Hamed Abdel-Samad über Rassismus - Wenn sich Antirassisten wie Rassisten verhalten

Hamed Abdel-Samad hat ein neues Buch über Rassismus und Antirassismus geschrieben. Darin plädiert er dafür, die Grabenkämpfe hinter sich zu lassen und den Blick wieder mehr auf den Einzelfall zu richten.

Black Lives Matter-Demo / dpa
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Autoreninfo

Hamed Abdel-Samad ist ein deutsch-ägyptischer Politikwissenschaftler, Historiker und Autor.

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Hamed Abdel-Samad ist ein politischer Intellektueller, der sich immer wieder gegen Skandalisierungen zur Wehr setzen muss. In seinen Einsprüchen und Stellungnahmen plädiert er für eine emanzipierte und kulturell vielfältige deutsche Gesellschaft und kritisiert den konservativen und politischen IslamIn seinem morgen erscheinenden neuen Buch „Schlacht der Identitäten“ entwickelt er 20 Thesen zum virulenten Streit um Rassismus und Antirassismus, nicht nur, aber auch in Deutschland. Cicero publiziert hier einen Auszug aus zwei seiner Thesen.

These 8: Wenn Antirassisten sich wie Rassisten verhalten 

Rassismus spaltet und vergiftet jede Gesellschaft, weil er die Sünden dieser Gesellschaft und die Wunden seiner Geschichte offenlegt. Oft geht man unverantwortlich mit diesen Sünden und mit diesen Wunden um. Die einen fliehen in Schuld und Scham, die anderen fliehen in Leugnen und Verklärung der eigenen Vergangenheit. Der Rassismus unterteilt die Menschen in Rassen, Ethnien und Religionen und polarisiert die Gesellschaft, nicht nur ideologisch. Er sieht den Menschen nicht als Individuum, sondern als Vertreter einer Gruppe. Er überhöht die eigene Gruppe und verachtet die andere, er schürt Hass und legitimiert Gewalt gegen andere.

Antirassismus sollte eigentlich genau das Gegenteil davon tun, nämlich sich von diesem ideologischen Grabenkampf distanzieren und den Menschen als Individuum würdigen und ermächtigen, unabhängig davon, zu welcher Ethnie oder Religion er gehört. Doch oft bedienen sich Antirassisten leider der gleichen Mittel wie die Rassisten selbst. Sie polarisieren, indem sie die Gesellschaft in Gut und Böse einteilen. Sie überhöhen die eine Gruppe und verachten die andere, sie grenzen Andersdenkende aus und sind im Namen der Toleranz vor allem eines: intolerant. Denn sie verengen das Spektrum dessen, was gedacht, gesagt oder getan werden darf auf eine Weise, dass jede Abweichung davon mit der Moralkeule gegeißelt wird. Sie sind schließlich die Guten, sie geben den Diskurs vor, und merken in ihrem Eifer gar nicht, dass auch sie einen Mechanismus bedienen, der Rassismus zugrunde liegt: die Zuordnung von Individuen zu vermeintlich homogenen Gruppen.

Und so kann auch vermeintlich gut Gedachtes ins Gegenteil umschlagen. In Kanada und den USA setzten sich beispielsweise Aktivisten der queeren Community dafür ein, die Regenbogenfahne um die Farben Schwarz und Braun zu erweitern – als sichtbares Zeichen der Integration von People of Color. Ursprünglich steht die Fahne für Veränderung, Aufbruch, Frieden, Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt. Sie besagt, wir interessieren uns nicht für deine Herkunft oder gar Hautfarbe, sondern für alle Menschen in ihrer Vielfalt. Indem man die schwarze und braune Farbe zur Regenbogenflagge hinzufügt, beschädigt man genau diese Idee.

