Historikerstreit um Hohenzollern - Geschichte vor Gericht

Die Frage, ob Kronprinz Wilhelm von Preußen dem Nationalsozialismus einst „erheblichen Vorschub“ geleistet hat, beschäftigt Anwälte und Gerichte. Nun ist eine Art neuer Historikerstreit um das Haus Hohenzollern entbrannt. Kann historische Wahrheit per Verfügung festgeschrieben werden?

In Brandenburg protestiert Die Linke gegen Rückerstattungsansprüche der Hohenzollern / dpa
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Autoreninfo

Dr. André Postert, geboren 1983, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2013 promoviert wurde. Als Historiker ist er in der Wissenschaft und der politischen Bildung aktiv. Seine Themenfelder sind die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die Geschichte des Rechtsextremismus.

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Am 24. Juni 1933 erreichte den Landesführer des Stahlhelms, einem rechtsgerichteten, republikfeindlichen Verband, der geholfen hatte, Hitler als Kanzler zu installieren, ein Schreiben. „Ich begrüße es freudigen Herzens, dass es endlich gelungen ist, die Grundlage […] für die Einheitsfront der im Nationalsozialismus und im Stahlhelm vorhandenen nationalen Kräfte zu schaffen“, schrieb dort Kronprinz Wilhelm von Preußen, der Chef des Hauses Hohenzollern. Dem Stahlhelm gehörte er seit 1930 an. Absehbar war es schon seit einiger Zeit, dass der Stahlhelm in der nationalsozialistischen SA aufgehen würde.

Alle Schwierigkeiten und Hemmnisse müssten überwunden werden, zeigte sich der Kronprinz in seinem offenen, in verschiedenen deutschen Zeitungen abgedruckten Brief überzeugt. Selbstverständlichkeit müsse es sein, Opfer zu bringen und auch Einschränkungen in Kauf zu nehmen, um „den großen vaterländischen völkischen Gedanken zu unterstützen.“ Der Nationalsozialismus bedürfe „der kraftvollen aktiven Mithilfe des Stahlhelms auf dem Boden voller Gleichwertigkeit.“ Schon wenige Monate später wurde der Stahlhelm in die SA überführt. Damit setzten die Nazis einen Mitspieler, der ebenso ihr Partner gegen die Republik wie ihr Konkurrent um die politische Macht gewesen war, endgültig schachmatt. 

Unschwer zu erkennen: Kronprinz Wilhelm von Preußen dient nicht als Lichtgestalt der Geschichte. Dabei ist sein Brief vom Juni 1933 nur ein Beispiel von vielen, und sicher nicht das gewichtigste. Er hat – so kann man das gut begründet sehen – geholfen, dass sich Deutschnationale, Monarchisten und Konservative mit den Nazis arrangierten, obgleich ihn Selbsttäuschungen in Hinblick auf die Zukunft der Hohenzollern geleitet haben mögen. 

Licht ins Halbdunkel 

Nun hängt vom damaligen Verhalten des Kronprinzen und Oberhaupts der Hohenzollern eine nicht unerhebliche Summe und diverse Ansprüche ab. Dies nur in Kürze: In der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone gelegene Immobilien der Hohenzollern sind in den Nachkriegsjahren enteignet worden. Das Ausgleichleistungsgesetz von 1994 verspricht Entschädigung – aber nur demjenigen, der dem Nationalsozialismus nicht „in erheblicher Weise Vorschub“ geleistet hat. Erst wenn Zweifel ausgeräumt sind, kann das Haus Hohenzollern eine Klage mit Erfolg durchbringen und Ansprüche vor Gericht geltend machen.

Folglich hat man sich von der Geschichtswissenschaft erhofft, dass sie Licht ins Halbdunkel historischer Vorgänge bringt. Vier wissenschaftliche Gutachten haben die politischen Akteure bislang eingeholt – zwei votieren für, zwei gegen den „erheblichen Vorschub“ durch den einstigen Kronprinzen. Momentan befinden sich die Historiker wieder im Wartemodus. Das brandenburgische Finanzministerium ist mit dem Haus Hohenzollern jüngst übereingekommen, das in Potsdam anhängige Verfahren erneut zu pausieren. Eine außergerichtliche Einigung steht im Raum. Geglättet sind die Wogen aber nicht.  

