Reformierung der EU - Sauerstoff statt Stacheldraht für Europa

Damit Europa zu dem wird, was den Bürgern einst versprochen wurde, muss sich die Europäische Union grundlegend verändern. Nur wer sich zu ihr bekennt, sollte Mitglied bleiben, schreibt Matthias Strolz, Vorsitzender der österreichischen Partei Neos

Das Versprechen eines demokratischen Europas muss erneuert werden, damit es wieder leuchten kann / picture alliance
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Matthias Strolz ist Vorsitzender von NEOS, der liberalen Partei in Österreich. Foto: picture alliance

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Voller Herausforderungen war das Jahr 2016 für den europäischen Zusammenhalt. Die von Rechtspopulisten vieler Länder vorangetriebene Rückbesinnung auf den Nationalstaat droht, die Union zu einer Schrebergartensiedlung zu machen, in der man schon nervös wird, wenn auch nur ein Ast vom Nachbargrundstück über den Zaun hängt. Diese Entwicklung, gepaart mit der Flüchtlingsfrage und dem geplanten Austritt der Briten hat die Europäische Union erschüttert, ihre Zielstrebigkeit und ihr Selbstwertgefühl enorm geschwächt. 

Wenn es aber möglich ist, dass sogar im eher euroskeptischen Österreich ein Kandidat mit einer pro-europäischen Haltung zum Präsidenten gewählt wird, scheint es nach wie vor den Wunsch nach europäischem Zusammenhalt und Kooperation zu geben. Allerdings macht sich gleichzeitig ein ausgeprägter Bedarf nach einer Reformierung der Europäischen Union bemerkbar. Das Versprechen eines demokratischen Europas der Bürger, das den Anfängen der Europäischen Union zugrunde liegt, wurde in vielerlei Hinsicht nicht gehalten. Die Enttäuschung darüber sitzt tief und muss durch ein neues Narrativ und eine neue institutionelle Struktur abgelöst werden, bevor die dringend notwendige weitere Integration dieses Europas stattfinden kann.

„Europäische Republik“ der Regionen

Aus meiner Sicht ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer „europäischen Republik“. Das bedeutet, dass aus einem Zusammenschluss von Nationalstaaten eine Republik der europäischen Bürger werden soll. Jeder Bürger einer solchen Gemeinschaft soll den gleichen Pass besitzen. Alle sind in ihren Rechten und Pflichten gleichgestellt. Nur daraus kann eine so dringend benötigte europäische Solidarität wachsen. Auf diesem Grundstein kann dann weiter aufgebaut werden, um Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu finden und um Chancen, die sich aus Phänomenen wie Globalisierung und Digitalisierung ergeben, zu nutzen. 

Eine solche Republik würde von starken Regionen getragen, statt von dem ohnehin längst nicht mehr zeitgemäßem Konstrukt des Nationalstaats. Gleichzeitig müssten die großen Herausforderungen wie Sicherheit, Außenpolitik und die Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik gemeinsam organisiert werden. Die Bürger müssten sich somit nicht zwischen Wurzeln und Flügeln entscheiden, wie dies von Rechtspopulisten oft suggeriert wird. Statt eines artifiziellen Konstruktes, wie es die Nationalstaaten nun einmal sind, käme dann den Regionen, wo die Bürger ihre Wurzeln haben, eine größere Bedeutung zu. Gleichzeitig könnten diese sich dazu aufschwingen, neue und mutigere Schritte bei gemeinsamen Kernthemen zu wagen.

Schmerzhafte Transformation

Eine solche europäische Republik kann aber erst ins Leben gerufen werden, wenn klar ist, wer sich zu ihr und somit zu engerer Kooperation bei wichtigen Themen bekennt, und wer lieber ein paar Runden aussetzt. Die jüngsten Eskalationen der europäischen Politik – spricht man nun von der Flüchtlingsfrage – von regionalen Konflikten oder von Terroranschlägen in Europa, sind Wunden, die uns so weiter zugefügt werden können. Wie jede Verletzung aber, geht mit ihnen auch ein Lernprozess einher, der uns irgendwann zu einem stärkeren Kerneuropa führen wird. Sicher ist, dass in diesem Nukleus nicht mehr alle heutigen 28 EU-Staaten vertreten sein werden. Nur für jene, die sich zur „ever closer union“, wie es auf Englisch heißt, also zu einer sich ständig weiter integrierenden Union bekennen, hat es einen Sinn, für diese auch eine gestalterische Rolle zu übernehmen.

Eine solche Transformation der Europäischen Union wird nicht ohne Wachstumsschmerzen passieren können. Sie wird in kleineren und größeren Einzelschritten stattfinden müssen. Grenzen müssen dafür Schritt für Schritt verschwinden, Kompromisse gefunden werden, etwa wenn es darum geht Wahl- und Steuersysteme an einander anzunähern, um eine Gleichstellung der Europäer bei der Ausübung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten zu erreichen. 

Notwendige Verlässlichkeit

Gleichzeitig steckt in einem solchen Wandel aber auch viel Hoffnung und die große Chance darauf, die europäische Idee mit neuem Sauerstoff zu versorgen, damit sie wachsen kann und stärker wird, anstatt sie für immer unter Stacheldraht zu begraben. Der Kern des europäischen Gedankens und die Grundbedingung aller europäischer Solidarität ist die Notwendigkeit sich auf einander verlassen zu können. Dafür wiederum ist es nicht zuträglich, wenn die einen mehr Europa wollen, die anderen weniger und wieder andere überhaupt nichts mehr mit dem europäischen Projekt zu tun haben möchten. Es gilt also auch, nur mit jenen in ein gemeinsames Boot zu steigen, die nicht ständig damit beschäftigt sind, Lecks zu verursachen, um damit kurzfristige Wahlsiege zu erringen, statt an der Zukunft Europas mitzubauen. 

Ist die Spreu einmal vom Weizen getrennt, ist es höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen und mit der Reformierung der europäischen Institutionen zu beginnen. Eine klare Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive ist unerlässlich. Am Ende eines jeden Gesetzgebungsprozesses muss klar sein, wer für diesen verantwortlich ist. Die europäische Republik braucht eine von den Bürgern direkt gewählte Regierung und einen Gerichtshof, der auf die Einhaltung ihrer Gesetze und Verträge achtet. Erfolgt die Wahl für die Machtpositionen dieser neuen Union erst einmal direkt, so sind auch europäische Institutionen und ihre Politiker gezwungen, sich mehr und besser zu erklären und sich um das Wahlvolk zu bemühen, als dies jetzt der Fall ist. 

„Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, sagte einst Jacques Delors. Doch in ein Europa der Freiheit, der Einigkeit und Solidarität, das sich nicht vor der Modernisierung versteckt, sondern ihre Herausforderungen mutig annimmt, kann man sich schon verlieben. Fangen wir also lieber heute als morgen an, es zu bauen. 

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