So gesehen hat Antirassismus das Potenzial, die Gesellschaft auf ähnliche Weise zu spalten wie der Rassismus selbst. Weil es eben nicht um die Menschen geht, sondern um die Attribute, die man ihnen zuschreibt. Und um Ideologien, die man – als falsch oder richtig erkannt – wahlweise verurteilt oder als einzig richtigen Weg preist. Die Abweichung von diesem Weg führt einmal mehr zu Ab- und Ausgrenzung. Damit Sie mich hier richtig verstehen: Wenn ich von Antirassisten spreche, meine ich natürlich nicht all jene Menschen, die Rassismus bekämpfen und sich für die Opfer einsetzen. Wenn ich von Linksliberalen spreche, meine ich gleichermaßen nicht all jene Menschen, die sich im politischen Spektrum als links oder liberal einordnen würden. Gemeint sind jene verbohrten Aktivisten, die maßgeblich aus ideologischen Gründen agieren, dem berechtigten Kampf gegen Rassismus damit aber einen Bärendienst erweisen. Gemeint sind auch Menschen, die sich weigern, mit AfD-Wählern zu reden, aber sich mit rechtsradikalen Migrantenverbänden verbünden und ihnen sogar Zugang zu staatlichen Fördergeldern ermöglichen. Diese Antirassisten glauben, Minderheiten zu schützen, indem sie Lesungen von Thilo Sarrazin, Vorlesungen von Bernd Lucke oder Jörg Baberowski sabotieren. Ein Kennzeichen einer freien demokratischen Gesellschaft ist es eigentlich, andere Meinungen zu tolerieren. Meinungsvielfalt heißt, sich mit anderen Auffassungen argumentativ auf der Sachebene auseinanderzusetzen. Denk- und Redeverbote sind hingegen eher Kennzeichen diktatorischer Systeme. Und sie im Namen der Toleranz und zum Schutz von Minderheiten zu erteilen, erstickt jede offene Diskussion im Keim. Ja, schlimmer noch, sie spielt letztlich nur den Extremisten in die Hände. Beim politischen Islam etwa, indem Kritiker mit dem Vorwurf der Islamophobie und Muslimfeindlichkeit überzogen werden. Und das in einer Absolutheit, die der Komplexität dieses Themas in keiner Weise angemessen ist. Man könnte auch sagen, hier geht Reflex vor Reflexion.

Wie schnell das gehen kann, habe ich selbst mehrfach erlebt. So hat die Asta der Universität Mainz der „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“ den Status einer Hochschulgruppe entzogen, weil sie mich 2018 zu einem Vortrag an der Uni eingeladen hatte. In der Begründung hieß es, ich sei islamophob und antisemitisch. Drei Jahre zuvor hatte mir die jüdische Gemeinde Düsseldorf die Josef-Neuberger-Medaille für meinen Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus verliehen. Aber das wussten die Ideologen der Mainzer Asta offenbar nicht. Sie wussten nur, dass ich den Islam kritisiere und deshalb ein Rassist sein muss. Und sie bestraften die Hochschulgruppe für diese „Kontaktschuld“ in einer Art und Weise, wie das früher die Faschisten mit ihren ideologischen Gegnern taten und wie das heute mit der sogenannten Cancel Culture eine neue Blüte erlebt. 

In jenem Jahr, in dem ich mit der Josef-Neuberger-Medaille ausgezeichnet wurde, haben mich Mitglieder der Antifa vor einer Lesung in München mit brennenden Kerzen beworfen. Einer versuchte, mir ins Gesicht zu schlagen, und nannte mich „Faschist“, weil ich ein Buch geschrieben hatte, in dem ich den Propheten Mohammed kritisiere. Der junge Mann merkte nicht, dass er und seine Mitstreiter*innen sich einer Form der Einschüchterungstaktik bedienten, die auch die Faschisten und Nationalsozialisten genutzt hatten und die heute noch in vielen undemokratischen und diktatorischen Systemen angewandt wird. Jemanden verbal oder sogar tätlich daran zu hindern, eine Meinung zu äußern, trägt nicht zur Lösung eines Problems bei. Und Kräfte, die glauben, sie allein könnten Kontexte definieren, agieren zutiefst undemokratisch.

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These 14: Die Rassismus-Industrie: Wer davon profitiert, dass wir ein Rassismusproblem haben

Verfolgt man die aktuelle Debatte, kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass uns das Thema auch deshalb noch lange begleiten wird, weil es vielen ganz unterschiedlichen Gruppen eine Art Existenzberechtigung sichert. 