Wissenschaft darf sich nicht mundtot machen lassen

Eva Schlotheuber, seit 2016 Vorsitzende des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands, und Eckart Conze, Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Marburg, traten am 9. September mit einem FAZ-Beitrag an, die Autonomie der Wissenschaft gegen rechtsanwaltliche Gängelei zu verteidigen. Mit Abmahnungen gehe das Haus Hohenzollern gegen Historiker vor, deren Äußerungen die Einigung negativ beeinflussen könnten. Nicht nur Schlotheuber und Conze selbst, auch Stefan Malinowski, Winfried Süß oder Karina Urbach flatterte aufgrund öffentlicher Äußerungen Post ins Haus.

In der Verteidigungsschrift der beiden Historiker steht viel Richtiges: Die Wissenschaft darf sich nicht von Unterlassungserklärungen mundtot machen lassen. Historiker müssen ihre fachlich fundierte Einschätzung vertreten können, ohne von Anwaltsschreiben eingeschüchtert zu werden. Ferner: Die Geschichte eines Adelshauses, gerade wenn es sich um ein so bedeutsames wie das der Hohenzollern handelt, ist ein Gegenstand der öffentlichen Debatte und nicht Familieneigentum – zumal im 21. Jahrhundert und in einer demokratischen Gesellschaft. Die Auseinandersetzung drohe erstickt zu werden, schreiben sie, und mancher sei vielleicht so eingeschüchtert, dass er sich öffentlich nicht mehr äußere.

Konsens unter Historikern?

Umso mehr darf manch andere Einlassung irritieren. Die zwei Autoren treten mit dem Anspruch auf, für das gesamte Fach zu sprechen. Neuer Dokumente zum Verhalten des Kronprinzen bedürfe es im Grunde nicht. In der Wissenschaft herrsche Konsens über die Rolle Wilhelms in der Weimarer Republik und der frühen NS-Diktatur. „Die Forschung“, liest man da, sei „sich in dieser Frage einig“. Auch der Hinweis, es gäbe keinen neuen Historikerstreit, fehlt natürlich nicht. Man muss sich klar sein: Wenn Schlotheuber und Conze solche Zeilen zu Papier bringen, schreibt das nicht irgendwer, sondern einflussreiche Autoritäten des Fachs.

Was wohl sicherlich Mehrheitsmeinung ist: Dass der Kronprinz Anteil am Aufstieg der Nazis hatte und von ihnen zur Legitimation herangezogen wurde, solange er von Nutzen schien. Ein Verteidiger der Republik oder gar ein Freund der Demokratie war Kronprinz Wilhelm von Preußen mit Sicherheit nicht. Man muss nicht lange suchen, um Aussagen zu finden wie hier eingangs zitiert. Leistete er den Nazis deshalb „erheblichen Vorschub“, und was heißt eigentlich „erheblich“ im Kontext der Zeit? 

Konsens heißt nicht, dass andere Positionen nicht existieren. Christopher Clark, Historiker an der Universität Cambridge, hatte sich als Erster für die Hohenzollern als Gutachter betätigt. Er bestritt nicht, dass Kronprinz Wilhelm sich den Nazis angedient hatte, meinte aber, er sei im Grunde eine Karikatur, jedenfalls zu unbedeutend gewesen, um den Gang der Dinge „erheblich“ zu beeinflussen. Clark hat sich seitdem nicht wieder geäußert.

Geschichte kann unterschiedlich gedeutet werden

Das zweite Hohenzollern-Gutachten, verfasst von Wolfram Pyta, Professor in Stuttgart, und Rainer Orth, der zur frühen Phase des Nationalsozialismus intensiv geforscht hat, wird von Schlotheuber und Conze kurz angesprochen. Schlotheuber und Conze urteilen, das Gutachten habe die vorliegenden „Evidenzen“ gegen Wilhelm nicht widerlegen können. Ausgehend von der Phase der Schleicher-Kanzlerschaft 1932 – genauer gesagt von der Rolle, die der Kronprinz für eine autoritäre Alternative hätte spielen können – stellten sich Pyta und Orth die Dinge komplett anders vor. „In der politisch bewegten Endphase der Weimarer Republik“, bilanziert ihr Gutachten, „hat Kronprinz Wilhelm einen überaus aktiven Part bei der Verhinderung einer Kanzlerschaft Hitlers gespielt. Auch nach Januar 1933 lehnte Kronprinz Wilhelm das NS System aktiv ab.“

So verschieden kann die Geschichte gedeutet werden. Über Pyta und Orth ergoss sich viel Kritik; manche nach dem Prinzip, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Erledigt ist die Sache nicht: Es ist schon klar, dass die beiden Historiker ihr Kernargument in einem wissenschaftlichen Fachaufsatz wieder aufgreifen und verteidigen werden. Ein Weiterer, der sich augenscheinlich mit der Sache der Hohenzollern gemein gemacht hat, wird von Schlotheuber und Conze nicht einmal namentlich genannt. Er kommt nur ironisch als „Experte“ vor:

Verbindungen zur Neuen Rechten?

