Abkehr vom Mainstream, mit der Exkommunikation aus dem Kunstbetrieb bezahlte. Das war damals als Witz gedacht und könnte trotzdem stimmen. Gerade verfilmte Roehler das Leben Rainer Werner Fassbinders, abermals die Geschichte eines Exzentrikers. „Der Mangel“ rekapituliert nun das Wirtschaftswunder entgegen der üblichen Deutung als „Epoche der Ernüchterung“. Es war die Zeit nicht nur wachsender Leibesfülle, sondern auch steigender Enttäuschungen. Da lebte unverbunden nebeneinander her, was nicht schnell zusammenwuchs, „richtige“ und zugewanderte Deutsche. 

Oskar Roehler verwandelt sich mit dieser Geschichte einer aus Not und Notwendigkeit geborenen Künstlerwerdung in den behutsamen Chronisten einer alternativen Historie. In ihr siegt trotz mancher sprachlichen Grellheit innere Bildung über äußeres Spektakel. Sensationell ist hier das Leise, laut der Herzschlag.

Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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