Rechte Gruppierungen brauchen Minderheiten, insbesondere Migranten, als Projektionsfläche für ihre Wut- und Hass-Politik. Viele Antirassisten positionieren sich in Abgrenzung zu ihren ideologischen Gegenspielern im rechten Lager, die sie manchmal mit härteren Bandagen bekämpfen als den Rassismus selbst. Sie verwalten ihn eher und versuchen, sich als Schutzmacht der Opfer zu profilieren. Das ist aller Ehren wert, trägt aber häufig nicht dazu bei, die Opfer zu ermächtigen. Ähnliches gilt für viele Migrantenverbände, die durch Klagen über Rassismus und Islamophobie hoffen, noch mehr Fördergelder vom Staat zu erhalten, und die oft sogar die Interessen ausländischer Regierungen oder extremistischer Organisationen mit der Rassismuskeule durchboxen. Damit haben sie das Misstrauen gegen Migranten, insbesondere muslimische, nicht beseitigen können. Vielfach kann man den Eindruck gewinnen, sie hätten nicht wirklich ein Interesse daran, die Lage zwischen muslimischen Communitys und der Mehrheitsgesellschaft zu verbessern, sondern aus dem Status quo Kapital zu schlagen. Und auch jene, die als Beispiele für gelungene Integration gelten, Kinder von Migranten, die es „geschafft“ haben, die sich etabliert haben, werden nur selten zur Stimme jener, die in dieser Debatte keine Stimme haben.

Die Journalistin Canan Topçu bemerkte zurecht in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 1. Oktober 2020 mit dem Titel „Nicht mein Antirassismus“, dass die Rassismusdebatte auf eine Weise von einer Elite dominiert und instrumentalisiert wird, die einen konstruktiven Diskurs unmöglich macht. Wut, Anklagen und pauschale Verurteilungen, so Topçu, würden dazu führen, dass auch berechtigte Kritik mit der Zeit auf Ablehnung stoße. Der allgemeine Rassismusvorwurf brandmarke nicht nur „aktive Rassisten oder unbekümmerte Unsensible, sondern stößt auch alle jene vor den Kopf, die guten Willens sind“. Damit gängele man auch jene Menschen, die eigentlich Verbündete im Kampf gegen Rassismus sein müssten. „So scharf wie sie derzeit geführt wird, wird die Rassismusdebatte nicht dazu beitragen, Ungerechtigkeiten zu verringern. Im Gegenteil: Sie verhärtet die Fronten, wie ich im Privaten und im Beruflichen feststelle. Das unbefangene Miteinander wird schwieriger; aus Sorge, als Rassist angeprangert zu werden, wissen viele nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, welche Themen sie ansprechen dürfen und was sie besser nicht fragen sollten“, schreibt Topçu.

Topçu kritisiert, dass die Richtung und Tonalität der Rassismuskritik von einer jungen akademisch gebildeten Generation bestimmt werde, die einerseits darauf poche, nicht auf ihre Herkunft reduziert, sondern als „von hier“ wahrgenommen zu werden, die andererseits aber selbst Identitätspolitik betreibe. Und zwar nicht nur durch die Selbstbeschreibung als „People of Color“, sondern auch durch das Zelebrieren von Elementen aus der Herkunftskultur. „Politisch problematisch ist die moralische Überlegenheit, die aus der Betroffenheit abgeleitet wird, ohne selbst auf Ressentiments zu verzichten oder Ausgrenzung zu betreiben“, schreibt sie. Menschen müssten lernen, aus verschiedenen Perspektiven zu denken. Wissen und Empathie könnten nicht entstehen, wenn man einem großen Teil der Gesellschaft den Mund verbietet. Genau das geschehe, wenn man aus der eigenen Diskriminierungserfahrung das Recht ableite, der Mehrheitsgesellschaft Sprechverbote zu erteilen.

Auslöser für Topçus Beitrag war das Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“, herausgegeben von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, in dem 14 Autorinnen und Autoren über ihre Beziehung zu Deutschland schreiben. Den Anstoß für dieses Buch hatte Innenminister Horst Seehofer geliefert, der 2018 mit seinen Aussagen über Migration als „Mutter aller Probleme“, den Islam und den Begriff Heimat für Irritation gesorgt hatte. Das Problem dieses Debattenbuches ist, dass es eine Debatte von vornherein unmöglich macht, denn es operiert mit den alten Kategorien von „wir“ und „die Anderen“. Die Frontstellung Minderheit/Mehrheit geht an den tatsächlichen Problemen vorbei, denn weder die Mehrheitsgesellschaft noch die Minderheiten sind in sich politisch, sozial oder kulturell homogen. Damit manövriert man sich in jene identitätspolitische Sackgasse, die man doch gerne den Rechten vorwirft.