Benjamin Hasselhorn, Historiker und Theologe an der Universität Würzburg. Vor dem Kulturausschuss des Bundestages spielte Hasselhorn auf Einladung der CDU im Januar 2020 die Rolle des Advocatus Diaboli. Die Geschichtswissenschaft könne nicht mit absoluter Eindeutigkeit sagen, ob der Kronprinz dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet habe, argumentierte Hasselhorn unter anderem. Eine einigermaßen aktuelle Biografie über den Kronprinzen liege nicht vor.  Das reichte schon aus, sodass er sich in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung dem Vorwurf ausgesetzt sah, er pflege Verbindungen zur Neuen Rechten, sei Teil eines rechtsradikalen Uni-Netzwerks.  Es gibt wenig, was im akademischen Milieu rufschädigender wirkt, als nach weit Rechtsaußen abgedrängt zu werden. Es wird am Ende nicht einmal geprüft oder hinterfragt. 

Schon richtig, dass man die Wissenschaftsfreiheit gegen Anwaltsbriefe verteidigt. So hatte sich auch Martin Sabrow, Leiter des renommierten Zentrums für Zeithistorische Forschung mit Sitz in Potsdam, im Interview mit Cicero geäußert. Schon richtig, das Plädoyer für den offenen, kritischen Diskurs. Nur drängt sich bisweilen der Eindruck von Einseitigkeit auf. Wer will denn die wissenschaftliche Gegenposition überhaupt beziehen, wenn diese absehbar aufs berufliche Glatteis oder gar zur unwidersprochenen Diffamierung führt? Jetzt, da der Konsens fixiert ist, weiß auch der Letzte, zu welchen Ergebnissen Forschung kommen soll.

Keine Entscheidung per Dekret

Vielleicht gibt es irgendwo Studentinnen oder Studenten, Doktorandinnen oder Doktoranden, die in Zukunft die Frage ergebnisoffen diskutieren möchten, was und wer der NS-Diktatur „erheblichen Vorschub“ leistete – und wie man das eigentlich misst.  Wird und soll man dann sagen: Nein, diese Frage ist durch das Fach per Verfügung entschieden? 

Die Historiker Peter Hoeres, Ronald Asch, Jörg Baberowski, Hans-Christof Kraus, Sönke Neitzel, Andreas Rödder, Rainer F. Schmidt, Michael Sommer, Uwe Walter und Michael Wolffsohn haben in einem Brief an Schlotheuber und Conze nun ersten vehementen Einspruch eingelegt. Die Debatte könne nicht von oben herab „einfach für entschieden erklärt“ werden – der Brief ist in der FAZ am 16. September auszugsweise zitiert worden.

Geschichte besteht in der Regel nicht aus den Fakten allein. Sie wird durch die Ordnung von Quellen, Gewichtung und Interpretation derselben geschaffen. Die eine Position wird von höherer Güte sein als die andere. Manche Position muss geräumt werden. Wieder andere sind, aus welchen Gründen auch immer, schnell allgemein akzeptiert. Was Konsens ist, muss nicht wahr sein. Deshalb begegnet man in der Regel den Minderheitspositionen mit gebührendem Respekt. Man widerspricht Thesen inhaltlich, nicht in erster Linie politisch.

Geschichtswissenschaft vor Gericht

Und deshalb gehört Geschichtswissenschaft nur sparsam gutachterlich vor Gericht. Was passiert, wenn juristische Erwartungen, wirtschaftliche Interessen und Parteipolitik in die Zunft hineingetragen werden, lässt sich bei der Hohenzollern-Debatte beobachten. Hier geht es längst nicht mehr um Erkenntnis und wissenschaftlichen Diskurs allein, sondern um die politische Deutungshoheit, die sich mitunter als Konsens verkleidet.

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