Nicht auf die eigene Herkunft reduziert werden zu wollen und gleichzeitig diese Karte bei jeder Gelegenheit auszuspielen überwindet Rassismus nicht, sondern kultiviert ihn. Wie sehr dieser Reflex immer noch vorhanden ist, habe ich erst vor Kurzem wieder festgestellt: Ende März 2020 lag ich wegen des Verdachts einer Corona-Infektion auf der Isolierstation eines Krankenhauses in Berlin. Meine Ärzte stammten aus Italien, Polen und Deutschland, die Krankenpfleger aus Afrika, Afghanistan und der Türkei. Meine ägyptische Herkunft hat keine Rolle bei meiner Behandlung gespielt. Ich wurde medizinisch und menschlich bestens betreut. Und nein, ich bin nicht privat versichert und das war keine Sonderbehandlung. Als ich eines Abends in meinem Bett lag und im Netz surfte, las ich, wie die Journalistin Ferda Ataman auf Twitter schrieb: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden.“ Damit bezog sich Ataman auf eine Aussage des Duisburger Politikwissenschaftlers Ismail Küpeli, der zuvor auf seinem Kanal geschrieben hatte: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen bei dieser faktischen Ausgangssperre sehr häufig kontrolliert und immer wieder Stress bekommen werden.“

Die Unverschämtheit dieser Unterstellungen hat mich erzürnt. Hätte uns nicht die Unübersichtlichkeit der Lage und die Angst vor dem neuartigen Virus zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißen können? Nein, keineswegs. Das Virus, das sicher keine Unterscheidung zwischen Ethnien vornimmt, wurde instrumentalisiert und als weiteres spaltendes Element der Gesellschaft identifiziert. Ich war verärgert auch deshalb, weil ich das Gefühl hatte, dass dahinter keine wirkliche Sorge um Erkrankte mit Migrationshintergrund steckte, sondern dass hier eine Aktivistin in ihrem Streben nach Selbstinszenierung nicht davor zurückschreckte, eine mögliche Triage mit der Herkunft des Patienten, nicht mit medizinischen Gegebenheiten zu verbinden.

Die gleiche Journalistin, die regelmäßig zum Integrationsgipfel der Kanzlerin eingeladen wird, hatte kurz zuvor Innenminister Horst Seehofer in die Nähe des NS-Regimes gerückt und für eine taz-Beilage der Amadeu-Antonio-Stiftung geschrieben: „Politiker, die derzeit über Heimat reden, suchen in der Regel eine Antwort auf die grassierende ‚Fremdenangst‘. Doch das ist brandgefährlich. Denn in diesem Kontext kann Heimat nur bedeuten, dass es um Blut und Boden geht.“ Seehofer fühlte sich so brüskiert, dass der folgende Integrationsgipfel erstmalig ohne den Innenminister stattfand.

Haltlose Unterstellungen wie diese, oder auch weitere Bücher mit Titeln wie: „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“ führen nur zu weiterer Ausgrenzung, sie lösen keine bestehenden Probleme, sondern schaffen neue. Weil man die Adressaten nicht nur zu einer homogenen rassistischen Masse erklärt, sondern sie von vornherein vom Diskurs ausschließt. Wer so verfährt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die Gräben nicht nur nicht überbrücken, sondern sogar noch vertiefen zu wollen. Anklagen wie die oben zitierten sind kalkulierte Provokationen jener Kräfte, die ihr Wirken durch Desintegration und Rassismus legitimiert sehen, und durch deren Überwindung um ihre Existenzberechtigung fürchten müssen. Und da schließt sich der Kreis zu jenen radikalen Ideologen von rechts, die ebenfalls die Welt in Gut und Böse einteilen. Ein solcher Kulturkampf aber wird nie zu einer Versöhnung führen. Sollten wir tatsächlich an einer Lösung und einer Überwindung von Rassismus und Diskriminierung interessiert sein, dann brauchen wir einen „safe space“, einen Vermittlungsraum, in dem Menschen aus unterschiedlichen Gruppen als Individuen und nicht als Vertreter eines wie auch immer gearteten Blockes unverkrampft miteinander reden können.

 

Hamed Abdel-Samad, Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus – und wie wir ihm die Macht nehmen. © 2021 dtv Verlagsgesellschaft, München. Ab dem 23.4. im Buchhandel erhältlich: ISBN 978-3-423-28275-8; 144 S.; 14 Euro

 

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